Ein Bestsellerautor der Frühen Neuzeit – Der Gothaer Publizist und Verleger Rudolph Zacharias Becker (1752–1822)

/ September 13, 2022

Bestseller der Frühen Neuzeit

Was ist ein Bestseller? Als Bestseller gelten jene Produkte, vor allem aber Bücher, die sich überdurchschnittlich gut verkaufen. So definiert es der Duden und dementsprechend findet das Wort in der Alltagssprache Gebrauch, nur dass man gelegentlich von Kassenschlagern und Publikumserfolgen spricht. Aus dem 18. Jahrhundert sind uns einige Beispiele bekannt, die sich im Laufe der Zeit zu einem „Bestseller“ entwickelten. Romane wie Robinson Crusoe (Daniel Defoes, 1719), Gullivers Reisen (Jonathan Swift, 1726) und Die Leiden des jungen Werthers (Goethe, 1774) sind uns heute noch gut bekannt. Doch ein einstiger Verkaufserfolg garantiert keine Popularität heute: So zum Beispiel möchten wir uns nun einem Bestseller zuwenden, der heute in Vergessenheit geraten ist, obwohl er seit seiner Erstveröffentlichung 1788 über regionale Grenzen hinweg Verbreitung fand. Die Rede ist von dem Autor Rudolph Zacharias Becker, der mit seinem Noth- und Hülfsbüchlein einen Kassenschlager schuf.

Die Idee für ein Ratgeber-Büchlein

Rudolph Zacharias Becker, ein Publizist und Verleger in Gotha, kündigte 1783 in seiner eigenen Zeitung (Deutsche Zeitung für die Jugend und ihre Freunde)1Zur Zeitung Beckers siehe Siegert: Positiver Journalismus, passim. sein neues Buchprojekt an: Er möchte ein Büchlein schreiben, das sich an die Ungebildetsten und Ärmsten der Gesellschaft richtet. Das Noth- und Hülfsbüchlein soll als eine Art Ratgeber die Menschen „als Landmann und als Staatsbürger glücklich machen“,2Becker: Ankündigung des zweyten Theils, Sp. 650–651; vgl. auch Siegert: Erfinder der Publizität, S. 144. indem es praktische Kenntnisse für den Alltag vermittelt und zum allgemeinen Wohlbefinden beiträgt. Becker appellierte ohne Zweifel an die Mentalität der Menschen und wollte unter ihnen einen „Verbesserungstrieb“ anstoßen, der sich auf das „häusliche, gesellschaftliche und bürgerliche Leben“ auswirkte.3Becker: Ankündigung des zweyten Theils, Sp. 650–651; vgl. auch Siegert: Erfinder der Publizität, S. 144. Kurzgesagt: Becker wollte die Landbevölkerung aufklären, sodass wir ihn heute zu den Volksaufklärern Ende des 18. Jahrhunderts zählen.

Abb. 1: Titelblatt des Noth- und Hülfsbüchlein, FB Gotha, Sig.: Poes 8° 02228/10 01

Leiden und Freuden des Ortes Mildheim

Der Titel Noth- und Hülfsbüchlein macht den Charakter des Büchleins offensichtlich: Das Büchlein stellt eine Anleitung zur Selbsthilfe dar. Jedoch darf man sich dieses Büchlein nicht wie ein Nachschlagewerk vorstellen, zumindest nicht der Form nach. Wir finden keine alphabetische Auflistung von Begriffen samt ihren Bestimmungen vor. Vielmehr bettete Becker seine Ratschläge in eine fiktive Erzählung ein. Dafür ist der Schauplatz der Erzählung das Örtchen Mildheim, das recht beschaulich erscheint. In der Tat aber erzählt das Büchlein die Geschichte eines gebeutelten Ortes. „Unwetter“, „Unwissenheit“ und „Bosheit“ einzelner Menschen und weitere Gründe erschwerten das dortige Landleben.4Becker: Ankündigung des zweyten Theils, Sp. 650–651; vgl. auch Siegert: Erfinder der Publizität, S. 144 und Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 159. Diesem Unheil jedoch setzten die Bürger tatkräftig entgegen. Die fiktive Geschichte erzählt, dass einem „Feuer-Katechismus für Junge und Alte“ Folge geleistet wird.5Becker: Noth- und Hülfsbüchlein, S. 367–374. Dieser Katechismus, dieses Handbuch, erklärt die Prävention von Feuerausbrüchen beziehungsweise das angemessene Verhalten bei einem Brand. Aber auch andere Bereiche des Lebens werden mit Anleitungen versehen: so zum Beispiel das Verhalten bei Gewittern,6Becker: Noth- und Hülfsbüchlein, S. 375–380. oder auch „Was Bauersleute in Kriegsnoth, auch bey Streitigkeiten und Processen zu beobachten haben.“7Becker: Noth- und Hülfsbüchlein, S. 397–404. Selbst eine Belehrung über giftige Gartenkäuter fügte Becker hinzu.8Becker: Noth- und Hülfsbüchlein, S. 87–89.

