Immer gleich in die Luft gehen? Der Traum vom Fliegen am Gothaer Hof am Ende des 18. Jahrhunderts. Zum 275. Geburtstag Ernst II., Herzog von Sachsen-Gotha-Altenburg

/ Januar 30, 2020

Aufstieg des ersten Gasballons mit Jacques Alexandre César Charles (1746–1823) an Bord, aus: Barthélemy Faujas de Saint-Fond: Description des expériences aérostatiques de MM. de Montgolfier, Paris 1784, Titelkupfer.

Nachdem die Gebrüder Montgolfier, Joseph Michel (1740–1810) und Jaques Etienne (1745–1799), am 5. Juni 1783 in Annonay einen aus Leinwand gefertigten Heißluftballon vor Publikum aufstiegen ließen, lud der französische König Ludwig XVI. (1754–1793) die Brüder zu einer Demonstration ihrer Ballonversuche ein und beauftragte gleichzeitig die Académie des sciences zu Paris, Versuche mit der „fliegenden Kugel“ durchzuführen. Nun ging es Schlag auf Schlag, am 19. September 1783 brachen in Anwesenheit des Königs ein Hammel, eine Ente und ein Hahn vom Schloss Versailles zu einer siebenminütigen Reise in einem Heißluftballon der Montgolfiers auf. Ludwig XVI. erteilte daraufhin die Erlaubnis zur Wiederholung des Flugexperiments mit einem Menschen an Bord. Der Physiker Jean-François Pilâtre de Rozier (1754–1785) wagte den ersten Aufstieg eines Menschen in die Lüfte am 15. Oktober 1783 mit einer Montgolfière, die zur Sicherheit noch mit Seilen am Boden verankert war und nur eine Flughöhe von 26 m zuließ. Einen Monat später hoben am 21. November 1783 Pilâtre de Rozier und der Offizier François d’Arlandes (1742–1809) mit einem Heißluftballon der Gebrüder Montgolfièr ab – die erste freie Luftfahrt in der Geschichte der Menschheit. Der 25minütige Flug führte vom Schlossgarten des Schlosses La Muette über Paris und die Seine hinweg zum etwa 10 km entfernten Butte aux Cailles in der Gemeinde Gentilly. Zuvor hatte der Physiker Jacques Alexandre César Charles (1746–1823) am 27. August 1783 den ersten mit Wasserstoffgas gefüllten Ballon vom Pariser Marsfeld fliegen lassen. Bei dem ersten bemannten Aufstieg eines von den Ingenieuren und Brüdern Anne-Jean Robert (1758–1820) und Nicolas-Louis Robert (1760–1820) konstruierten Gasballons erreichte Charles am 1. Dezember 1783 bei Paris eine Flughöhe von über 3 km. Den Kanal von Dover nach Calais überquerten schließlich Jean-Pierre Blanchard (1753–1809) und der Arzt John Jeffries (1744–1819 am 7. Januar 1785 mit einem Gasballon.[1]

Abb. 1: Manuskript „Quelques vues sur les machines aerostatiques.“ von Karl Theodor von Dalberg, Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1239, Bl. 3r.

