Neuerscheinung
Friedrich Brecklings „Wahrheitszeugen“
Seit zwei Jahrzehnten genießt die Forschung zum lutherischen Nonkonformisten und mystischen Spiritualisten Friedrich Breckling (1629–1712) Hochkonjunktur. Dafür gab der Hamburger Professor Anselm Steiger 2005 mit einer Edition von Brecklings Autobiographie in den Handschriftensammlungen der Forschungsbibliothek Gotha (Chart. A 310, S. 5–24) einen entscheidenden Anstoß. Nun hat Guido Naschert, ehemaliger Mitarbeiter am Forschungszentrum Gotha, im Rahmen eines DFG-Projekts und eines Herzog-Ernst-Stipendiums der Fritz Thyssen Stiftung zwei weitere aufschlussreiche Verzeichnisse aus Brecklings Nachlass herausgegeben: einen alphabetisch nach deutschen, niederländischen und skandinavischen Städten und Gebieten geordneten Katalog von nahezu 1.100 zeitgenössischen „Wahrheitszeugen“ (Chart. B 962, Bl. 2r–19v) und eine Bibliographie von rund 2.000 Titeln aus dem 16. und 17. Jahrhundert, deren Autoren Breckling ebenfalls zu den „Wahrheitszeugen“ zählte (Chart. A 310, S. 325–371). Zugleich stellt die Neuerscheinung in der Reihe „Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit“ (Abb. 1) mit einer ersten Auswertung des Netzwerks des Dissidenten, verschiedenen Anhängen und geographischen Visualisierungen eine hilfreiche Grundlage für künftige Forschungen zu Breckling und zu frühpietistischen Netzwerken Ende des 17. Jahrhunderts dar.
Friedrich Breckling wurde am 5. Februar 1629 als lutherischer Pfarrerssohn in Handewitt geboren, einem Dorf in der Nähe von Flensburg. (Abb. 2). Sein Bildungsweg führte ihn nach Flensburg, Lübeck, Rostock, Helmstedt, Wittenberg, Leipzig, Jena und Gießen. Er unternahm später Reisen an den Niederrhein und in die Niederlande und wandte sich zunehmend einer mystischen Theologie hin. 1657 wurde er Feldprediger in Diensten des dänischen Königs und 1659 Pfarrer in Handewitt. Er geriet jedoch sogleich in Konflikt mit seinen Kollegen, so dass er den Ort bald verlassen musste. Nach kurzem Aufenthalt bei Jan Amos Comenius (1592–1670) in Amsterdam erhielt er Ende 1660 ein Pfarramt in Zwolle, wo sein Haus zum Treffpunkt von Dissidenten wurde. 1667 spaltete seine Ehe mit der Ekstatikerin Elisabeth Kruse die Gemeinde und er wurde gezwungen, sein Amt niederzulegen. 1672 übersiedelte er mit seiner Familie nach Amsterdam und 1690 nach Den Haag. In den folgenden Jahren wandte er sich von radikaleren heterodoxen Strömungen ab. Breckling starb 1711 mit 82 Jahren in Den Haag.
Friedrich Breckling hatte das nunmehr edierte, topographisch geordnete Verzeichnis von „Wahrheitszeugen“ in der letzten Phase seines Lebens erstellt. Es ist eine von mehreren Vorarbeiten zu einer geplanten, aber nie vollendeten Veröffentlichung. Das Konzept der „Wahrheitszeugen“ galt lange als zentrale apologetische Argumentationsfigur der protestantischen Geschichtschreibung, um Kritik an den Neuerungen der Reformationen und dem damit verbundenen Bruch mit der etablierten Kirche entgegenzuwirken. Dabei wurde eine Kontinuitätslinie in das Narrativ des Kirchenverfalls eingeflochten, in der sich das „wahre Christentum“ von der apostolischen Zeit bis in die Gegenwart hinein durch einzelne Personen mit unterschiedlicher Nähe zur römisch-katholischen Kirche erhalten haben soll. Breckling setzte diese Tradition fort, wobei er Zeitgenossen wählte, die Kritik auch gegen die lutherischen und reformierten Kircheninstitutionen richteten. Für Gotha nannte er zum Beispiel Geistliche und Gymnasiallehrer, die den Pietisten August Hermann Francke (1663–1727) geistig nahestanden (Abb. 3). Sie organisierten Bibelkonventikel und heimliche Erbauungstunden in der Residenzstadt und übten vehemente Kritik am Besuch der Wirtshäuser sowie am Tanzen und an weltlicher Musik aus.
