Bericht zur Tagung „Evangelische Kirchenbibliotheken. Desiderate und Perspektiven ihrer Erforschung“
Evangelische Kirchenbibliotheken gehören von allen historischen Bibliothekstypen zu den am schlechtesten erschlossenen und erforschten. Doch in den vergangenen Jahren hat die Kartierung der deutschen evangelischen Kirchenbibliothekslandschaft neuen Schwung aufgenommen. Projekte zur Sicherung, Online-Katalogisierung und Digitalisierung konnten in Kooperationen zwischen Wissenschaft, wissenschaftlichen Bibliotheken und den evangelischen Landeskirchen umgesetzt werden.
Mit der Tagung „Evangelische Kirchenbibliotheken. Desiderate und Perspektiven ihrer Erforschung“ sollte nun ein Überblick über die Forschungs- und Erschließungslage gewonnen, die Vernetzung der Forschenden befördert und zugleich zur Auseinandersetzung mit den archivalischen und bibliothekarischen Überlieferungen angeregt werden. Die Tagung wurde auf Initiative und unter Leitung von Prof. Dr. Thomas Fuchs (Universitätsbibliothek Leipzig), Dr. Kathrin Paasch (Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt), Prof. Dr. Christopher Spehr (Friedrich-Schiller-Universität Jena) zusammen mit dem Landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) sowie dem Freundeskreis der Forschungsbibliothek Gotha e.V. durchgeführt. Sie fand vom 13. bis zum 14. September 2021 in der Gothaer Augustinerkirche statt.
In der einleitenden Sektion wurde zunächst das vielfältige Spektrum des Themenfeldes umrissen. Thomas Fuchs (Leipzig) skizzierte aus wissenschaftlich-bibliothekarischer Sicht die vorhandenen Defizite bezüglich der Aufstellung, Erhaltung, Erschließung und Zugänglichkeit vieler Bestände und formulierte Lösungshorizonte. Christopher Spehr (Jena) benannte aus kirchenhistorischer Perspektive das breite Spektrum an Forschungsfeldern. Dazu gehören Fragen nach der Gründung, der Funktion, dem Bestand, Umfang sowie der Frömmigkeitspraktiken in den jeweiligen Kirchengemeinden und Territorien.
In einem ersten Tagungsschwerpunkt beschäftigten sich zahlreiche Vorträge mit Fallbeispielen größerer Kirchenbibliotheken in Mittel- und Norddeutschland. Süddeutschland war mit der Konsistorialbibliothek Stuttgart vertreten. Gründung und Sammlungsgenese, Aufbewahrungsort sowie inhaltliche und zeitliche Schwerpunkte der Buchbestände kamen zur Sprache und ermöglichten einen Vergleich der Besonderheiten und Unterschiede.
So arbeitete Thomas Thibault Döring (Leipzig) für die Bibliothek der St. Annen-Kirche in Annaberg-Buchholz eine Hybridnutzung der Bibliothek für Kirche und Lateinschule sowie den Rat der Stadt heraus. Mit der virtuellen Rekonstruktion von Kirchenbibliotheken, die in anderen Sammlungen aufgegangenen sind, beschäftigten sich die Vorträge von Thorsten Henke (Hannover) und insbesondere Carsten Kottmann (Stuttgart), die dazu ältere Bibliothekskataloge und vorhandene Bucheinträge bzw. die Provenienzmerkmale untersucht haben. Dietrich Hakelberg (Gotha) zeigte am Beispiel der Oberkirchenbibliothek Arnstadt Nachnutzungs- und Präsentationsmöglichkeiten von Erschließungsdaten, die niederschwellige visuelle Zugänge zu Kirchenbibliotheken durch z.B. themen- oder gattungsspezifische sowie raum-zeitliche Visualisierungen bieten.
Iris Helbing (Meiningen) stellte den nicht untypischen Fall der Kirchenbibliothek Unserer lieben Frauen in Meiningen vor. Sie verfügt über umfangreiche historische Bestände, lagert jedoch unter schwierigen Bedingungen und ist noch völlig unerschlossen. Demgegenüber stellte Helmut Liersch (Goslar) ein Beispiel für die moderne Präsentation einer Kirchenbibliothek vor. Die Bibliothek der Marktkirche Goslar wird in Kürze im eigens errichteten Schaumagazin des örtlichen „Kulturmarktplatzes“ der Öffentlichkeit präsentiert und kann im benachbarten Stadtarchiv genutzt werden.
