Frühe mitteleuropäische Orientalisten auf der Suche nach Studientexten

/ November 6, 2024

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Ein Einblick in die Sammlung Johann Ernst Gerhards

Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern Mitte des 15. Jahrhunderts in Mainz führte in den folgenden Jahrzehnten in den germanischen und romanischen Sprachräumen Europas zu einer Verbreitung von Schriften in noch nie dagewesenem Ausmaß. Im Unterschied dazu ist eine parallele Entwicklung im Vorderen Orient aufgrund eines komplexen Gefüges von sprachlichen, religiösen, kulturellen und sozialen Faktoren erst im 18. Jahrhundert festzustellen. Obwohl die technischen Voraussetzungen vorhanden waren, fehlte zunächst ein Markt für gedruckte Bücher in der Levante. Mit Blick auf das im 16. und 17. Jahrhundert steigende Interesse europäischer Gelehrter an orientalischen Sprachen stellt sich daher die Frage, wie frühe Orientalisten an Texte für ihre Sprachstudien kamen.

Die Bibliotheca Gerhardina, eine der bedeutendsten deutschen Gelehrtenbibliotheken in der Frühen Neuzeit, gewährt einen aufschlussreichen Einblick in diese Problematik. Sie befindet sich heute größtenteils in der Forschungsbibliothek Gotha. Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1646–1691) erwarb die Sammlung 1678 für die Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein. Die Sammlung wurde von den lutherischen Theologieprofessoren an der Universität Jena Johann Gerhard (1582–1637) und Johann Ernst Gerhard (1621–1668; Abb. 1) – Vater und Sohn – gegründet und mit großem Elan kontinuierlich ausgebaut. Letzterer gehörte zu den frühen mitteldeutschen Orientalisten. Somit hatten Orientalia insbesondere bei ihm hohe Priorität und prägten seine Bestrebungen, die Sammlung zu erweitern.

Abb: 1: Christian Romstet: Porträt von Johann Ernst Gerhard, 1668.

Dennoch fällt die Anzahl der Orientalia in der Gesamtschau sehr gering aus. Schließt man Grammatiken, Lexika, Thesauren und andere philologische Kompendien sowie die Bestände zur hebräischen Sprache aus, die sich bereits im 16. Jahrhundert unter den europäischen Gelehrten etabliert hatte, lassen sich 26 Publikationen mit Texten in verschiedenen orientalischen Sprachen nachweisen. Sie bilden weniger als ein halbes Prozent der insgesamt 6.000 Drucke der Bibliotheca Gerhardina. Die Hälfte machen Teilausgaben der Bibel in Äthiopisch, Syrisch und Arabisch aus, ein Sechstel Auszüge aus dem Koran in Arabisch und ein Fünftel verschiedene religiöse Texte in Arabisch, Äthiopisch, Persisch und Armenisch. Nur vier Drucke enthalten weltliche Texte, darunter Gedichte, Sprüche und vorislamische Fabeln in Arabisch sowie ein türkischer Dialog zwischen einem christlichen Kaufmann und einem Osmanen in Istanbul. Dieser Dialog, den der ehemalige osmanische Gefangene Bartolomej Đurđević (1506–1566) verfasst und 1558 in einem Kompendium zur türkischen Kultur in Leiden veröffentlicht hatte, war lediglich als Abschrift in der Bibliotheca Gerhardina vertreten. Johann Gerhard hatte sie interessanterweise 1596 als dreizehnjähriger Lateinschüler in Quedlinburg angefertigt.

Abb. 2: Geographische Visualisierung der Druckorte orientalischer Texte in der Bibliotheca Gerhardina.

