„Heidi“ in Gotha

/ November 29, 2019

Welche heranwachsenden Kinder, Mädchen wie Jungen, hatten nicht bei der herzzerreißenden Szene, wenn Heidi aus dem abweisenden, großstädtischen Frankfurt zu ihrem geliebten Großvater auf die Alm in den Alpen zurückkehrt, Tränen in den Augen? Heidi hatte sich allerdings die Liebe ihres sozial abgeschotteten, geheimnisumwitterten Alm-Öhis, dem sie als fünfjährige Waise anvertraut worden war, erkämpfen müssen. Umso mehr wird Heidi zum Glücks- und Hoffnungskind. Sie führt ihren Großvater in die Gemeinschaft der Dörfler zurück, lehrt ihrem Geissenpeter das Lesen und bringt ihre gehbehinderte Frankfurter Cousine in der gesunden Alpenluft zum Laufen. Heidi – diese vom Schicksal gebeutelte, empathisch-pragmatische Mädchengestalt vor alpenländischer Berglandschaft erschuf Johanna Spyri und damit eine der klassischen Gestalten der Kinder- und Jugend- und vor allem Mädchenliteratur. „Das Heidi“ machte die im Kanton Zürich geborene Spyri, nach ersten, noch schüchternen Schreibversuchen ab 1880 zu einer Bestsellerin des 19. und 20. Jahrhunderts, deren Heldin bis heute in Film, Anime, Comics, Musicals und Werbung fortlebt.

Diese Geschichte ist bekannt. Viel weniger bekannt ist, dass Heidis Weg zu einer der medialen Ikonen des 20. Jahrhunderts von Gotha ausging. Hier erschienen 1880 und 1881 „Heidis Lehr- und Wanderjahre“ und „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“ im Friedrich Andreas Perthes Verlag, der schon vorher mit größerem Erfolg Geschichten Spyris veröffentlicht hatte und später alle Kinder- und Jugenderzählungen der Autorin verlegte.1) Dieses Interesse an Spyris „Heidi“ hält bis heute an. Die Forschungsbibliothek Gotha, die zahlreiche Erstausgaben der Werke Spyris – darunter auch die Erstauflage ihres Erfolgsromans (Signatur: Poes 8° 02875/45)2) – bewahrt und zudem auch noch die „Sammlung Perthes Gotha“ hält,3) erreichen regelmäßig Anfragen zur Publikationsgeschichte von „Heidi“. Gefragt wird nach Korrespondenzen zwischen Johanna Spyri und dem Verlag und vor allem auch nach Auflagehöhen, um die finanziellen Dimensionen von Spyris Erfolgsgeschichte zu fassen.

[Abb. 1: Illustrierter Einband der Auflage von 1909. Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Gotha: Perthes, [ca. 1909]. FB Gotha, Poes 8° 02875/53.]

Spyris Hausverlag, der Verlag Friedrich Andreas Perthes, ging aus dem 1822 von Friedrich Christoph Perthes, dem bekannten Mitbegründer des Börsenvereins des Deutschen Buchhändler, in Gotha etablierten „Friedrich Perthes Verlag“ und dem von seinem Sohn Andreas Hansa Traugott Perthes 1840 ebenfalls in Gotha errichteten „Friedrich & Andreas Perthes Verlag“ hervor. Beide Verlage verschmolzen 1854 zum Verlag „Friedrich Andreas Perthes“ (F. A. Perthes). Der Verlag wurde 1937 aufgelöst, sein Archiv ist größtenteils verloren. Die Forschungsbibliothek bewahrt unter der Signatur Chart A 2126 lediglich eine Trümmerüberlieferung von ca. 4.400 Blatt, die nur bis in die späten 1830er Jahre reicht und vor einigen Jahren von Dirk Moldenhauer ausgewertet wurde.4)

