Provenienzforschung mit Mehrwert

/ April 12, 2023

Mitschriften aus Johann Mattenbergs Studium und ihre Bedeutung für die Bildungsgeschichte

Erweist sich ein Buch bei Recherchen als einst zur Bibliothek berühmter Persönlichkeiten wie Martin Luther (1483–1546) oder Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) gehörig, gewinnt es schlagartig an Bedeutung. Eigenhändige Notizen können auch von der intellektuellen Auseinandersetzung der Besitzer mit dem Text zeugen. Erkenntnisse über die Herkunft von Objekten lassen sie in ihren jeweiligen historisch-kulturellen Kontext einordnen und verschiedene Sammlungen rekonstruieren. Die Herkunft und die wechselnden Besitzverhältnisse von Kulturgütern zu bestimmen, bildet die Hauptaufgabe der Provenienzforschung.

Dieser Wissenschaftsbereich erlebt seit einigen Jahrzehnten Hochkonjunktur und gehört selbstverständlich zur Erschließung von Handschriften und Alten Drucken. Anlässlich des „Tages der Provenienzforschung“, der für heute, den 12. April 2023, ausgerufen wurde, wird in diesem Beitrag eine kurze Entdeckungsgeschichte erzählt, die zeigt, dass die Provenienzbestimmung ein Schlüssel zu neuen Erkenntnissen auch in anderen Forschungsbereichen werden kann.

Abb. 1: Eigenhändiger Besitzvermerk von Johann Mattenberg

Im Rahmen des Projekts zur Katalogisierung der Nachlässe der Jenaer Theologieprofessoren Johann (1582–1637) und Johann Ernst Gerhard (1621–1668) wurden 202 Handschriftenbände der Forschungsbibliothek Gotha beschrieben. Dabei kamen unerwartet viele Vorlesungsmitschriften vor, die nicht von der Feder der Gerhards stammten. Sie waren von mehreren Personen. Eine markante Handschrift aus dem 16. Jahrhundert war jedoch besonders stark vertreten. Insgesamt elf Bände konnten diesem lange Zeit unbekannt gebliebenen Studenten zugeordnet werden. Erst in einem der später beschriebenen Bände befand sich ein Vermerk, der den Namen des Besitzers endlich verriet: Johann Mattenburg (1550–1631; Abb. 1). Mit dieser Information war es erst möglich, anhand von Universitätsmatrikeln und einer gedruckten Leichenpredigt mehr über den Lebenslauf dieser Person und den Entstehungskontext der Sammlung zu erfahren.

Johann Mattenberg, geboren 1550 in Hannoversch Münden, wurde 1568 in Marburg, im Januar 1570 in Wittenberg und 1574 in Jena immatrikuliert. 1577 setzte er sein bereits in Wittenberg begonnenes Medizinstudium in Padua fort und wurde am 31. August 1579 an der südostfranzösischen Universität Valence zum Doktor promoviert. Er war als Arzt in mehreren Städten und an verschiedenen Höfen tätig, bevor er sich 1586 dauerhaft in Gotha niederließ.

Die einfache Erkenntnis, dass die zahlreichen Einzelteile in den elf Bänden nicht willkürlich nebeneinander lagen, sondern dass sie das Studium eines bestimmten Individuums abbildeten, macht Mattenbergs Sammlung zu einem besonderen Fund. Neben dem Nachlass des Zwickauer Stadtschreibers und Ratsherrn Stephan Roth (1492–1546) stellt die 1.743 Folio- und 1.947 Quartblätter umfassende Sammlung die umfangreichste handschriftliche Überlieferung aus der Studienzeit eines deutschen Gelehrten des 16. Jahrhunderts dar, die bisher bekannt ist. Schulhefte und Vorlesungsmitschriften werden grundsätzlich nicht besonders lange aufbewahrt – vor allem nicht nach dem Tod der Person, die sie erstellte. So bildet Mattenbergs Sammlung eine ausgezeichnete Grundlage, um unser Bild über die akademische Bildung von protestantischen Gelehrten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu schärfern. Sie ist besonders wertvoll, weil sie einen Einblick in die Rezeption von Bildungsangeboten gewährt.