Diese Reihe von ersten spektakulären Ballon- und Flugversuchen in Frankreich wurde im Alten Reich aufmerksam rezipiert. In der Residenzstadt Gotha verfolgte der den Experimentalwissenschaften zugewandte Herzog Ernst II. (1745–1804) minutiös diese atemberaubenden Berichte. Ludwig Christian Lichtenberg (1737–1812), naturwissenschaftlich gebildeter Legationsrat am Gothaer Hof und seit 1781 Herausgeber des Magazins für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, hatte gerade seinen ersten Kurs der Physikalischen Lehrstunden für den Herzog sowie dessen Hofstaat und Verwaltungsbeamten begonnen, in denen er sein adliges und bürgerliches Auditorium über die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen auf dem Gebiet der Naturlehre informierte. Im handschriftlichen Nachlass Ernst II. in der Forschungsbibliothek Gotha haben sich einmalige Zeugnisse – Nachschriften, Entwürfe und Manuskripte – erhalten, die sich mit den ersten Flugversuchen beschäftigen. Unter anderem finden sich darunter Abschriften von Briefen, die vom 7. Januar bis zum 19. Dezember 1783 im Journal de Paris veröffentlicht wurden. In diesen diskutierten Naturforscher, Militärs und Ingenieure wie Pilâtre de Rozier, Charles, d’Arlandes, Barthélemy Faujas de Saint-Fond (1741–1819), Horace Bénédict de Saussure (1740–1799) sowie die Gebrüder Montgolfier und Robert öffentlich die Entwicklung der „Aerostaten“ und trieben diese damit bewusst voran.[2] Doch nicht nur lesend und kopierend, sondern auch experimentell wollte der Gothaer Herzog das Funktionsprinzip der neuen „Maschinen“ nachvollziehen und erfassen. Aus den Briefen des Professors für Physik, Mathematik und Astronomie an der Universität Göttingen, Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799), ist zu erfahren, dass es mit den Versuchen zu Gotha „seine Liebe Richtigkeit [hatte]. Es gieng nicht und gieng nicht, und will nicht gehen und wird nicht gehen. Mein Bruder, der halb böse ist, sagt, die Schweine zu Göttingen müsten gantz andere Blasen haben als die Gothaischen.“[3]

Abb. 2: Druckvorlage „Quelques Vues Sur les Machines aerostatiques.“ von Karl Theodor von Dalberg, Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1239, Bl. 17r.

Am 1. Dezember 1783 spottete er über die Gothaer Anstrengungen: „Es freut mich, daß allen Menschen der Versuch mislingt. Mein Gothaischer Bruder, der mehr Louisd‘or auf Versuche zu verwenden hat, als ich Tropf, 3 Groschen Stücke, konnte nichts heraus bringen.“[4] Er registrierte aber auch, dass „[d]er Hertzog von Gotha mehrere Ballons aus Paris kommen [ließ], sie taugten aber alle nicht, so niedlich sie auch gemacht waren. Ich habe meinem Bruder nun meine Grose geschickt“[5] Und am 18. Dezember musste er vermerken, dass in Gotha „jemand [„aus dem Amnium der Kälber oder die Haut, worin sie gebohren werden“; M.R.] eine Lufftkugel verfertigt[e], die sich 3 Tage an der Decke gehalten“[6] hat. Dies ist ein weiterer Hinweis auf den engen wissenschaftlichen Austausch und die Beziehungen zwischen der Residenzstadt Gotha und der Universitätsstadt Göttingen.

Auch Karl Theodor von Dalberg (1744–1817), seit 1772 bis 1802 Statthalter der kurmainzischen Enklave Erfurt und häufiger Gast an der herzoglichen Tafel in Gotha, hatte die Entwicklung der Heißluft- und Gasballons in Frankreich verfolgt. In einem Aufsatz für das oben erwähnte Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte entwickelte er vermutlich 1784, von der Kugelform des Ballons abweichend, Vorstellungen und Ideen für ein spindelförmiges, starres Luftschiff. Dalbergs Entwurf mit dem Titel „Quelques vues sur les machines aërostatiques“[7]  (Abb. 1) hat sich im handschriftlichen Nachlass Herzog Ernst II. in der Forschungsbibliothek Gotha als ein außergewöhnliches Dokument erhalten. Im Manuskript finden sich vermutlich von der Hand Dalbergs Streichungen, Korrekturen und Ergänzungen. Daneben ist ebenso die erweiterte Reinschrift des Manuskripts[8] (Abb. 2) von unbekannter Hand auf uns gekommen, die möglicherweise die Vorlage für den Druck bildete. Dieser erschien schließlich anonym im ersten Heft des 3. Jahrgangs des Magazins für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte von 1785 mit dem Drucktitel „Quelques Vues Sur les Machines aérostatiques“ (Abb. 3).[9]

Abb. 3: [Anonym]: Quelques Vues Sur les Machines aérostatiques, in: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, 3/1 (1785), S. 73.

