Großes Schaffen in sicherer Abgeschiedenheit. Luthers Bibelübersetzung

/ Oktober 31, 2020

Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 21

An diesem Reformationstag stellen sich Menschen erneut auf die sozialen und beruflichen Einschränkungen, ja zum Teil auch existenziellen Notlagen eines „Lockdowns“ ein. Vor 500 Jahren wurde der berühmte Wittenberger Reformator Martin Luther (1483–1546) ebenfalls zweimal aus Sicherheitsgründen mit mehrmonatigen Einschränkungen in seiner Bewegungsfreiheit und in seinen sozialen Kontakten konfrontiert. Diese Maßnahmen waren allerdings rechtlich und nicht medizinisch begründet. Die Zeit in Abgeschiedenheit tat ihm persönlich nicht gut. Er wurde depressiv. Zugleich nutzte er diese Auszeiten, um sein epochales Werk, die deutsche Bibelübersetzung voranzutreiben.

Die Bibel aus dem Hebräischen, Aramäischen und Griechischen in ein gebräuchliches, allgemeinverständliches und gleichwohl gutes Deutsch zu übersetzen, war für Luther nichts anders als eine Herkulesaufgabe. Nach dem Prinzip sola scriptura – allein auf der Grundlage der Heiligen Schrift – rückte die Bibel durch seinen reformatorischen Ansatz in den Mittelpunkt der christlichen Religion. Vor allem in den Predigten, in der Andachtspraxis und in Bildungsbereichen sollten biblische Inhalte und entsprechende Interpretationen vermittelt werden. So wurde es zum dringenden Anliegen des Theologieprofessors, die Bibel in die Volkssprache zu übersetzen. Heute wissen wir von 18 früheren deutschen Versionen anderer Übersetzer. Dennoch war Luthers Unterfangen bahnbrechend, da er nicht auf die Vulgata, die autoritative lateinische Übersetzung des frühchristlichen Kirchenvaters Hieronymus, sondern auf die Urfassungen in Hebräisch, Aramäisch und Griechisch zurückgriff. Zudem genügte Luther im Gegensatz zu seinen Vorgängern eine rein wortwörtliche Übertragung nicht. Vielmehr strebte er danach, den Sinn der Texte nach dem zeitgemäßen Sprachgebrauch wiederzugeben. Somit ist das Endergebnis auch als eine Luther’sche Bibelauslegung zu verstehen.

Abb. 1: Das schlichte Titelblatt des berühmten Septembertestaments ohne Namensnennung Luthers. Wittenberg 1520. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)

Den ersten Teil dieses Mammutprojekts, die Übersetzung des Neuen Testaments aus dem Griechischen, verwirklichte Luther in Rekordzeit. Nur zehn Wochen hat er dafür benötigt. Diese Glanzleistung war unter anderem dadurch möglich, dass er in dieser Zeit in Abgeschiedenheit auf der Wartburg lebte. Nach dem Reichstag zu Worms im Jahr 1521, wo Luther seine Schriften verteidigte, war der gebannte und somit im Zustand völliger Rechts- und Schutzlosigkeit befindliche Theologe heimlich dorthin in Sicherheit gebracht geworden. Zwar verfasste Luther weiterhin zahlreiche Flugschriften und zentrale theologische Werke, hatte aber nicht seine Aufgaben und Verpflichtungen als Universitätsprofessor und Prediger wahrzunehmen. Auch die ersten fünf Bücher des Alten Testaments übersetzte Luther rasant aus dem Hebräischen. Um die übrigen Bücher ab 1522 neben seinen Amtstätigkeiten in Wittenberg zu übersetzen, brauchte er allerdings elf Jahre. Er konnte das Vorhaben 1530 stark vorantreiben, als er wieder gezwungen wurde, monatelang in großer Abgeschiedenheit zu leben. Diesmal weilte er auf der Veste Coburg, dem südlichsten Schutzpunkt der sächsischen Kurfürsten. In Sicherheit konnte er von dort aus durch Briefverkehr die Religionsverhandlungen auf dem Reichstag zu Augsburg verfolgen und dem protestantischen Wortführer Philipp Melanchthon (1497–1560) sowie dem Kurfürsten Johann von Sachsen (1468–1532) beratend zur Seite stehen.

Abb. 2: Abbildung aus Luthers Übersetzungsmanuskript zum Propheten Jeremias. [s.l. = Veste Coburg, 1530. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)

Auf der Veste Coburg widmete sich Luther unter anderem den großen Propheten, darunter Jeremia. Das eigenhändige Druckmanuskript befindet sich heute in der Forschungsbibliothek Gotha (Chart. B 142). Die mehr als 80 Blätter umfassende Handschrift stellt knapp 15 Prozent der erhaltenen Manuskripte dar. Vom Neuen Testament ist keine Zeile von Luthers Hand überliefert. Teile anderer alttestamentarischer Bücher sind heute zerstreut in verschiedenen Archiven und historischen Bibliotheken in Deutschland, Polen und Dänemark aufbewahrt. Diese Dokumente gewähren einen einzigartigen Einblick in den Übersetzungsprozess mit den unendlichen damit verbundenen Erwägungen, denn viele, einschließlich des Jeremia-Bands, enthalten die letzten Korrekturen, Änderungen in Wortwahl und umgestalteten Formulierungen vor der Einreichung beim Drucker.

Die Jeremia-Handschrift gehört zu den unikalen Spitzenstücken unter den außerordentlich vielen Handschriften und Alten Drucken, die im 17. und 18. Jahrhundert in Gotha gesammelt wurden, um einerseits großangelegte editorische und historiographische Projekte zur Reformation zu verwirklichen und andererseits die Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein zu einem Gedächtnisspeicher der Reformation auszubauen. Dazu zählen beispielsweise auch die lateinische Fassung des Prager Manifests von Thomas Müntzer aus dem Jahr 1521 [https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00003891], das Chorbuch von Johann Walter für die Figuralmusik in der 1544 von Luther geweihten Kapelle im Schloss Hartenfels in Torgau [https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/receive/ufb_cbu_00003521] sowie die Originalfassung einer der frühesten historischen Darstellungen der Reformation [https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00005087] und die mit zahllosen Notizen und Anmerkungen versehene Handbibel dessen Verfassers, Friedrich Myconius [https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00003888]. Wurden auch nicht alle ambitionierten Projekte im Auftrag der Herzöge von Sachsen-Gotha-Altenburg – teilweise wegen der enormen tagtäglichen Arbeitslast der entsprechenden Gelehrten – vollendet, so ist dennoch ein umfassendes, europäisch ausgerichtetes Reservoir von Wissen zur Reformationsgeschichte entstanden, das stets aktiviert werden kann – wenn die Zeit dazu vorhanden ist.

Verfasser: Dr. Daniel Gehrt, 30.10.2020

Literatur:
Michael Beyer: Der Prophet Jeremia in deutscher Sprache, in: Daniel Gehrt und Sascha Salatowsky (Hrsg.): Aus erster Hand. 95 Porträts zur Reformationsgeschichte. Gotha 2014, S. 116f., Nr. 58.

Christine Ganslmayer: Luther als Bibelübersetzer. Neue sprachwissenschaftliche Perspektiven für die Luther-Forschung, in: Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 9 (2018), S. 55–105.

Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft (Die Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha 2), beschrieben von Daniel Gehrt. Wiesbaden 2015, S. 997.

Wartburg-Stiftung Eisenach (Hrsg.): „Dies Buch in aller Zunge, Hand und Hertzen“. 475 Jahre Lutherbibel. Regensburg 2009.

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