Der Katalog der Wahrheitszeugen lässt auch Schlüsse über die Netzwerke von Friedrich Breckling und anderen religiösen Nonkonformisten der Zeit zu. Durch seine Edition und erste Auswertung des Katalogs legt Naschert den Grundstein zu weiteren Analysen dieser dynamischen Verflechtungen des religiösen Aufbruchs in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Darauf baut bereits das neue, an der Universität Hamburg angesiedelte DFG-Projekt zu Friedrich Brecklings Bibliothek als Knotenpunkt der Verbreitung dissidenten Schrifttums auf. Auch für dieses Vorhaben sind die Quellenbestände der Forschungsbibliothek Gotha unerlässlich, geben doch die rund 200 Briefe von und an Breckling in der Handschrift Chart. B 198 aufschlussreiche Hinweise auf die Entstehung und rege Benutzung dieser Sammlung ausgewählter Bücher.
Verlagsinformation: Franz Steiner Verlag
Daniel Gehrt
Dr. Daniel Gehrt ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.
Quellen
- Friedrich Breckling: Autobiographie. Ein frühneuzeitliches Ego-Dokument im Spannungsfeld von Spiritualismus, radikalem Pietismus und Theosophie, hrsg. von Johann Anselm Steiger. Tübingen 2005.
- Guido Naschert: Friedrich Brecklings ‚Wahrheitszeugen‘. Ein Handbuch zum religiösen Nonkonformismus um 1700. Stuttgart 2024.
- Volldigitalistat des Handschriftenbands mit Briefen von und an Friedrich Breckling. FB Gotha, Chart. B 198. URL: https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00030158
Literatur
- Katalog der Handschriften aus dem Nachlass Ernst Salomon Cyprians (1673–1745). Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft sowie aus den Beständen des Landesarchivs Thüringen – Staatsarchiv Gotha und der Evangelisch-Lutherischen Kirchengemeinde Gotha, Augustinerkloster, beschrieben von Daniel Gehrt. Wiesbaden 2021.
- Brigitte Klosterberg und Guido Naschert (Hrsg.): Friedrich Breckling (1629–1711). Prediger, „Wahrheitsezuge“ und Vermittler des Pietismus im niederländischen Exil. Halle 2011.
- Miriam Rieger: Eine pietistische Ausbildungsstätte? Der Streit um das Gymnasium Illustre um 1700, in: Sascha Salatowsky (Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 89–95. Volldigitalisat: https://www.db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00052854/B-03710-49.pdf
Web
- Beschreibung des aktuellen DFG-Projekts zur Erforschung von Brecklings Bibliothek. URL: https://gepris.dfg.de/gepris/projekt/522727050?context=projekt&task=showDetail&id=522727050&
- Erschließungsergebnisse zu Brecklings Nachlass und Korrespondenz im Verbundkatalog Kalliope. URL: https://kalliope-verbund.info
Abbildungsnachweis
- Neuerscheinung in der Reihe „Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit“. Foto von Daniel Gehrt
- Andreas Luppius: Porträt von Friedrich Breckling, 1692. Kupferstich in: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Inv.-Nr. A 2775 (CC BY-SA). URL: https://www.portraitindex.de/documents/obj/34005379
- Friedrich Breckling: „Wahrheitszeugen“ in Gotha, [Mitte der 1690er Jahre]. Forschungsbibliothek Gotha, Chart. B 962, Bl. 5r.