Dalbergs Empfehlung und Skizzierung eines großen lenkbaren Luftschiffes stellte in der Tat ein visionäres Projekt vor. Der Aerostat solle in der Form eines Zylinders mit einem konischen Bug und Heck ausgestaltet werden. Ein Gerippe aus Holz und hohlem Gestänge trug die doppelte Hülle aus gefirnisstem Taft, welche das unbrennbare Gas am Entweichen hinderte, während auf jeder Seite des Hecks zwei Propeller („ventilateurs“) mit jeweils vier Flügeln das Luftschiff durch die Kraft des Windes vorantrieben. Ein Steuerruder am Heck sollte die gerichtete Bewegung der Maschine in der Luft vorgeben, kontrollieren und korrigieren (Abb. 4). Noch heute muten die Dimensionen des Raumschiffes erstaunlich aktuell an. Modellhaft rechnete Dalberg drei Größen durch. Übertragen in unser heutiges, metrisches System maß die kleinste Maschine ungefähr 85 m in der Länge und 19 m in der Breite, während die zweite Berechnung bei einer Länge von 113,5 m schon eine Höhe von 25 m ergab. Vermutlich hätte die größte, zugleich aber ökonomisch sinnvollste Dimension des Aerostaten in ihrer Verwirklichung die Vorstellungskraft seiner Zeitgenossen überstiegen. Bei einer Länge von 227 m betrug der Durchmesser des Luftschiffes 50 m. Selbst Dalberg schien von solchen monströsen Ausmaßen zurückzuschrecken, er verwies den Gedanken als Trugbild der Phantasie in das Märchenreich.[10] Mussten um 1784/85 diese Ideen noch als ein Hirngespinst der Phantasie gelten, landeten ab 1911, also rund 130 Jahre später, die Zeppelin-Luftschiffe LZ 10 „Schwaben“ und LZ 11 „Viktoria Luise“ auf ihrer Verkehrsroute am 1910 eröffneten Luftschiffhafen in Gotha an.

Abb. 4: Entwurf des Aerostaten, aus: [Anonym]: Quelques Vues Sur les Machines aérostatiques, in: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, 3/1 (1785), Tab. I.

Mit ihren Abmessungen von 132 bzw. 148 m Länge und einem Durchmesser von 14 m entsprachen sie ähnlich wie die Zeppeline LZ 129 „Hindenburg“ und LZ 130 „Graf Zeppelin“ mit einer Länge von 247 m und einem Durchmesser von 41 m den für seine Zeit absolut revolutionären Modellrechnungen und Vorstellungen Karl Theodor von Dalbergs.

Darüber hinaus haben sich im bereits erwähnten Nachlass Ernst II. die Gedanken über einige Säze die willkührliche Richtung der Aerostaten betreffend von Ludwig Christian Lichtenberg erhalten (Abb. 5). Hier setzte sich Lichtenberg kritisch mit den Bemerkungen und Vorstellungen zur Konstruktion und Fortbewegung von aerostatischen Maschinen durch Karl Theodor von Dalberg auseinander. Lichtenberg verwies auf die besonderen Probleme der „[c]onischen Form“ des Luftschiffs und schlug eine Linsenform vor. Physikalisch widerlegte er die Antriebsfunktion der „Ventilatoren“ durch den Wind und begründete die Unsinnigkeit einer Dämpfung des Windstoßes durch Federn und Baumwolle. Im Aufbau der aerostatischen Maschine störten ihn aus ökonomischen Gründen das Holzgerüst und der gefirnisste Taft: „Die sorgfältige Verrichtung dieser Art möchte doch wohl die Absicht Verfehlen, und die Unterhaltung einer solchen Maschine noch kostbarer machen. Eine Hülle von Blech, nach den Vorschlägen des Herrn Krazenstein[11], dürfte diesem Mangel am leichtesten abhelffen, indem dadurch zugleich das innen befindliche und beschwerrende Gerippe entbehret werden könnte.“[12]

Abb. 5: Manuskript „Gedanken über einige Säze die willkührliche Richtung der Aerostaten betreffend“ von Ludwig Christian Lichtenberg, Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 1274, Bl. 22r.