Abb. 2: Der “Feuer-Katechismus für Junge und Alte”, in: Noth- und Hülfsbüchlein, S. 367

Die Vermarktung eines Büchleins

Im September 1785 schrieb Becker: rund 40 Personen hätten über 2000 Exemplare verbindlich vorbestellt (subskribiert). Er merkte an: „Daß sich noch keine größere Zahl von Subscribenten gefunden“ habe, sei dadurch begründet, dass er nicht mehr Werbung gemacht hat.9Becker: Noth- und Hülfsbüchlein S. 254; Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 148. Dies sollte sich in den nächsten Monaten entschieden ändern: Becker rührte die Werbetrommel kräftig. Er veröffentlichte Probekapitel, verschenkte ein gratis Exemplar bei Bestellungen von mindestens zwölf Büchern oder versprach die namentliche Nennung von Subskribenten in seiner Deutschen Zeitung, die 30 Exemplare und mehr vorbestellten: Der Markgraf von Anspach-Bayreuth bestellte 1500 Exemplare, die Freimaurerlogen insgesamt 1481, ein Buchhändler namens Korn 600, der Magistrat der Republik Danzig 425 und der Hauptmann von Wayrach in Anklam 360; diese Beispiele sind nur eine Auswahl von vielen.10Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 150. Die hohen Stückzahlen machen deutlich, dass das Buch von Landesherren gekauft wurde, um dann an die Landbevölkerung weitergegeben zu werden – mitunter kostenfrei.

Das Noth- und Hülfsbüchlein, ein Bestseller

Das noch unveröffentlichte Büchlein kam auf sagenhafte 28.000 Vorbestellungen, dementsprechend startete Becker die erste Auflage mit 30.000 Exemplaren.11Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 151. In der Forschung ist die Rede von der „größte[n] Buchsubskription des 18. Jahrhunderts“.12Siegert: Nachwort, S. 309. Nun, da das Büchlein veröffentlicht wurde, kommen weitere Faktoren hinzu, die die Verbreitung des Werkes beförderten. Ungefähr 50 Auflagen erschienen in den folgenden Jahrzehnten, unautorisierte Nachdrucke durch Dritte, diverse Übersetzung europäischer Sprachen (Übersetzungen „in die ungarische, böhmische, lettische, russische und dänische Sprache“).13Zitiert nach Becker: An die Freunde meiner Volksschriften, Sp. 1529; Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 151. Becker bezifferte 25 Jahre nach der Erstauflage die Verkaufszahlen seines Büchleins auf „nicht weniger als eine Million Exemplare“.14Becker: An die Freunde meiner Volksschriften, Sp. 1529; Siegert: Aufklärung und Volkslektüre, Sp. 871. 1895 wurde die Angabe ein wenig abgemildert: inklusive Übersetzungen käme man auf „nahezu einer Million Exemplaren“.15Burbach: Becker, S. 40; Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 183. Die neuere Forschung schätzt hingegen, dass es rund eine halbe Million deutschsprachige Ausgaben – also ohne Übersetzungen gerechnet – gegeben habe.16Siegert: Nachwort, S. 310; Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 151.

Es muss hinterfragt werden, ob Becker die Zahl der Drucke überblicken konnte: Gab es tatsächlich eine Million gedruckte Exemplare oder aber erscheint es nicht plausibler, dass es über eine Million Leser*innen waren? Wie viele Leute haben es zwar nicht selbst gelesen, aber an Schulen etc. vorgelesen bekommen? Es scheint, dass sich Fragen wie diese auch in Zukunft nicht genau beantworten lassen. Nichtsdestotrotz sprechen die Vorbestellungen, zahlreiche Neuauflagen, Raubkopien und Übersetzungen dafür, dass Becker einer der führenden Volksaufklärer seiner Zeit war und er ein Büchlein vorlegte, dass mit Sicherheit zu den meistverbreiteten weltlichen Büchern im Deutschland des 18. und frühen 19. Jahrhunderts gehört – und vielleicht sogar darüber hinaus.

