Blog der Forschungsbibliothek Gotha https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2022/04/kanons-fuer-die-manteltasche-musikalische-stammbucheintraege/ Export date: Wed Jun 29 22:59:32 2022 / +0000 GMT |
Kanons für die Manteltasche: musikalische Stammbucheinträge![]() Stammbücher sind persönliche Erinnerungsbücher. Sie bezeugen Begegnungen des Stammbuchhalters mit Zeitgenossen, die sich aus freundschaftlicher Zuneigung oder auch nur aus Gefälligkeit zum Andenken eingeschrieben haben. Die Stammbuchsitte geht auf das Sammeln von Reformatoren-Autographen in gedruckten Büchern an der Universität Wittenberg seit der Mitte des 16. Jahrhunderts zurück und verbreitete sich rasch bis in die Niederlande und die Schweiz. Der Stammbucheintrag wurde zu einem Freundschaftsritual unter Gebildeten, das Adelige auf ihrer Kavalierstour, Studenten und Gelehrte auf einer Bildungsreise pflegten. Sentenzen oder persönliche Devisen entnahmen die Eintragenden häufig dem Kanon antiker Autoren. Sie waren der verbindende humanistische Hintergrund in den Freundschaftsbüchern, Philotheken oder Alba amicorum. ![]() Abb. 1: Gemaltes Portrait von Sethus Calvisius d.Ä. im Stammbuch von dessen Sohn Sethus Calvisius d.J. FB Gotha, Chart. B 1003, fol. 1v. Oft stehen ein Wahlspruch und eine Freundschaftsformel vor Ort, Datum und Unterschrift. Hinzu kamen illustrierend Wappen und Sinnbilder. Neben Bibelzitaten und Sprichworten wurde auch notierte Musik – häufig Rätselkanons – eingetragen. Mit einem Rätselkanon gab der Einschreibende dem Stammbuchhalter eine harte musikalische Nuss zu knacken und stellte dessen musiktheoretische Kenntnisse auf die Probe. Der so Bedachte musste beispielsweise die Kanonart bestimmen, Einsätze herausfinden, Stimmen ableiten oder diese richtig transponieren, um einen funktionierenden Kanon zu erhalten. Musikalische Stammbucheinträge sind eigenhändig vorgenommen und namentlich unterschrieben. Damit sind sie auch für die Identifizierung von Musikautographen von Bedeutung. Zwei Stammbücher aus der über 100 Bände zählenden Gothaer Stammbuchsammlung sind in der Ausstellung „Bücher bewegen“ zu sehen. In diesem Blogbeitrag werden sie an anderer Stelle aufgeschlagen, denn beide Stammbücher sind musikgeschichtlich verwoben. Zu den bedeutendsten Stammbüchern der Forschungsbibliothek Gotha gehört das Album des Quedlinburger Pfarrers Sethus Calvisius d.J. (1606–1663) mit der Signatur Chart. B 1003. Er war der Sohn des gleichnamigen, berühmten Leipziger Thomaskantors und Gelehrten Sethus Calvisius d.Ä. (1556–1615), dessen gemaltes Portrait im Stammbuch enthalten ist (Abb. 1). ![]() Abb. 2: Stammbucheintrag von Johann Hermann Schein für Sethus Calvisius d.J., Leipzig, 15. September 1630. FB Gotha, Chart. B 1003, fol. 161r. Die verwandtschaftliche Beziehung spielte sicher eine Rolle für etliche Einträge prominenter mitteldeutscher Komponisten. So trug sich Johann Hermann Schein (1586–1630), der Amtsnachfolger von Calvisius' Vater an St. Thomas, in dieses Stammbuch mit einem Kanon ein und würdigte dabei die Verdienste seines Vorgängers (Abb. 2). Der Dresdener Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585–1672) weilte im Gefolge des sächsischen Kurfürsten anlässlich des Fürstenkonvents in Leipzig, als er sich am 21. März 1631 einschrieb, enthielt sich aber eines Notentexts. Von Tobias Michael (1592–1657), Sohn des flämischen Komponisten und früheren Dresdener Hofkapellmeisters Rogier Michael, hatte Calvisius schon 1630 einen vierstimmigen Rätselkanon erhalten (Abb. 3). ![]() Abb. 3: Stammbucheintrag von Tobias Michael für Sethus Calvisius d.J., Nordgermersleben, 2. August 1630. FB Gotha, Chart. B 1003, fol. 200v–201r. Tobias Michael war seit 1619 Kapellmeister am Hof des Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen. In Sondershausen erlebte er die Zerstörung seiner Wirkungsstätte, der neuen Stadtkirche mit ihrer wertvollen Orgel im Stadtbrand von 1621, und die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges. ![]() Abb. 4: Stammbucheintrag von Tobias Michael für Johann Benedikt Carpzov II., Leipzig, 11. Oktober 1655. FB Gotha, Chart. B 1006. Im Jahr 1631 trat Tobias Michael die Nachfolge von Johann Hermann Schein im Leipziger Thomaskantorat an. 25 Jahre später schrieb er sich mit einem zweistimmigen Rätselkanon in das Stammbuch des jungen Leipziger Orientalisten und Theologen Johann Benedikt Carpzov II. (1639–1699) ein (Chart. B 1006; Abb. 4). ![]() Abb. 5: Stammbucheintrag von Gideon von Wangenheim für Johann Benedikt Carpzov II., Jena, 6. September 1656. FB Gotha, Chart. B 1006, fol. 170v–171r. Dietrich Hakelberg Literatur
Informationen zur Ausstellung finden Sie hier: https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha/bibliothek/aktuelles/bibliotheksjubilaeum/ausstellung Den Flyer zur Ausstellung finden Sie hier: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/Bilddatenbank/Veranstaltungen/Poster_Flyer/Flyer_Ausstellung_FBG_2022.pdf |
Post date: 2022-04-22 15:00:53 Post date GMT: 2022-04-22 13:00:53 Post modified date: 2022-04-22 16:40:58 Post modified date GMT: 2022-04-22 14:40:58 |
Export date: Wed Jun 29 22:59:32 2022 / +0000 GMT This page was exported from Blog der Forschungsbibliothek Gotha [ https://blog-fbg.uni-erfurt.de ] Export of Post and Page has been powered by [ Universal Post Manager ] plugin from www.ProfProjects.com |