Übersetzungen der Bibel und arabische Ausgaben des Korans ermöglichten europäischen Gelehrten ein tieferes Verständnis der heiligen Schriften und wappneten sie zugleich für interreligiöse Kontroversen. Einige Drucke dienten in erster Linie missionarischen Bestrebungen. Dazu zählen die Darstellungen des Lebens Christi und des Apostels Petrus – aus römischer Sicht der erste Papst –, die der spanische Jesuit Jerome Xavier (1549–1617) auf dem indischen Subkontinent am Hof des Moguls Akbar (1542–1605) in persischer Sprache verfasst hatte. Hinzu kommt eine armenische Übersetzung der von dem florentinischen Kardinal Robert Bellarmin (1542–1621) veröffentlichten „Doctrina Christiana“. Dieses Sammlungsprofil macht deutlich, dass die sich im 16. und 17. Jahrhundert intensivierende Beschäftigung europäischer Gelehrter mit orientalischen Sprachen vorrangig theologisch motiviert war und nur sekundär Handels- und diplomatischen Interessen sowie dem kulturellen Austausch diente.

Abb. 3: Porträt von Thomas Erpenius, 1625.

Die 26 Drucke erschienen sämtlich in europäischen Offizinen (Abb. 2). Allein ein Drittel wurde in Leiden publiziert. Leiden wurde durch die um 1615 von Thomas Erpenius (1584–1624; Abb. 3) errichtete und mit hebräischen, arabischen, syrischen, äthiopischen und türkischen Lettern ausgestattete Offizin zum Druckzentrum orientalischer Schriften. In der Bibliotheca Gerhardina befanden sich arabische Übersetzungen des Neuen Testaments und des Pentateuchs bzw. der Thora – der erste Druck der fünf Bücher Moses in arabischen Lettern – sowie eine Spruchsammlung von Erpenius. Hinzu kam eine altsyrische Ausgabe der Johannesapokalypse, die Erpenius’ Nachfolger Louis de Dieu (1590–1642) herausgegeben hatte. Die Publikation galt damals in der Gelehrtenwelt als Sensation, war doch die äthiopische Überlieferung dieses letzten Buchs der Bibel jahrhundertelang unbekannt geblieben. Auch Drucke aus anderen europäischen Metropolen wie Rom, Amsterdam, London, Paris und Wien stellen Meilensteine der Druckgeschichte orientalischer Texte und Übersetzungen dar. Hervorzuheben ist der älteste orientalische Druck in der Bibliotheca Gerhardina, der 1548 in Rom veröffentlicht wurde (Abb. 4). Es handelt sich um die erste Übersetzung des Neuen Testaments ins Äthiopische. Drei Mönche, die aus dem Kaiserreich Abessinien fliehen mussten und Zuflucht in Rom gefunden hatten, gaben das Werk heraus.

Abb. 4: Anfangsseite des Markusevangeliums in der äthiopischen Übersetzung des Neuen Testaments, Rom 1548.

Weitere Drucke in Arabisch und Syrisch, die sich in der Bibliotheca Gerhardina befanden, erschienen in kleineren mitteleuropäischen Städten. Dazu zählen Ausgaben von Johann Ernst Gerhards Sprachlehrern in Jena und Altdorf, Johann Michael Dilherr (1604–1669) und Theodor Hackspann (1607–1659), sowie von zwei deutschen Gymnasiallehrern. In der neuen, am Köthener Hof errichteten Druckerei gab der dortige Gymnasiallehrer für orientalische Sprachen, Martin Trost (1588–1636), 1621 eine syrische Ausgabe des Neuen Testaments heraus, während Johann Zechendorff (1508–1662) in den folgenden Jahrzehnten vier kurze Koransuren und das Vaterunser in arabisch-lateinischen Ausgaben als Unterrichtsgrundlagen für das Zwickauer Gymnasium veröffentlichte.

Allein die Herstellung und Anschaffung von entsprechenden Lettern stellten in dieser frühen Zeit eine besondere Herausforderung dar, die bewältigt werden musste, wollte man orientalische Schriften durch den Druck breiteren Kreisen zugänglich machen. Sie verlangten eine beachtliche finanzielle Investition. Als beispielsweise Immanuel Tremmelius (1510–1580), ein jüdischer Konvertit zum reformierten Glauben, 1569 in Genf eine griechisch-lateinische Ausgabe des Neuen Testaments mit syrischer Auslegung herausgab, verfügte er über keine syrischen Lettern. Er löste dieses Problem, indem er den syrischen Text in hebräischen Typen phonetisch wiedergab (Abb. 5). Zechendorff druckte arabische Texte ebenfalls mit hebräischen Lettern. In anderen Fällen ließ er ganzseitige Holzschnitt- oder Kupferstichplatten herstellen, um arabische Texte in ihrem entsprechenden Alphabet wiedergeben zu können. Dies stellte jedoch eine kosten- und zeitaufwendigere Lösung dar.