Nicht zu verwechseln sind diese „Perthes Verlage“ mit dem „Verlag Justus Perthes“, der 1785 wiederum in Gotha gegründet wurde und sich im 19. und 20. Jahrhundert zu einem weltweit bedeutenden Kartenverlag entwickelte. Seine weitgehend geschlossen überlieferten Zeugnisse hält heute die Forschungsbibliothek Gotha als „Sammlung Perthes“. An der Erfolgsgeschichte von „Heidi“ war „Justus Perthes Gotha“ nicht beteiligt, auch wenn bei ihm eine mustergültige Kartographie der Schweizer Alpen als des poetischen Raums von Spyris „Heidi“ entstand.

Kompliziert ist die Geschichte der unter Perthes firmierenden Gothaer Verlage nicht nur wegen der Ähnlichkeit der Namen, die schnell zu Verwechselungen führt, sondern auch deshalb, weil ihre Inhaber einer weit verzweigten Familie angehörten, die sich im frühen 19. Jahrhundert durch mehrfache Heiraten miteinander versippte.5) Bezeichnend dafür ist, dass die Gothaer Trümmerüberlieferung des „Friedrich Andreas Perthes Verlages“ 1943 aus der Hand von Elisabeth Perthes, einer Tante des damaligen Eigentümers des Justus Perthes Verlages, in die Landesbibliothek und heutige Forschungsbibliothek Gotha gelangte.

[Abb. 2: Kolorierte Illustration von Heidi auf der Alm. Johanna Spyri: Heidi kann brauchen, was es gelernt hat. Große Ausgabe mit vier Bildern. Gotha: Perthes, [ca. 1915]. FB Gotha, Poes 8° 02875/52.]

Soviel Perthes in Gotha auch ist, Antworten auf die so häufig gestellten Fragen nach der verlegerischen Geschichte und dem Erfolg von Spyris „Heidi“ können in Gotha nicht gegeben werden. Die Überlieferungen des Friedrich Andreas Perthes Verlages sind verschollen, die „Sammlung Perthes Gotha“ hat einen kartographischen und damit völlig anderen Fokus. Einzig die Werke Spyris finden sich in der Abteilung „Schöne Literatur“ (Poes) der Herzoglichen Sammlung der Forschungsbibliothek.

Am 5. Dezember 2019 kehrt Heidi zurück, nicht zu ihrem Großvater auf die Alm, sondern in das Herzogliche Museum in Gotha. Zusammen mit ihrer anarchischen literarischen Schwester Pippi Langstrumpf ist Heidi das Motiv einer von zwei neuen Briefmarken in der Serie „Helden der Kindheit“, die durch die Deutsche Post von 11 bis 17 Uhr im Herzoglichen Museum der Öffentlichkeit präsentiert werden. Gezeigt wird neben den druckfrischen postalischen Erstausgaben auch die oben genannte Erstauflage von „Heidi“ aus dem Bestand der Forschungsbibliothek Gotha, mit der 1880 von Gotha aus die Erfolgsgeschichte von „Heidi“ begann.

 

1) Katalog der empfehlenswerten Jugendschriften von Johanna Spyri, Gotha: Friedrich Andreas Perthes 1892, Online-Ressource: https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/receive/ufb_cbu_00012739.*

Daraus Ausschnitt: https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/rsc/viewer/ufb_derivate_00011969/Phil-2-00216-06_00489.tif.*

2) Die Erstauflage liegt digital vor. Online-Ressource:
http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/spyri_heidi_1880.*

3) https://www.uni-erfurt.de/sammlung-perthes/.*

4) Dirk Moldenhauer: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln u.a. 2008.

5) Walter Schmidt-Ewald: Die Gothaer Perthes: ein deutsches Buchhändler-Geschlecht. Gotha 1935, Online-Ressource: https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/receive/ufb_cbu_00012245.*

* Alle Online-Ressourcen wurden abgerufen am 17.11.2019.

Petra Weigel

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