Myconius‘ Traum – Friedrich Myconius und die Wittenberger Reformation

/ November 24, 2014

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Friedrich Myconius: Von der gelegenheit oder uhrsprung dieses Traums und Eingangs ins Closter. Aus einem Brief vom 21. Februar 1546 an Paul Eber. Abschrift, FB Gotha Chart. B 153, Bl. 47r-58v. © Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha. Zum Digitalisat auf das Bild klicken.

Friedrich Myconius (1490–1546) ist neben Georg Spalatin (1484–1545) der zweite große Reformator Thüringens. Er wirkte seit 1524 als evangelischer Pfarrer in der Stadt Gotha und wurde später ihr erster Superintendent. Bevor er zur Reformation übertrat, wirkte er als Franziskanermönch an verschiedenen Orten. Als er 1510 in Annaberg in diesen Orden eintrat, erschien ihm im Kloster in der ersten Nacht ein merkwürdiger Traum. Er träumte, er befinde sich in einer Einöde und würde vor Durst und Hunger sterben. Da begegnete ihm der Apostel Paulus, der ihn aus der Not rettete und in ein blühendes Tal führte. Dort stärkte sich Myconius an der Quelle eines Baches, die, wie er mit Schrecken feststellte, vom Blut des gekreuzigten Jesu gespeist wurde, der selbst mit seinem ganzen Körper im Brunnen lag. Anschließend wanderte er mit Paulus weiter, bis sie ein Feld erreichten, auf dem ein Schnitter mit seiner Sichel das Korn erntete. Myconius wurde von Paulus dazu angehalten, bei der Ernte zu helfen. Der Traum endete damit, dass Paulus zu ihm sagte: Du musst Christum „gleichfömig werden“. Erst viele Jahre später, nämlich mit dem Beginn der Reformation, schrieb Myconius dem Traum eine doppelte Bedeutung zu: Zum einen deutete er ihn als eine Prophezeiung auf Martin Luther – denn er war es, mit dem Myconius zusammen auf dem Feld die Ernte einfuhr –, und zum andern verstand Myconius seine eigene zukünftige Funktion als „Sämann“ des neuen Glaubens.
Die Rezeptionsgeschichte dieses Traumes ist ausgesprochen interessant und erweist ihn als eine der wichtigsten Quellen der lutherischen Erinnerungskultur. Nachdem Myconius den Traum immer wieder mündlich erzählt hatte – auch Luther und Melanchthon kannten ihn in- und auswendig –, hat er ihn wenige Wochen vor seinem Tod in einem Brief an Paul Eber (1511–1569) vom 21. Februar 1546 schriftlich fixiert und damit der Nachwelt überliefert. Dieser in lateinischer Sprache verfasste Brief kursierte im 16. und 17. Jahrhundert in verschiedenen Abschriften und wurde auch ins Deutsche übersetzt. Die Forschungsbibliothek Gotha besitzt sowohl eine lateinische Abschrift als auch eine deutsche Fassung dieses Briefes, jeweils von unbekannter Hand. Die lateinische Abschrift wird mit den Worten eingeführt: „Traum des Friedrich Myconius, der ihm 1510 erschien, als Luther noch nicht gegen den Papst anschrieb.“ („Somnium Friederici Myconii ostenstum ipsi Anno Christi 1510, cum Luthertus nondum scripsit contra Papam.“ FB Gotha, Chart. B 153, Bl. 30r) Die deutsche Fassung trägt die Überschrift: „Von der gelegenheit oder uhrsprung dieses Traums und Eingangs ins Closter“ (FB Gotha, Chart. B 153, Bl. 47r). Es besteht also kein Zweifel, dass dieser Traum von Anfang an als eine Prophezeiung auf das Erscheinen des Reformators Luther verstanden wurde. Der Brief wurde vermutlich 1605 erstmals von dem Annaberger Chronisten Paul Jenisch (1551–1612) ediert. 1717, also zum 200-jährigen Reformationsjubiläum, erlebte der Brief eine weitere Auflage in Wittenberg durch Gottfried Hecht (1683–1720), der ihn zusammen mit dem „Leben des Johannes Tetzel“ (Vita Ioannis Tezeli[i]) – den bekannten Ablassprediger, gegen den u.a. Luthers Reformation wandte – unter dem bezeichnenden Titel „Vorzeichen einer sich verbessernden Religion“ (Auspicia emendatae Religionis) herausgab. In Halle erschien dann 1728 und erneut 1776 eine Edition des Briefes in deutscher Sprache durch den Pietisten Johann Friedrich Bertram (1699–1741). Der Brief firmiert nun als „erbaulisches Schreiben von der Bekehrung Myconii an Paulum Eberum“. Man sieht, was sich hier für eine Erinnerungskultur um diesen Brief gebildet hat, die bis ins 19. Jahrhundert reicht. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Rezeptionsgeschichte steht noch aus.
(Text: Sascha Salatowsky)

Literatur

Handschriften
FB Gotha, Chart. B 153, Bl. 30r-46v: Occasio hujus somnij et ingressu Religionis huius.
FB Gotha, Chart. B 153, Bl. 47r-57v: Von der gelegenheit oder uhrsprung dieses Traums und Eingangs ins Closter.

Alte Drucke
Gottfried Hecht: Vita Ioannis Tezeli. Accedit epistola Friderici Myconi ad Paulum Eberum Auspicia emendatae Religionis illustrans. Wittenberg 1717.
Paul Jenisch: Annabergae Misniae Urbis Historia in duos Libros digesta. Dresden 1605, hier: L. II, S. 4v-14r.
Friedrich Myconicus: Erbaulisches Schreiben von seiner Bekehrung an Paulum Eberum. Aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzt und zu allgemeiner Erbauung ans Licht gestellet von Johann Friedrich Bertram. [Halle] 1776.

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