Abb. 5: Immanuel Tremmelius: Syrische Auslegung des Matthäusevangeliums mit hebräischen Drucktypen, Genf 1569.

Richtet man den Blick auf die rund 200 Handschriften in der Bibliotheca Gerhardina, so fällt auf, dass der Prozentanteil der Orientalia mit nahezu 20 Bänden erheblich höher ist: fast zehn Prozent gegenüber knapp einem halben Prozent. Zudem ist die Vielfalt deutlich größer. Neben Koransuren und -kommentaren kommen beispielsweise Gebete, Gedichte, Rechtstexte und ein Fürstenspiegel in Arabisch, Erzählungen und medizinische Texte in Türkisch sowie eine Königschronik und ein Rätselbuch in Persisch vor. Die Hälfte der Werke stammte aus der Bibliothek Daniel Schwenters (1585–1636; Abb. 6). Schwenter war Professor für die arabische Sprache und verstarb 1636. Wie der Zufall es wollte, studierte Gerhard Anfang der 1640er Jahre an Schwenters letzter Wirkungsstätte in Altdorf bei Nürnberg, als die Handschriften käuflich zu erwerben waren. Wie Schwenter selbst zu seinen Lebzeiten an diese Handschriften gekommen war, liegt weitgehend im Dunkeln. In Altdorf, wo Gerhard begann, Äthiopisch zu lernen, hatte er zudem Zugang zu einem Gebetbuch mit apotropäischen Texten in dieser Sprache in der Universitätsbibliothek. Er fertigte davon eine Abschrift an. In späteren Jahren erhielt Gerhard aufgrund seiner Bekanntheit als Orientalist drei Handschriften als Geschenke. Dazu zählen zwei arabische Bände, die der Ödenburger Jurist István Vitnyédy (1612–1670) nach der Belagerung und Plünderung von Pécs durch die Habsburger 1664 erhalten hatte, sowie ein Pilgerandenken in Arabisch, das in den Besitz des ebenfalls in Ödenburg (heute Sopron) wirkenden Pfarrers und Hofpredigers Matthias Lang (1624–1682) gelangt war. Diese Beispiele machen deutlich, dass noch weit ins 17. Jahrhundert hinein günstige Zufälle eine bedeutende Rolle beim Sammeln von orientalischen Handschriften im deutschen Reich spielten, da es im Unterschied zu Holland, England und Italien keine starken Handelsverbindungen zum Nahen Osten gab. Der damalige Markt ließ somit einen systematischen Erwerb von Orientalia kaum zu.

Abb. 6: Lucas Kilian: Porträt von Daniel Schwenter, 1623.

Für die Verhältnisse seiner Zeit und des Umfelds, in dem er wirkte, baute Johann Ernst Gerhard über drei Jahrzehnte eine beachtliche Sammlung von Drucken und Handschriften für seine orientalischen Studien auf. Die wichtigsten Drucke, die er erwerben konnte, wurden in Metropolen außerhalb des Reichs produziert. Sie entstanden in mehreren Fällen durch Geflüchtete aus dem Nahen Osten und Nordafrika, die ihr Wissen nach Europa brachten und durch Publikationen verbreiteten. Die Europäer, die Bücher in Sprachen wie Arabisch, Syrisch und Äthiopisch publizierten, vertraten verschiedene Kirchen des Christentums, darunter die katholische, lutherische, reformierte und anglikanische Kirche. Das Interesse an orientalischen Studien ist somit als ein transkonfessionelles Phänomen zu verstehen. Durch Gelehrtennetzwerke, Handel, Missionen und Krieg gelangten orientalische Handschriften ebenfalls in den Umlauf. Dennoch blieben sie zu Gerhards Zeit so rar, dass sie noch selten in Antiquariaten und Auktionshäusern zu erwerben waren. Die Handschriftensammlung des Jenaer Theologen und Orientalisten Johann Ernst Gerhard kam vielmehr durch das väterliche Erbe, vereinzelte Kaufmöglichkeiten, die Anfertigung von Abschriften und Geschenke zustande. Die Zusammenstellung der orientalischen Sammlungen in anderen mitteleuropäischen Gelehrtenbibliotheken des 17. Jahrhunderts war mit Ausnahme der heiligen Schriften ebenfalls weitgehend willkürlich.