Die im Nachlass Herzog Ernst II. befindlichen Handschriften zeigen, wie im Zeitraum von 1783 bis 1785 die aufsehenerregenden Experimente zu den „aerostatischen Maschinen“ und der bemannten Luftfahrt in Frankreich zum Ende des 18. Jahrhunderts am Gothaer Hof akribisch dokumentiert, aktuell nachvollzogen und ihrer Zeit weit voraus diskutiert wurden. Doch es sollten noch 130 Jahre vergehen, bis die „chimères de la féerie“[13] tatsächlich vor den Toren der Residenzstadt Gotha ankerten.

Dr. des. Matthias Rekow

 

 

 

 

 

 

 

[1] Vgl. Carl Graf von Klinckowstroem: Knaurs Geschichte der Technik, München/Zürich 1959, S. 170f.

[2] Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1078, Bl. 54–95.

[3] Brief von Georg Christoph Lichtenberg an Johann Christian Dieterich vom 29. November 1783, Göttingen, in: Joost, Ulrich/Schöne, Albrecht (Hrsg.): Georg Christoph Lichtenberg Briefwechsel, Bd. II: 1780–1784, München 1985, S. 778f [1208.].

[4] Brief von Georg Christoph Lichtenberg an Johann Andreas Schernhagen vom 1. Dezember 1783, Göttingen, in: ebd., S. 781–786 [1210.].

[5] Brief von Georg Christoph Lichtenberg an Franz Ferdinand Wolff vom 4. Dezember 1783, Göttingen, in: ebd., S. 786–788 [1211.].

[6] Brief von Georg Christoph Lichtenberg an Franz Ferdinand Wolff vom 18. Dezember 1783, Göttingen, in: ebd., S. 801–804 [1220.].

[7] Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1239, Bl. 1–16.

[8] Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1239, Bl. 17–30.

[9] [Anonym]: Quelques Vues Sur les Machines aérostatiques, in: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte 3/1 (1785), S. 73–97.

[10] Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1239, Bl. 11v.

[11] Vgl. Christian Gottlieb Kratzenstein: L’art de naviguer dans l’air, Kopenhagen 1784. Die außergewöhnliche Idee eines Starrluftschiffes aus Metall ohne ein inneres Gerüst, die Christian Gottlieb Kratzenstein entwickelte und Ludwig Christian Lichtenberg favorisierte, wurde erst 113 Jahre später durch David Schwarz (1850-1897) jedoch nur teilweise realisiert. Das erste Ganzmetallluftschiff von Schwarz führte seine einzige Luftfahrt am 3. November 1897 auf dem Tempelhofer Feld bei Berlin durch. Ebenso wie das am 19. August 1929 in die praktische Erprobung entlassene Experimentalluftschiff ZMC-2 der US-Marine nach Plänen des Ingenieurs Ralph Hazlett Upson (1888-1968) bestand der Schwarz’sche Aerostat aus einem inneren Aluminiumgerüst über das dünne Aluminumblechbahnen gespannt waren. Bis heute sind die Ganzmetallluftschiffe von David Schwarz und Ralph Hazlett Upson die einzigen ihrer Bauart geblieben, die sich jemals in die Lüfte erhoben. Vielen Dank an Herrn Jürgen Plöger, Gotha, für den Hinweis auf David Schwarz.

[12] Forschungsbibliothek Gotha, Chart. A 1274, Bl. 22r–23r.

[13] Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 1239, Bl. 11v.

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