Bretschneider und das Corpus Reformatorum in Gotha

/ Februar 11, 2021

Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 26

Der protestantische Theologe und Vertreter des theologischen Rationalismus Karl Gottlieb Bretschneider ist heutzutage nur noch wenigen Personen bekannt. Gleichwohl verdient er anlässlich seines 245. Geburtstags eine Erinnerung seitens derjenigen Bibliothek, in der er nicht erst für sein Großprojekt regelmäßig zu arbeiten pflegte.

Abb. 1: Porträt von Bretschneider

Am 11. Februar 1776 in Gersdorf (Erzgebirge) geboren, erhielt Bretschneider zunächst von seinem Vater, dem lutherischen Pfarrer Johann Gottlieb Bretschneider, eine frühe humanistisch geprägte Ausbildung, vor allem in den alten Sprachen. Mit 13 Jahren zum Vollwaisen geworden, studierte er seit 1794 für drei Jahre Philosophie und evangelische Theologie in Leipzig. Nach einer mehrjährigen Tätigkeit als Hauslehrer kehrte Bretschneider an die Universität zurück, wo er 1804 in Wittenberg erfolgreich das Promotionsverfahren in Theologie absolvierte. Über Pfarrerstellen in Schneeberg und Annaberg kam Bretschneider 1816 als Generalsuperintendent nach Gotha, wo er bis zu seinem Tod am 22. Januar 1848, also wenige Wochen vor der Märzrevolution, tätig war. 1825 wurde er zum Oberkonsistorialrat und 1840 in Anerkennung seiner großen Leistungen zum Oberkonsistorialdirektor ernannt. Er stand in einem hohen Ansehen bei Hof und Bevölkerung.

Sein eigenes bedeutendes theologisches Wirken, das in der Tradition der Neologie des 18. Jahrhunderts stand – einer aufgeklärten Theologie, die die Lehr- und Bekenntnisfreiheit zum wichtigen Pfeiler der protestantischen Kirche erklärte –, soll hier nicht weiterverfolgt werden. Vielmehr soll Bretschneider als Herausgeber des Werks des Corpus Reformatorum vorgestellt werden, das seit 1834 in Halle erschien. Was hatte es damit auf sich?

Schon länger gab es in Deutschland Bemühungen, eine Edition von Philipp Melanchthons Briefwechsel durchzuführen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Der Bitte des Hallenser Verlegers Karl August Schwetschke (1756–1839), ihn bei einem Neudruck der von Johann Georg Walch (1693–1775) zwischen 1740 und 1753 herausgegebenen deutschen Fassung von Martin Luthers Werken zu unterstützen, beantwortete Bretschneider mit dem Gegenvorschlag eines gewaltigen Editionsprojekts: Er schlug vor, sämtliche Werke und Briefe von Luther, Philipp Melanchthon (1497–1560), Johannes Calvin (1509–1564), Ulrich Zwingli (1484–1531) und weiteren Reformatoren als Corpus Reformatorum erstmals gesammelt herauszugeben und so die Erforschung der Reformationsgeschichte auf solide Grundlagen zu stellen. Bemerkenswert ist hierbei, dass Bretschneider eine Edition im Sinne des protestantischen Unionsgedankens verwirklichen wollte, die die konfessionellen Grenzen zwischen Lutheranern und Reformierten überwinden sollte. 1827 kündigte er in einer Denkschrift sein Großprojekt an. Damals hoffte er noch, bis zum 300jährigen Jubiläum der Confessio Augustana im Jahre 1830 die Edition vorlegen zu können. Wie zu sehen, gelang ihm dies nicht.

Bretschneider wusste zwischenzeitlich, dass er in Gotha exzellente Bedingungen für dieses Editionsprojekt vorfand. Die Herzogliche Bibliothek verfügte über fast alle größeren Druckausgaben von Melanchthons Briefen aus dem 16. und 17. Jahrhundert sowie über mehrere zusätzliche Handschriftenbände mit bisher unedierten Melanchthoniana und Calviniana. In vielen der Melanchthon-Bände finden sich noch heute die handschriftlichen Bearbeitungsspuren von Bretschneider und dem Wittenberger Universitätsbibliothekar Samuel Cnauth (1665–1735). Wie hängt das zusammen?

Cnauth erhielt in Vorbereitung des Reformationsjubiläums Anfang 1717 vom Gothaer Herzog Friedrich II. (1676–1732) den Auftrag, die Melanchthon-Briefedition zu realisieren, an deren Ausarbeitung er schon längere Zeit saß. Er stand hierfür mit dem Gothaer Bibliotheksdirektor Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) in einem engen Austausch. Nicht weniger als um die 6.000 Briefe von Melanchthon wollte Cnauth edieren. Das Projekt geriet jedoch schnell ins Stocken und wurde nie realisiert. Gleichwohl kam Cnauths private Melanchthoniana-Sammlung in die Herzogliche Bibliothek Gotha, wo sie dann Bretschneider vorfand und auswertete.

Abb. 2: Bearbeitungsspuren von Cnauth und Bretschneider in einer Ausgabe der Briefe Melanchthons von 1642.