Bestände & Forschung des Forschungscampus Gotha

Beckers publizistische und verlegerische Tätigkeiten sind bei weitem noch nicht erschöpfend erforscht, immerhin hat er nicht nur das Noth- und Hülfsbüchlein vorgelegt. Auch in Hinsicht auf seine Person als Intellektueller scheint sich Forschung zu lohnen, so zum Beispiel die Analyse seiner Verbindungen zum Illuminatenorden.17Die erste Forschungsleistung dazu ist Simons: Der Illuminatenorden als Volksaufklärer?, passim. Dass das Forschungsinteresse an Becker zunimmt, davon zeugt eine kürzlich durchgeführte internationale Konferenz am Forschungszentrum Gotha. Der 200. Todestag war Anlass, um Becker genauer in den Blick zu nehmen, und zwar nicht nur seine Werke, sondern das ganze Gefüge des Literaten und Gelehrten in Gotha, der Residenz des Fürstentums.18Petri: Becker und das intellektuelle Gotha.

Für die gegenwärtige Forschung zu Person und Werk Beckers bietet sich die Forschungsbibliothek Gotha an, schließlich finden sich hier einige seiner Werke, aber auch Teile aus seiner Briefkorrespondenz. Leider muss davon ausgegangen werden, dass uns heute nur ein kleiner Teil des ursprünglichen Konvoluts überliefert ist: Becker geriet 1811 in französische Gefangenschaft. Im Zuge dessen wurden laut Becker „über ein Centner an Gewicht“ seiner Korrespondenz und Aufzeichnungen („Brieffschaften und Papieren“) von den Gendarmen aus seinem Haus geschafft.19Becker: Leiden und Freuden, S. 49. Seither gelten sie in der Forschung als verloren20Kohl: Die Nationalzeitung der Deutschen, S. 27. bzw. vernichtet.21Freytag: Überlegungen zur Aufklärung, S. 17. Diese Geschichte, die der Verhaftung und der Gefangenschaft, ist aber eine andere aus dem Leben des Bestsellerautors.

Jan-Luca Albrecht

Jan-Luca Albrecht hat 2022 den Master „Geschichte transkulturell“ an der Universität Erfurt abgeschlossen und beginnt im Oktober ein wissenschaftliches Volontariat an der SLUB Dresden

Quellenverzeichnis

Literaturverzeichnis

  • Burbach, Friedrich: Rudolph Zacharias Becker: ein Beitrag zur Bildungsgeschichte unsres Volkes. Gotha 1895.
  • Freytag, Christine: „Mensch, werde und mache alles immer besser”. Überlegungen zur Aufklärung und Vervollkommnung des Menschen am Beispiel von Rudolph Zacharias Becker in der Zeit von 1779 bis 1794. Jena 2014.
  • Kohl, Marianne: Die Nationalzeitung der Deutschen 1784–1830. Leben und Werk des Publizisten R. Z. Becker. Brackenheim & Stuttgart 1936.
  • Petri, Kristina: Rudolph Zacharias Becker und das intellektuelle Gotha um 1800 [Veranstaltungs-ankündigung], in: H-Soz-Kult, 18.05.2022, https://www.hsozkult.de/event/id/event-118000.
  • Siegert, Reinhart: Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem ‚Noth- und Hülfsbüchlein‘. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema. Frankfurt am Main 1978 (erschienen als Bd. 19 in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Sp. 565–1348).
  • Siegert, Reinhart: Nachwort, in: Böning, Holger & Siegert, Reinhart (Hrsg.): Volksaufklärung. Ausgewählte Schriften. Bd. 8: Becker, Rudolph Zacharias: Versuch über die Aufklärung des Landmannes & Zerrenner, Heinrich Gottlieb: Volksaufklärung. Neudruck der Erstausgaben Dessau und Leipzig 1785 bzw. Magdeburg 1786. Mit einem Nachwort von Reinhart Siegert. Bad Cannstatt 2001, S. 289–321.
  • Siegert, Reinhart: Rudolph Zacharias Becker – der „Erfinder der Publizität“ und sein Einsatz für die Volksaufklärung, in: Holger Böning, Hanno Schmitt & Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Eine praktische Reformbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts. Bremen 2007, S. 141–161.
  • Siegert, Reinhart: Positiver Journalismus. Aufklärerische Öffentlichkeit im Zusammenspiel des Publizisten Rudolph Zacharias Becker mit seinem Korrespondenten, in: Hans-Wolf Jäger (Hrsg.): „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert. Göttingen 1997, S. 165–185.
  • Simons, Olaf: Der Illuminatenorden als Volksaufklärer? Rudolph Zacharias Becker und das scheiternde Projekt des Ordens als Preisausrichter, in: Aufklärung 28 (2016), S. 377–410.
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