Andreas Reyher und die Expansion des Schulwissens

/ Mai 7, 2015

Reyer_Anweisung

Andreas Reyher: Kurtze und einfälltige Anweisung, welcher nach die zarte Jugend zu den Mathematischen Künsten und Wissenschafften anzuführen. Gotha, 2. September 1662. FB Gotha, Gym 10, Bl. 364r-370v. © Universität Erfurt, Forschungsbibliothek Gotha. Zum Link für das Digitalisat auf das Bild klicken.

Andreas Reyher (1601-1673) war neben seinem Amt als Rektor des Gothaer Gymnasiums (seit 1641) der wichtigste bildungspolitische Berater Herzog Ernst des Frommen. Als Verfasser von Lehrbüchern, Lehrplänen, didaktischen Anleitungen und Gutachten hatte er stets das gesamte Territorium im Blick, dessen engere Grenzen er gleichzeitig mit einem großen Korrespondenznetz und einem wachen Blick für die Neuerungen fast aller Wissensgebiete überschritt. Seit der Mitte der 1650er Jahre war er maßgeblich daran beteiligt, Wissensbestände, die bislang den Oberklassen der Gymnasien und den Universitäten vorbehalten waren, auch für die Niederen Schulen in Städten und Dörfern und damit für die Masse der Untertanen in Gestalt elementarisierender Kompendien und Unterrichtspläne zugänglich zu machen. Ein erster Höhepunkt dieser Bemühungen war der erstmals 1657 erschienene „Kurtze Unterricht : I. Von Natürlichen Dingen. II. Von etlichen nützlichen Wissenschafften“, dem ersten natur- und realienkundlichen Lehrbuch für Elementarschulen in der mitteleuropäischen Bildungsgeschichte, in dem sich aber auch Abschnitte zu Verwaltungsaufbau und Behörden des Herzogtums finden. Die Mathematik wurden von diesem Kompendium nicht berücksichtigt, wohl deshalb, weil Reyher 1644 ein eigenes Lehrbuch „Arithmetica Oder Rechen-Büchlein“ vorgelegt hatte, das bereits in der Schulordnung von 1642 – dem berühmten Schul-Methodus – angekündigt worden war und bis zum Ende des 17. Jahrhunderts mehrere Auflagen erlebte. Es stellte den zeitgenössischen elementaren Rechenunterricht auf eine neue Grundlage und führte ihn wenigstens zum Teil aus seiner »Pariastellung […] neben den andern Schuldisziplinen« (Jänicke, S. 23) heraus.
Vor dem Hintergrund dieses alten Interesses Reyhers für die Aufwertung den Mathematikunterrichts wird verständlich, warum die hier gezeigte didaktische Anweisung aus dem Jahr 1662 ungeachtet des Titels weniger das Rechnen, sondern vielmehr eine andere Wissenschaft im Blick hat: die Astronomie. Im Unterschied zur Mathematik, die Kindern mit einfachen Mitteln spielerisch und ausgehend von ihrer Lebenswelt vermittelt werden sollte, ist die Astronomie auf Instrumente und Modelle angewiesen, die natürlich nicht jedem Schulmeister zur Verfügung standen. Reyhers Ziel war zunächst eine anschauliche, an sichtbaren Phänomenen ausgerichtete und damit für die Kinder in den Elementarschulen fassbare Unterweisung. Geeignete Unterrichtsgegenstände waren beispielsweise der unterschiedliche Stand der Sonne im Sommer und im Winter, deren Einfluss auf die Länge des Tages, sowie die Erklärung der Fixsterne und Planeten. »Wenn man die Ephemerides bey der Hand hat kan man aus denselben auf alle Tag auch erfahren, wo ein ieglicher Planet in dem Thierkreiß oder Zodiaco sich enthält, und wenn die Zeichen auf Brieflein gemacht, und auf den Globum mit Wachs angeklebet werden, kann man auch also bald die gegend am Himmel anzeigen, wo ein ieder Planet seinen Stand hält, entweder ober- od[er] unter der erden« (Bl. 369r).Bemerkenswert ist Reyhers Konzept nicht nur aufgrund dieser praktischen Empfehlungen, sondern auch, weil er die hoch aktuelle Auseinandersetzung zwischen geozentrischem und heliozentrischem Weltbild der ›zarte Jugend‹ keineswegs vorenthält. Er plädiert hierbei zunächst für eine Veranschaulichung aller bekannten »dispositiones Orbium Coelestium« nach Aristoteles und Ptolemäus, nach Tycho Brahe sowie nach Copernicus und Kepler »auf einem dazu sonderlich zugerichtete[n] grosse[n] Tuch« (Bl. 369v). Reyher lässt freilich keinen Zweifel daran, welches Weltbild er mittlerweile für zutreffend erachtet. Das solle auch unmissverständlich deutlich gemacht werden: »Bey der letztern wird gemeldt, daß vorgeben werde, ob bewegte sich die Erde, und stünde der Himmel still.« Die Kinder sollten von der Unsinnigkeit der Annahme, der Himmel bewege sich, überzeugt werden. »Item Weil diese […] disposition des Copernicj viel leichter zu fassen, indem sie die […] widerwärtige Bewegungen des Himmels aufhebet, welche sonsten durch Epicyclos majores und minores müssen entschuldiget werden: als wohl zu wünschen, daß man eine solche Sphaeram auch bey der Hand hätte, und die Bewegung der Erde umb die Sonne dadurch gewiesen werden könnte« (Bl. 370r). Reyher hat diese Anweisung wohl nicht in erster Linie aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl des Herzogs verfasst. Darauf verweist eine Passage am Schluss des Textes, in dem er weitere Überlegungen in Aussicht stellt, wenn »ein mehrers auf gnädigsten Befehl begehret« werden sollte. Erst nach Sichtung des umfangreichen Nachlasses Reyhers in der Forschungsbibliothek Gotha und der dort sowie in den Gothaer Archiven und nicht zuletzt in der Kunstkammer des Schlosses Friedenstein verwahrten großen bildungsgeschichtlichen Sammlungen wird es möglich sein, die Frage zu beantworten, wer für diese enorme Expansion des Schulwissens in der Mitte des 17. Jahrhunderts verantwortlich war und was davon tatsächlich in den Schulen angekommen ist. Die Ausstellung „Himmelsspektakel: Astronomie im Protestantismus der Frühen Neuzeit“ beleuchtet erstmals die große Bedeutung Mitteldeutschlands für die Verbreitung neuen astronomischen Wissens im 16. und 17. Jahrhundert, zu der Andreas Reyher und die vom ihm maßgeblich gestalteten Gothaer Schulreformen wesentlich beitrugen.
(Text: Thomas Töpfer)

Literatur

Eduard Jänicke: Geschichte und Methodik des Rechenunterrichts. In: Geschichte des Unterrichts in den mathematischen Lehrfächern in der Volksschule, bearb. v. E. Jänicke und G. Schurig (= Geschichte der Methodik des deutschen Rechenunterrichtes, Bd. 3). Gotha 1888, S. 1-180.
Manfred Weidauer: Andreas Reyher (1601-1673) Rechenbuchautor und Reformpädagoge. In: Rainer Gebhardt (Hg.): Rechenbücher und mathematische Texte der frühen Neuzeit. Annaberg-Buchholz 1999, S. 323-330.
Leonhard Friedrich: Anbahnung wirtschaftlicher Kompetenz durch Schule. Schulversuche in Thüringen – Ende des 17., Mitte und Ende des 18. Jahrhunderts. In: Stefan Gerber u.a. (Hg.): Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Teil 1. Göttingen 2014, S. 15-50.

Share this Post