Gotha – Wolfenbüttel und zurück. Gotthold Ephraim Lessing entleiht Gothaer Handschriften

/ Mai 31, 2022

Eine mittelalterliche Handschrift wie ein modernes Buch aus der Bibliothek auszuleihen, ist heutzutage ein nicht zu realisierender Traum. Zu Zeiten von Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) – einem der bedeutendsten Dichter und Denker der Aufklärung, der seinen Lebensunterhalt als Bibliothekar der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel verdingte – war ein solches Unterfangen zwar nicht einfach, aber immerhin möglich. Lessings Brotherr, Herzog Carl von Braunschweig-Lüneburg, musste dem wahrscheinlich durch die „Monatlichen Unterredungen“ Ernst Wilhelm Tentzels von 1691 angeregten Ansinnen Lessings allerdings in einem Brief an Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745–1804) Nachdruck verleihen, den er mit „Freundlich geliebter Herr Vetter“ adressierte. Von Gotha nach Wolfenbüttel sollten „auf einige Monate“ ausgeliehen werden der „Herzog Reinfried von Braunschweig“ (Memb. II 42),1https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:urmel-c0b5a049-4956-4431-a800-2c8afcbb52cb2 – Für alle hier angegebenen Digitalisate vgl. Zugriff: 30.05.2022. „Freidanks Bescheidenheit“ in Chart. B 532https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:urmel-ufb-155563 und der reich illuminierte „Welsche Gast“ des Thomasin von Zerklaere in Memb. I 120.3Die heute gültigen Signaturen dieser drei Handschriften waren Tentzel in den „Monatlichen Unterredungen“ von 1691 noch nicht bekannt. Das Digitalisat der Handschrift finden Sie: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:urmel-76f613be-7686-486a-96ee-88f8f9f51e757. Herzog Carl sicherte zu, dass Lessing „keinen anderen als unschädlichen Gebrauch davon machen“ werde, der Ausleihvorgang kam jedenfalls zustande.4Für den Ausleihvorgang und die Zitate: Roob 1963, S. 73–74.

Abb. 1: Welscher Gast, Memb. I 120, Bl. 99r: links unten: der Lehrmeister und der Wolf; rechts unten: Datierungsangabe (am 6. Tag nach Mariae Himmelfahrt 1340)

Wie weitere Beispiele der aktuellen Ausstellung zeigen – vgl. das „Buch der Lieder“, ausgeliehen von dem österreichischen Orientalisten Joseph Freiherr von Hammer-Purgstall,5https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2022/05/ich-habe-mich-ohne-ihre-erlaubniss-nicht-getraut-dieselbe-zu-paginiren-joseph-von-hammer-purgstall-als-leser-der-orientalischen-handschriften-in-gotha/ oder die unabsichtliche Ausleihe des Max von Oppenheim6https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2022/05/buecher-auf-abwegen-die-eigenmaechtige-fernleihe-des-max-von-oppenheim-aus-der-bibliothek-des-verlagshauses-justus-perthes-gotha/ – sind Aus- und Fernleihen in historischen Zeiten tatsächlich nicht die Regel, aber auch kein Einzelfall.

Abb. 2: Welscher Gast, Memb. I 120, Bl. 8v: Der Autor übergibt sein Werk der Personifikation der deutschen Sprache („zunge“)

Der „Welsche Gast“ wurde 1215/16 in rund 15.000 Versen von dem norditalienischen Kleriker Thomasin von Zerklaere (1186–1238) auf Deutsch als Verhaltenslehre für junge Adlige verfasst, voll mit Empfehlungen und Schilderungen, was nach zeitgenössischer Auffassung und gültigem Wertekanon einem guten Leben und Verhalten entspricht. So werden darin Tugenden und Laster sowie die Pflichten eines guten Herrschers und die Konsequenzen menschlichen Handelns vor Augen geführt – im Text und wohl bereits in der Urhandschrift auch im Bild. Diese Illustrationsaufgabe muss eine Herausforderung gewesen sein, gab es dafür doch keine konkreten Vorbilder, so dass für viele Inhalte neue bildliche Umsetzungen zu ersinnen waren.

Die Gothaer Handschrift, die mit ihren 120 Miniaturen den reichsten Bildzyklus aller 25 erhaltenen illuminierten Handschriften7Vgl. die Homepage des Forschungsprojekts: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/wgd/. des „Welschen Gastes“ überliefert, wurde 1340 (vgl. Bl. 99rb; Abb. 1) von nur einem Schreiber und einem Buchmaler ausgeführt.8Eisermann 2009, mit Lokalisierung in das ostfränkische Sprach- oder das ostfränkisch-nordostschwäbische Übergangsgebiet; Sturm 2018, mit Lokalisierung in den westmittelböhmischen Raum. Gerade auf dieser Seite wird der Bildwitz mancher Darstellungen deutlich, zumal dort ein Wolf das Pater noster erlernen soll, der Blick auf ein Lamm ihn aber nur dazu bringt, ein „Lamp her“ zu knurren. Der Autor des Werks ist hingegen auf Blatt 8v, links in der Mitte (Abb. 2), zu sehen, wie er der Personifikation der deutschen Sprache („zunge“) sein Werk widmet. Links oben ist der tüchtige Mensch im roten Gewand zu erkennen, der ganz nach antiker oder auch biblischer (Ps 91,13)9Ps 91, 13: „Über Löwen und Ottern wirst du gehen und junge Löwen und Drachen niedertreten.“ (zitiert nach Lutherbibel 2017). Art der Triumphdarstellung auf dem Bösewicht („boeswihte“) steht. Rechts unten treibt die Personifikation der Tätigkeit die Muße vor sich her.10Bismark / Hüpper 2018, S. 33–34.

Die Geschichte dieser Handschrift ist wechselreich und passt zum Thema der aktuellen Ausstellung „Bücher bewegen“, in der sie auch noch bis zum 19. Juni zu sehen ist. Der wertvolle Kodex kam 1580 in die Hofbibliothek München, von wo sie Herzog Wilhelm von Weimar 1632 raubte. 1640 gelangte sie im Zuge der Erbteilung und der Gründung des Herzogtums nach Gotha und 1647 als Gründungsbestand in die Herzogliche Bibliothek im Westturm des damals neu errichteten Schloss Friedenstein.11Mitscherling 1977; Eisermann 2009; Sturm 2018.

Monika E. Müller

Literatur

  • Helmut Roob, Lessing – Benutzer der Gothaer Bibliothek, in: Marginalien. Blätter der Pirckheimer-Gesellschaft 13 (1963), S. 72–74.
  • Falk Eisermann, Memb. I 120, in: Katalog der deutschsprachigen mittelalterlichen handschriften der Forschungsbiblitohek Gotha. Vorläufige Beschreibung von Falk Eisermann, Leipzig 2009. Online-Version: http://bilder.manuscripta-mediaevalia.de/hs//projekt-Gotha-pdfs/Memb_I_120.pdf
  • Katrin Sturm, Kodikologie und Geschichte, in: Der Welsche Gast. Memb. I 120. Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, Forschungsbibliothek Gotha, Kommentar zur Faksimile-Edition, Luzern 2018, S. 17–29.
  • Heine Bismark, Dagmar Hüpper, Text-Bild-Kommentar, in: Der Welsche Gast. Memb. I 120. Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha, Forschungsbibliothek Gotha, Kommentar zur Faksimile-Edition, Luzern 2018, S. 31–75.
  • Maria Mitscherling, Deutsche mal. Handschriften (Typoskript, 33 S.), o. O. (Gotha) 1977, S. 1, Nr. 5.
Share this Post