Die Abb. 2 zeigt wie beide Editoren bei ihren Projekten vorgingen. Während Cnauth den hier abgedruckten Brief von Melanchthon an Paul Eber (1511–1569) mit der Melanchthon-Ausgabe von Johannes Manlius (gest. 1604/05) aus dem Jahre 1565 kollationierte, bedeutende Unterschied notierte, Änderungen in der Interpunktion vornahm und die Jahresangabe auf 1548 auflöste, verglich Bretschneider den Druck einhundert Jahre später mit einer Gothaer Handschrift (Chart. B 191) aus der Bibliothek Cyprians. Bei der Veröffentlichung dieses Briefes im sechsten Band des Corpus Reformatorum im Jahr 1839 (vgl. CR 6, Nr. 3800, Sp. 453f.) berichtigte Bretschneider Cnauths Auflösung der Jahreszahl auf 1547 und zog zwei weitere zeitgenössische Abschriften unterschiedlicher Provenienz heran. Hieraus wird sichtbar, auf welch hohem philologischen Niveaus Bretschneider arbeitete. Die Bedeutung der Gothaer Bestände für das gesamte Unternehmen ergibt sich aus Bretschneiders Unterteilung der verwendeten Handschriften für die Briefausgabe in die „Codices Gothani“ (Gothaer Handschriften) und die „Classis altera, Codices exteros complectens“ (Die andere Abteilung, die auswärtigen Handschriften umfassend) (vgl. CR 1, Sp. XC–CXVII).

Mit der Veröffentlichung des zehnten Bandes der Melanchthon-Korrespondenz im Jahre 1842 erreichte Bretschneider den ersten Meilenstein seines monumentalen Projekts. Die damals bekannte Überlieferung des Briefwechsels stand der Fachwelt in vollem Umfang und in zeitgemäß aufbereiteter Form zur Verfügung. Unter den über 7.100 Briefen erschienen weit mehr als 2.000 erstmals im Druck. In den restlichen fünf Bänden, die Bretschneider bis zu seinem Tod vollenden konnte, veröffentlichte er Melanchthons Gedichte, akademische Reden, Thesenreihen, Werke zur Geschichte, Philosophie und Theologie. Die Reihe wurde dann vom Bibliothekar und späteren Professor an der Universität Halle, Heinrich Ernst Bindseil (1803–1876), mit weiteren 13 Bänden zu Melanchthon fortgesetzt. Später folgten die Ausgaben zu Calvin und Zwingli, so dass bis 1991 insgesamt 101 Bände in dieser Reihe veröffentlicht wurden. Eine wahrhaft historische Leistung der Reformationsgeschichtsforschung.

Zur Realisierung seiner Edition griff Bretschneider auf ein großes Netzwerk an Kontakten vor Ort und außerhalb des Herzogtums zurück. Davon zeugen noch heute sein Teilnachlass an der FB Gotha, der neben Manuskripten und Dokumenten auch ca. 110 Briefe an und von Bretschneider enthält. So schickte ihm der aus Gotha stammende Theologe und Historiker August Beck (1812–1874) von seiner peregrinatio academica 1834/5 durch Frankreich und Italien ein Verzeichnis einer Sammlung von 1.200 Melanchthon-Briefen (in Abschrift), die er in der Bibliothek Sainte-Geneviève in Paris ausfindig gemacht hatte. Der ebenfalls aus Gotha gebürtige Altphilologe Johann Friedrich Dübner (1802–1867) wiederum, der damals an der Edition der Bibliotheca Graeca mitwirkte, fertige zahlreiche Transkriptionen der Melanchthonbriefe an, so dass Bretschneider etwas 530 zuvor unbekannte Briefe aus der Pariser Sammlung edieren konnte. Schon damals ließ sich also ein solches Editionsprojekt nur interdisziplinär und kollaborativ verwirklichen.

Bretschneider knüpfte mit seinem Corpus Reformatorum an eine Tradition der Reformationsgeschichtsforschung in Gotha an, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und an deren Spitze neben ihm so illustre Gelehrte wie Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692), Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707) und Cyprian stehen. Die zukünftige Melanchthon-Forschung wird auch dank Bretschneider keinen Bogen um Gotha machen können.

Verfasser: Dr. Sascha Salatowsky, 11. Februar 2021

 

Nachweis der Abbildungen:

Abb. 1: Bildnisse der jetzt in Gotha lebenden Philologen […]. Gezeichnet und lithographiert von [Paul] Emil Jacobs und bei der Feier des 300jährigen Jubelfestes des hiesigen Gymnasiums herausgegeben von Wilhelm Hennings. Gotha 1824. FB Gotha, Goth 4° 187/1 (1).
Abb. 2: Philipp Melanchthon: Epistolarum libri IV. London 1642. FB Gotha, Phil 2° 104/2, Sp. 215/6.

Nachlass:

Karl Gottlieb Bretschneider: Chart A 2115; Chart A 2125 (3) und Chart A 2129 mit Briefen, Manuskripten, Dokumenten etc.

Bibliographie:

Corpus Reformatorum. Hrsg. von Karl Gottlieb Bretschneider u.a. 101 Bde. Halle u.a. 1834–1991.
Daniel Gehrt: Melanchthon in Gotha. Eine Sammlungs- und Forschungsgeschichte. Gotha 2016.
Axel Lange: Von der fortschreitenden Freiheit eines Christenmenschen. Glaube und moderne Welt bei Karl Gottlieb Bretschneider. Frankfurt/Main 1994.
Heinz Scheible: Aus der Arbeit der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Überlieferung und Editionen der Briefe Melanchthons, in: Ders.: Melanchthon und die Reformation. Forschungsbeiträge. Hrsg. von Gerhard May und Rolf Decot. Mainz 1996, S. 1–28.

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