Allen Vorträgen zu Einzelbibliotheken gemein war die gründliche Beschäftigung mit der Bibliotheksgründung. Die Vorstellung der Sammlungsgenese zeigte oft die Integration größerer Nebensammlungen, z.B. aus übernommenen vorreformatorischen Klosterbibliotheken oder privaten Nachlässen. Die vorgestellten Bestände bestehen außerdem häufig zu einem erheblichen Teil aus Schenkungen der lokalen Bürgerschaft. Thorsten Henke arbeitete den Memorialcharakter der Schenkungen für die Stifter heraus, die in Hannover oft sogar ihre Wappen neben einer Widmung in die Bücher einzeichnen ließen.
Michael Ludscheidt (Erfurt) benannte als zweite Quelle Legate und umfangreiche Einzelgeschenke, durch die ganze Privatbibliotheken in die Sammlung kamen. Im Verlauf ihrer Existenz wurden solche Großgeschenke an die Ministerialbibliothek Erfurt erkennbar häufiger. Diese Beobachtung wiederholte sich auch in den Berichten anderer Bibliotheken, etwa in Emden. Ludscheidt und Carolyn Marschall (Emden) betonten außerdem, dass solche integrierten Nebensammlungen den Charakter von Kirchenbibliotheken oft stark beeinflussten, indem sie ganz neue Fachdisziplinen in die Bestände einbrachten.
Den zweiten Schwerpunkt der Tagung stellten einzelne Forschungsfragen dar. Mit dem Aufbewahrungsort der Kirchenbibliotheken und dem damit verbundenen Raumkonzept setzte sich Insa Christiane Hennen (Wittenberg) anhand der sogenannten Wittenberger Ordinandenstube auseinander. Dort wurden nicht nur auf eine Pfarrstelle berufene Universitätsabsolventen vor der Ordination geprüft, sondern auch Kirchenbibliothek und -archiv aufbewahrt und der gemeine Kasten verwaltet. Hennen wies nach, dass der Anbau an die Stadtkirche über der Sakristei 1569–1571 gezielt errichtet wurde, um Wittenberg als Zentralort des Luthertums gegen das konkurrierende Jena zu positionieren. Christoph Nonnast (Jena) widmete sich dörflichen Kleinbibliotheken. In über 60 dieser Kirchenbibliotheken in Nordthüringen wurden zumeist Bestände von 20-100 historischen Drucken festgestellt. Anhand des Vergleichs der Bestände, der Analyse der Büchereinträge und ergänzender Archivforschung ließ sich exemplarisch zeigen, welche Drucke in drei unterschiedlichen Territorien des Reichs auf obrigkeitliche Veranlassung angeschafft werden mussten.
Zwei Vorträge nahmen Perspektiven in den Blick, die im weiteren Zusammenhang mit dem Themenfeld Kirchenbibliotheken stehen. Daniel Bohnert (Duisburg-Essen) stellte die Wittenberger Ordinandenbücher vor, die in der oben genannten Ordinandenstube entstanden sind. In ihnen trugen sich sämtliche Ordinierten bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Ursprünglich als kurze Verwaltungsnotiz des Pfarrkirchenpersonals entstanden, wurden daraus schnell umfangreiche handschriftliche Vitae der Ordinierten selbst, die eine Quelle zur Herausbildung und zum Wandel des Selbstverständnisses lutherischer Pfarrer darstellen. William Theiss (Halle-Wittenberg/Princeton) widmete sich handschriftlichen Kirchenbüchern. Anhand von Verlustfällen verwies er auf den emotionalen Wert dieser Überlieferungen als Gedächtnis eines Dorfes und stellte verschiedene Formen zur Rekonstruktion dieser Werke bei Verlust vor.
Insgesamt zeigte die Tagung, dass die Erschließung der evangelischen Kirchenbibliotheken inzwischen Fahrt aufgenommen hat, sich die Situation bei der Sicherung und Erforschung der Bibliotheken als herausfordernd darstellt. Für die weitere Forschung kristallisierten sich Desiderate heraus, die Christopher Spehr abschließend zusammenfasste: Dies betrifft Untersuchungen zum Nutzerkreis der Kirchenbibliotheken und zur Art und Weise der Nutzung. Besondere Forschungspotentiale liegen in der kunst- und baugeschichtlichen Erforschung der Bibliotheken als Räume. Außerdem werden stärker als bisher vergleichende Arbeiten benötigt. Zwar liegen mittlerweile zahlreiche qualitätvolle Einzelbeschreibungen von evangelischen Kirchenbibliotheken vor. Doch erschließt sich die Individualität der einzelnen Bibliotheken letztlich erst in der komparativen Zusammenschau mit anderen.
Verfasser: Christoph Nonnast
Dies ist eine gekürzte Fassung des Tagungsberichts von Christoph Nonnast, der am 6. Dezember 2021 auf H-Soz-Kult veröffentlicht worden ist: https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-9187.
Zum Tagungsprogramm: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2021/06/tagung-evangelische-kirchenbibliotheken-desiderate-und-perspektiven-ihrer-erforschung/