Daniel Gehrt

Dr. Daniel Gehrt ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Die englische Version finden Sie hier.

Quellen

Literatur

  • Paul Babinski: The Formation of German Islamic Manuscript Collections in the Seventeenth Century, in: Sabine Mangold-Will, Christoph Rauch und Siegfried Schmitt (Hrsg.): Sammler – Bibliothekare – Forscher. Zur Geschichte der orientalischen Sammlungen an der Staatsbibliothek zu Berlin. Frankfurt am Main 2022, S. 19–44.
  • Paul Babinski, Jan Loop und Asaph Ben-Tov (Hrsg.): The Turkish Wars and the Study of Islam in Early Modern Europe. Sonderausgabe des Journals: Erudition and the Republic of Letters 9/3 (2024).
  • Lutz Berger: Zur Problematik der späten Einführung des Buchdrucks in der islamischen Welt, in: Ulrich Marzolph (Hrsg.): Das gedruckte Buch im Vorderen Orient. Dortmund 2002, S. 15–28.
  • Daniel Gehrt und Hendrikje Carius (Hrsg.): Katalog der Handschriften aus den Nachlässen der Theologen Johann Gerhard (1582–1637) und Johann Ernst Gerhard (1621–1668). Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft. Wiesbaden 2016, bes. S. 502–520.
  • Feras Krimsti (Hrsg.): Der Orient in Gotha. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein vom 8. September bis 3. November 2024. Gotha 2024, insbes. die Einführung des Herausgebers und die Beiträge von Hendrikje Carius (Nr. 3), Daniel Haas (Nr. 12), Stefan Hanß (Nr. 2) und Christoph Rauch (Nr. 28).
  • Johann Anselm Steiger (Hrsg.): Bibliotheca Gerhardina. Rekonstruktion der Gelehrten- und Leihbibliothek Johann Gerhards (1582–1637) und seines Sohnes Johann Ernst Gerhard (1621–1668), 2 Teilbände. Stuttgart-Bad Cannstatt 2002.
  • Asaph Ben-Tov: Johann Zechendorff (1580–1662) and Arabic Studies at Zwickau’s Latin School, in: Jan Loop, Alastair Hammilton und Charles Burnett (Hrsg.): The Teaching and Learning of Arabic in Early Modern Europe. Leiden/Boston 2017, S. 57–92.
  • Asaph Ben-Tov: Johann Ernst Gerhard (1621–1668). The Life and Work of Seventeenth-Century Orientalist. Leiden/Boston 2021.

Web

Abbildungsnachweis

  1. Christian Romstet: Porträt von Johann Ernst Gerhard, 1668. Kupferstich. FB Gotha, LP E 8° III, 18 (23), vor dem Titelblatt.
  2. Geographische Visualisierung der Druckorte orientalischer Texte in der Bibliotheca Gerhardina. Erstellt mit Hilfe von Nodegoat. Map data ©2024 Google.
  3. Porträt von Thomas Erpenius, 1625. Kupferstich. Reijksmuseum Amsterdam, RP-P-1906-1568 (CC0).
  4. Anfangsseite des Markusevangeliums in der äthiopischen Übersetzung des Neuen Testaments, Rom 1548. © Ketterer Kunst GmbH und Co. KG. Link (Zugriff: 29.10.2024)
  5. Immanuel Tremmelius: Syrische Auslegung des Matthäusevangeliums mit hebräischen Drucktypen, Genf 1569. FB Gotha, Theol 2° 4/1, S. 2.
  6. Lucas Kilian: Porträt von Daniel Schwenter, 1623. Kupferstich. FB Gotha, Illf X 4° 208 (2), fol. (:) 8v.
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