Ein Beitrag zu einer Geschichte der „Sprachlosen“

/ September 15, 2020

An der Forschungsbibliothek Gotha beginnt die Digitalisierung von rund 7.000 Briefen der Deutschen Auswandererbrief-Sammlung

In der Forschungsbibliothek Gotha werden insgesamt rund 12.000 Auswandererbriefe von diesseits und jenseits des Atlantiks aufbewahrt. Seit dem 7. September 2020 werden mit Mitteln des Ministeriums für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz im Rahmen des Aufbaus eines Forschungsdatenmanagement für Cultural Heritage Studies (RDM4Culturealheritage) ein Teilbestand dieser Briefe und damit in Verbindung stehende Kontextmaterialien und Transkriptionen in ca. 122.000 Aufnahmen digitalisiert. Es handelt sich um rund 7.000 unveröffentlichte Briefe des in Bochum aufgebauten älteren Sammlungsbestandteils, der unter dem Namen „Bochumer Auswandererbrief-Sammlung“ (BABS) bekannt geworden ist. Die BABS wurde in den 1980er Jahren von Wolfgang Helbich (Ruhr-Universität Bochum) zusammengetragen und ist inzwischen in der Deutschen Auswandererbriefsammlung (DABS) aufgegangen. In den 2000er Jahren führte die Forschungsbibliothek Gotha in Kooperation mit Ursula Lehmkuhl (Universität Trier) eine weitere Sammelaktion mit Fokus auf die neuen Bundesländer durch. Auch dieser jüngere Sammlungsbestandteil, der unter dem Namen Nordamerika-Briefsammlung (NABS) bekannt wurde, ist mittlerweile in die Deutsche Auswandererbriefsammlung integriert worden.

Abb.1: Digitalisierung eines Auswandererbriefs in der Forschungsbibliothek Gotha. © Forschungsbibliothek Gotha

Die Digitalisierung des Brief- und Kontextmaterials der Bochumer Auswandererbriefsammlung bildet die Grundlage für die in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut Washington (GHI WA D.C.) angestrebte digitale Korpusbildung transatlantischer Korrespondenzen. Das geplante relationale Korpus stellt eine zentrale Forschungsinfrastruktur für die Migrationsforschung dar und wird auch in dem geschichtswissenschaftlichen Konsortium 4Memory der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), an dem sich die Forschungsbibliothek Gotha beteiligt, eine wichtige Rolle spielen. Im Rahmen der digitalen Korpusbildung und Edition sollen bislang getrennt existierende Briefkorpora diesseits (DABS) und jenseits des Atlantiks (German Heritage in Letters) zusammengeführt, forschungsgeleitet erschlossen und auf einem intuitiv nutzbaren Onlineportal zugänglich gemacht werden. Der dadurch entstehende relational strukturierte Quellenkorpus transatlantischer Korrespondenzen ist im Hinblick auf Umfang und Qualität international einzigartig. Doch worin bestehen eigentlich der Reiz und der kulturgeschichtliche sowie wissenschaftliche Wert dieser Sammlung?

Auswandererbriefe stellen eine unschätzbare Quelle für die Geschichte der deutschen Massenauswanderung im 19. Jahrhundert dar. Schätzungen zufolge wurden 280 Millionen Briefe zwischen 1820 und 1914 aus den USA nach Deutschland geschickt. Die an der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrten Briefe geben wie ein Fenster den Blick auf diese gewaltige Korrespondenz frei. Auswandererbriefe geben unter anderem Aufschluss über den meist mehrere Generationen umfassenden Prozess, wie aus Deutschen, die in Amerika einwanderten, Deutschamerikaner und schließlich Amerikaner wurden. Sie reflektieren das Ringen um ein Ankommen in der Gesellschaft und die eigene Identitätsbildung. „Bitte euch mir zu verzeihen, das ich euch so lange mit meinen Schreiben warden laßen,“ entschuldigt sich Carl Berthold bei seinen Schwestern und seinem Schwager in einem auf den 13. Oktober 1852 datierten Brief, den er in St. Louis nach seiner Ankunft schrieb. „Ihr könnt es euch leicht vorstellen wie es einen erst geht wenn man in ein Fremdes Land kom̄t und der Sprache nicht mächtig ist, wie es einen da argt geht und wie einen zu Muthe ißt, Ich habe die Feder schon manchmal angesetzt kon̄te es aber nicht ferdig bringen, darum bitte ich nochmals mir zu verzeihen.“

