Die Urfassung von Philipp Melanchthons „Loci communes theologici“. Die Anfänge einer bahnbrechenden Methode

/ Oktober 31, 2021

Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 32

Mit seinen „Loci communes theologici“ (Theologische Hauptartikel) führte der junge und vielseitige Wittenberger Professor Philipp Melanchthon (1497–1560) vor 500 Jahren eine bahnbrechende Methode für biblische Studien ein, die die lutherische Theologie entscheidend und nachhaltig prägen sollte. Das zahlreich aufgelegte und mehrfach überarbeitete und erweitere Werk erschien erstmals 1521. Die einmalig überlieferte Urfassung dieses Schlüsseldokuments für die exegetische Kultur des Luthertums ist heute Teil der Sammlung der Reformationshandschriften der Forschungsbibliothek Gotha.

Abb. 1: Melanchthon als Ganzfigur mit seinem Wappen.

Philipp Melanchthon wurde 1518 als Gräzist nach Wittenberg gerufen. Unter dem prägenden Einfluss von Martin Luther wurde er innerhalb kürzester Zeit zum zweiten führenden Theologen der Wittenberger Reformation. Luther bewegte Melanchthon im Herbst 1519, den Grad des baccalaureus biblicus zu erwerben. Danach begann Melanchthon, Vorlesungen über die Bibel zu halten. Luther selbst formulierte seine dogmatisch-theologischen Ansichten nie umfassend in Form eines systematischen Werkes. Sein reformatorisches Gedankengebäude muss stattdessen aus den von ihm verfassten Bibel-Kommentaren, weiteren exegetischen Werken und situativ entstandenen Schriften rekonstruiert werden. Die neue Lehre fand dagegen ihre erste systematische Darstellung 1521 in Melanchthons „Loci communes rerum theologicarum“.

Das Werk war in zweierlei Hinsicht bahnbrechend. Entsprechend dem reformatorischen Schriftprinzip, das die Bibel zur einzigen zuverlässigen Erkenntnisquelle der göttlichen Dinge erhob, verzichtete Melanchthon auf die gängige Praxis, Sentenzen der Kirchenväter und anderer Auslegungsautoritäten der Bibel zu kompilieren und zu kommentieren. Vielmehr beruhte seine Exegese unmittelbar und allein auf der Heiligen Schrift. Innovativ war ebenfalls die Anwendung der aus der antiken Rhetorik stammenden Loci-Methode, um theologische Inhalte unter Schlüsselbegriffen zu erfassen. Unter dem Titel „Loci communes theologici“ baute Melanchthon das Werk 1535 zu einer umfassenden Dogmatik aus und entwickelte sie bis 1559 zu den „Loci praecipui theologici“ weiter. Bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein diente das Werk häufig als Grundlage für theologische Vorlesungen an lutherischen Universitäten.

Das Werk stellte jedoch ursprünglich kein geschlossenes System dar. Vielmehr sollte es Studierenden einen Zugang zu individuellen Bibelstudien bieten. Danach wurden Zitate, Exzerpte und zentrale Aussagen bei der Lektüre in einem Heft gesammelt, um ein System von Gemeinplätzen zu konstruieren, die schließlich die Summe der christlichen Lehre bilden. Das Verfahren regte zu einer kritischen, strukturierten, fragengetriebenen Lektüre an, förderte die Produktion und Aneignung vom Wissen, unterstützte die systematische Analyse von Argumenten und der Interpretation von dunklen Stellen und erzeugte eine sich stets erweiternde Referenzquelle, die immer wieder konsultiert werden konnte. Dabei war der Ausgangspunkt entscheidend. Der Leser sollte nicht zum Beispiel mit Genesis, dem ersten Buch der Bibel, sondern mit der paulinischen Epistel an die Römer im Neuen Testament beginnen. Nach Luther und Melanchthon war der Römerbrief der hermeneutische Schlüssel zum Verständnis der Bibel in ihrer Gesamtheit. Der Brief erläutert, so Melanchthon in einer Anleitung zu theologischen Studien, die Rechtfertigung vor Gott und den Gebrauch des Gesetzes deutlicher als alle anderen biblischen Bücher und unterscheidet in aller Klarheit zwischen Gesetz und Evangelium, den zwei fundamentalsten Loci Wittenberger Theologie.

Abb. 2: Die früheste Fassung von Melanchthons Loci communes theologici.

Die früheste Fassung der „Loci communes theologici“, die Melanchthon für seine Privatvorlesung zum Römerbrief verfasste, ist nur einmal überliefert und weicht in der Anordnung der Loci und durch die geringere Ausführlichkeit von der Druckfassung ab. Sie ist Teil eines Sammelbands (Chart. B 973), der Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg 1801 für die Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein erwarb. Der Band enthält auch die erste Druckausgabe der „Loci communes theologici“ und Mitschriften der frühen Auslegungen des Römerbriefes durch Luther 1515/16 und Melanchthon 1520/21. Der Druck und die handschriftlichen Teile, welche der unbekannte Erstbesitzer als Handbuch für seine theologischen Studien zusammentrug und binden ließ, lassen somit einen entscheidenden Teil der frühen Entwicklung der reformatorischen Lehre an der Universität Wittenberg Schritt für Schritt verfolgen.

Verfasser: Dr. Daniel Gehrt, 31.10.2021

 

Literatur:
Helmar Junghans: Philipp Melanchthons Loci theologici und ihre Rezeption in deutschen Universitäten und Schulen, in: Günther Wartenberg (Hrsg.): Werk und Rezeption Philipp Melanchthons in Universität und Schule bis ins 18. Jahrhundert. Leipzig 1999, S. 9–30.
Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft, beschrieben von Daniel Gehrt. Wiesbaden 2015, S. 1097f.
Thomas Töpfer: Philipp Melanchthons Loci communes. Systematisierung, Vermittlung und Rezeption gelehrten Wissens zwischen Humanismus, Reformation und Konfessionspolitik (1521–1590), in: Gerlinde Huber-Rebenich (Hrsg.): Lehren und Lernen im Zeitalter der Reformation. Methoden und Funktionen. Tübingen 2012, S. 127–147.

Abbildungen:
Abb. 1: Melanchthon als Ganzfigur mit seinem Wappen. FB Gotha, Th 2° 2997 (1).
Abb. 2: Die früheste Fassung von Melanchthons Loci communes theologici. FB Gotha, Chart. B 973, Bl. 197r.

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