Abb. 2: Mitschriften einer Vorlesung über Astrologie mit Diagramm für die Erstellung eines Horoskops

Um das Curriculum an einer Universität zu erfassen, wird in der Forschung meist von normativen Quellen wie Statuten und Vorlesungsankündigungen und -verzeichnissen ausgegangen. Diese Quellen zeugen zwar von den Lehrangeboten, die vorgesehen bzw. geplant waren, geben aber selten Auskunft beispielsweise darüber, welche Vorlesungen Studenten in verschiedenen Stadien ihrer Bildung besuchten. So herrscht noch heute die irrige Vorstellung, dass der Erwerb des Magistergrads in der Philosophischen Fakultät eine unabdingbare Voraussetzung an frühneuzeitlichen Universitäten gewesen sei, um Theologie, Rechtswissenschaft oder Medizin an den höheren Fakultäten studieren zu dürfen. Spätestens seit den Wittenberger Hochschulreformen in den 1520er Jahren traf dies nicht mehr auf protestantische Universitäten im deutschen Reich zu.

Abb. 3: Rezepte für Arzneimittel gegen Steine

Die frühesten datierbaren Mitschriften Mattenbergs stammen von juristischen Vorlesungen. An der Universität in Wittenberg belegte er Vorlesungen in der Philosophischen und Theologischen Fakultät parallel zueinander (Abb. 2). Die frühesten von ihm überlieferten medizinischen Vorlesungsmitschriften stammen aus dem Jahr 1572. Erst ab 1574 sind ausschließlich medizinische Vorlesungen von der Hand Mattenbergs überliefert. Er war Hörer bei solchen prominenten Medizinern seiner Zeit wie Johann Schröter (1513–1593) in Jena und von Girolamo Capivaccio (1523–1589), Girolamo Mercuriale (1530–1606) und Girolamo Fabrizio (ca. 1533–1619) in Padua. Wie dieses Beispiel eindrucksvoll zeigt und andere Sammlungen untermauern, waren die Studien an den protestantischen Universitäten so ausgelegt, dass sich alle Studenten breit gefächert bilden, dabei eigene Schwerpunkte setzen und diese frei verschieben und kombinieren konnten. Theologie gehörte in unterschiedlicher Intensität zum Grundstudium aller protestantischen Studenten.

Abb. 4: Medizinisches Buch aus Johann Mattenbergs Besitz mit gefärbtem Vorderschnitt

Die Einordnung der einzelnen Schriftstücke in Mattenbergs Sammlung lässt darüber hinaus erkennen, dass viele Texte, teilwiese aus vorherigen Jahrzehnten, an den Akademien im Umlauf waren und für Lehr- und Lernzwecke abgeschrieben wurden. Mattenberg fertigte zum Beispiel Abschriften von zahlreichen Wittenberger Disputationen und Thesenreihen über theologische Fragen, teils aus seiner Studienzeit und teils aus den Wirkungsjahren Martin Luthers und Philipp Melanchthons (1497–1560), an. Hinzu kommen handschriftlich festgehaltene mündliche Sprüche oder sogenannte „Tischreden“ von dem vor einem Vierteljahrhundert verstorbenen Luther. Mattenberg schrieb auch Briefe zwischen Medizinern mit fachlichen Inhalten ab. Er sammelte zudem medizinische Rezepte von verschiedenen Quellen (Abb. 3). Diese Beispiele zeugen von der großen Bandbreite des verwendeten Lehr- und Lernmaterials für akademische Studien.