Das besondere an den Briefen im Gegensatz zu anderen Quellenbeständen ist, dass sie Licht auf die subjektive Dimension der Wanderungs- und Migrationserfahrung werfen. Mit Hilfe von Auswandererbriefen kann die Geschichte der deutschen Massenauswanderung im 19. Jahrhundert konsequent als „Geschichte von unten“ entfaltet werden. Denn unsere Briefschreiber waren in der Regel einfache Menschen, die ohne die transatlantische Migration wohl kaum Zeugnisse hinterlassen hätten. Unter den Briefe schreibenden Neuankömmlingen in den USA berichten Landwirte, Schneider, Zimmermänner, Schuhmacher, Schmiede, Fleischer, Bäcker und Küfer – kurz Angehörige der Unterschicht und der unteren Mittelschicht – von ihren Amerika-Erfahrungen. Es handelt sich um historische Akteure, deren Reflexionen keinen Eingang in Handbücher oder Lexika gefunden haben, also gewissermaßen um die „Sprachlosen“ in der Geschichtsschreibung, die sichtbar zu machen sich die Geschichtsschreibung in den vergangenen Jahrzehnten bemüht hat. Dafür ist diese Form der Geschichtsschreibung aber auf Zeugnisse angewiesen, die auch die „Sprachlosen“ zu Wort kommen lassen. Die Auswandererbriefe sind solche Zeugnisse.

Abb.2: Emile Duprés: Brief an die Mutter, 1. Februar 1861. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0).

Die Briefe sind nicht nur für die historische, sondern auch für die linguistische oder soziologische Forschung überaus interessant. In Briefen an Mütter, Väter, Geschwister und andere Freunde und Verwandte in der Heimat werden Themen wie soziale Netzwerke, Arbeit, Verdienste und Preise erörtert. So schreibt am 1. Februar 1861 Emile Dupré aus New York an seine Mutter und schickt ihr eine Skizze von seinem neuen Heim mit der Bemerkung: „Wie du siehst, habe ich zwei Piecen, für die ich p. Monat inclusive Essen $ 50.00 zahle. Meine Möbeln sind gelb und gold Emaille und findet jeder uns Besuchende dieselben einfach, aber höchst nett. Beide Zimmer haben Brussel Carpets und sind überaus freundlich.“

Die Digitalisierung der Auswandererbriefe des aus den 1980er Jahren stammenden älteren Sammlungsbestandteils ist ein zentraler Schritt hin zur Etablierung der notwendigen digitalen Forschungsinfrastruktur für die Erforschung dieses transatlantischen kulturellen Erbes auch unter Einsatz neuer digitaler Methoden und Instrumente. Mit Hilfe der meist über mehrere Jahrzehnte verlaufenden transatlantischen Familienkorrespondenz lassen sich Muster, Kontinuitäten oder auch Brüche im transatlantischen Kulturtransfer sowie die Entstehung und der Wandel migrantischen Wissens im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert nachzeichnen. Auswandererbriefe verleihen so auch der gegenwärtig sich sehr dynamisch entwickelnden sozialwissenschaftlichen Forschung im Bereich von Migration und Mobilität eine historische Tiefendimension mit hoher politischer Aktualität.

Verfasser*in: Dr. Feras Krimsti (FB Gotha) und Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl (Universität Trier)

Briefeditionen auf der Grundlage der DABS:

Walter D. Kamphoefner und Wolfgang Helbich (Hg.): Germans in the Civil War. The Letters They Wrote Home. Chapel Hill: The University of North Carolina Press, 2006. | Blick in das Buch

Wolfgang Helbich und Walter D. Kamphoefner (Hg.): Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg. Briefe von Front und Farm 1861–1865. Paderborn u.a.: Schöningh, 2002. | Blick in das Buch

Walter D. Kamphoefner, Wolfgang Helbich und Ulrike Sommer (Hg.): News from the Land of Freedom. German Immigrants Write Home. Ithaca u.a.: Cornell UP, 1991. | Blick in das Buch

Wolfgang Helbich, Walter D. Kamphoefner und Ulrike Sommer (Hg.): Briefe aus Amerika. Deutsche Auswanderer schreiben aus der Neuen Welt 1830–1930. München u.a.: Beck, 1988. | Blick in das Buch

Wolfgang J. Helbich: „Alle Menschen sind dort gleich …“. Die deutsche Amerika-Auswanderung im 19. und 20. Jahrhundert. Düsseldorf: Schwann, 1988. | Blick in das Buch

Wolfgang Helbich (Hg.): „Amerika ist ein freies Land …“ Auswanderer schreiben nach Deutschland. Darmstadt u.a.: Luchterhand, 1985. | Blick in das Buch

 

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