Wie gelangte Mattenbergs Sammlung in die Bestände der Forschungsbibliothek Gotha? Das ist ebenfalls eine grundlegende Frage der Provenienzforschung. Die Bände wurden zunächst Teil der von Johann Gerhard gegründeten Bibliotheca Gerhardina. Sein Sohn Johann Ernst Gerhard baute sie so intensiv aus, dass sie zu einer der größten deutschen Gelehrtenbibliothek des 17. Jahrhunderts wuchs. Vor allem die Vorderschnitte, aber auch die Rücken der Bände in dieser Bibliothek wurden rot gefärbt. Durch die Verwendung von Schablonen in verschiedenen Ausführungen blieb meist ein Herz-Jesu-Signet mit Monogramm ausgespart. Auch die Bände von Mattenberg weisen Spuren von diesem Spritzverfahren auf (Abb. 4). Da Mattenberg Gerhards Schwiegervater war, ist davon auszugehen, dass Gerhard die Bände geerbt hat. Die Erben der Gerhards verkauften die Bibliotheca Gerhardina 1678 an Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1646–1691). Seitdem befindet sich diese Sammlung – mit Ausnahme des Abtransports nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der Aufbewahrung bis 1956 in der Sowjetunion – in den Beständen auf Schloss Friedenstein in Gotha.

Daniel Gehrt

Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Literatur

  • Daniel Gehrt: Die Harmonie der Theologie mit den studia humanitatis. Zur Rezeption der Wittenberger Bildungskonzeptionen in Jena am Beispiel der Pfarrerausbildung, in: Matthias Asche, Heiner Lück, Manfred Rudersdorf und Markus Wriedt (Hrsg.): Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550. Leipzig 2015, S. 263–312, hier S. 285–287, 293, 308.
  • Daniel Gehrt: Martin Luthers Tischreden in studentischen Sammlungen und Alba amicorum, in: Ingo Klitzsch (Hrsg.): Die „Tischreden“ Martin Luthers. Tendenzen und Perspektiven der Forschung. Gütersloh 2021, S. 38–66, hier S. 52–56.
  • Helmut Helbich: Die Familie des Dr. Johannes Mattenberg in Gotha und ihre Verwandten. Aus Leichenpredigten und anderen zeitgenössischen Schriften, in: Jahrbuch des Hennebergisch-Fränkischen Geschichtsvereins 35 (2020), S. 183–211.
  • Katalog der Handschriften aus den Nachlässen der Theologen Johann Gerhard (1582–1637) und Johann Ernst Gerhard (1621–1668). Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft, beschrieben von Daniel Gehrt unter Mitarbeit von Hendrikje Carius. Wiesbaden 2016, S. XXIIf., 167f., 173–177, 433–445, 451f.
  • Regine Metzler: Der Nachlass Stephan Roths (1492–1546) in der Ratsschulbibliothek Zwickau (mit Anhang), in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 81 (2010), S. 215–234.
  • Sascha Salatowsky und Karl-Heinz Lotz (Hrsg.): Himmelsspektakel. Astronomie im Protestantismus der Frühen Neuzeit. Gotha 2015, S. 146–148. Auch online verfügbar in der Digitalen Bibliothek Thüringen: https://db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00058175/Salatowsky_Lotze_Himmelsspektakel.pdf
  • Sascha Salatowsky und Michael Stolberg (Hrsg.): Eine göttliche Kunst. Medizin und Krankheit in der Frühen Neuzeit, Gotha 2019, S. 108f., 128f.

Internet

Abbildungsnachweis

  1. Eigenhändiger Besitzvermerk von Johann Mattenberg. FB Gotha, Chart. A 627, Bl. 2r.
  2. Mitschriften einer Vorlesung über Astrologie mit Diagramm für die Erstellung eines Horoskops, [Wittenberg ?, ca. 1568]. FB Gotha, Chart. B 495, Bl. 138v–139r.
  3. Rezepte für Arzneimittel gegen Steine, [1570er Jahre]. FB Gotha, Chart. B 492, Bl. 73r.
  4. Medizinisches Buch aus Johann Mattenbergs Besitz mit gefärbtem Vorderschnitt, 1575. FB Gotha, Med 2° 69/3.
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