Eine Schule höherer Bildung mit breiter Ausstrahlung

/ Februar 19, 2024

Das Gothaer Gymnasium und sein überregionales Einzugsgebiet in der Frühen Neuzeit

Die Gründung der Gothaer Lateinschule im ehemaligen Augustinerkloster (Abb. 1) jährt sich am 21. Dezember 2024 zum 500. Mal. Die Forschungsbibliothek Gotha präsentiert aus diesem Anlass eine Reihe von Blogbeiträgen. Sie beleuchten verschiedene Aspekte dieser bedeutenden Bildungseinrichtung in der Frühen Neuzeit. Denn die Bibliothek bewahrt seit Ende des Zweiten Weltkriegs einen beachtlichen Bestandteil der historischen Überlieferung zu dieser Schule. Frühneuzeitliche Bildungsgeschichte und Geschichte der Wissenskulturen gehören somit zu den Schwerpunkten und Forschungsgebieten, die die Bibliothek besonders unterstützt.

Abb. 1: Die Residenzstadt Gotha mit Gymnasium im Augustinerkloster (Nr. 13), ca. 1750.

Der Stellenwert der Lateinschule in Gotha lässt sich zum Teil an ihrem Einzugsgebiet ermessen. Während sich solche Räume für die meisten deutschen Gymnasien heutzutage lediglich auf eine Stadt mit angrenzendem Landkreis beschränken, genossen prominentere Lateinschulen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit häufig eine überregionale Ausstrahlung. Anhand zahlreicher überlieferter Mitschriften wissen wir zum Beispiel, dass im 14. und 15. Jahrhundert die Lateinschule in der Reichsstadt Ulm Schüler aus dem ganzen deutsch-schweizerischen Oberrheingebiet einschließlich Konstanz und Basel anzog. Teilweise kamen die Schüler auch aus nördlicheren Gebieten bis nach Frankfurt, Würzburg und Nürnberg. Das Einzugsgebiet der Schule war somit vergleichbar mit dem der kleinen Universität Basel im 16. Jahrhundert. Christian Daum (1612–1687), Rektor der seit Anfang des 16. Jahrhunderts florierenden Lateinschule in Zwickau, führte aus eigener Initiative zwischen 1662 und 1687 Buch über die Schüler an seinem Gymnasium. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass knapp zehn Prozent der Schüler aus Ortschaften stammten, die weiter als 20 km entfernt lagen. 1,5 Prozent aller Schüler legten mehr als 100 km zurück, um die Schule im Erzgebirge zu besuchen.

Für die ersten 120 Jahre ihres Bestehens ist die Überlieferung zur Gothaer Lateinschule, gemessen an ihrer Bedeutung, überraschend schmal. Aus dem 16. Jahrhundert ist nicht einmal ein Lehrplan erhalten. Dennoch ist aus verschiedenen Quellen bekannt, dass die Schule von Anfang an regionale und bald auch überregionale Ausstrahlung besaß. Friedrich Myconius (1490–1546), erster evangelischer Superintendent von Gotha und Gründervater der Einrichtung, schrieb 1527, dass „zu Gotha die peste kynderschul iczt ist, als yn doringen seyn mag“ (Koch 2011, S. 97). Martin Luther (1483–1546) soll Anfang der 1540er Jahre gesagt haben: „Wir […] haben Gott Lob, Universitäten, die Gottes Wort angenommen haben; so sind auch viel feiner Particularschulen, die sich wohl anlassen, als Zwickau, Torgau, Wittenberg, Gotha, Eisenach, Deventer etc., sind feine Particularschulen, schier gleich den Universitäten“ (WA TR 4, S. 530, Nr. 4809). Aus Myconius’ Korrespondenzen geht hervor, wie die sächsischen Kurfürsten die Gothaer Lateinschule besonders förderten und dass das Einzugsgebiet nicht nur die Residenzstadt selbst, sondern auch die Nachbarstädte Eisenach und Erfurt wie auch andere Teile der historischen Landschaft Thüringen umfasste. In einer Rede von 1593 erinnerte Johannes Dinckel (1545–1601), der 30 Jahren zuvor die Gothaer Lateinschule unter dem Rektorat von Cyriakus Lindemann (ca. 1516–1568) besucht hatte, an Mitschüler aus Mühlhausen, Erfurt, Arnstadt, Eisenach und Salzungen, aber auch aus weiter entfernten Gegenden. Als Rektor lernte er zwischen 1580 und 1582 Schüler aus verschiedenen Städten kennen, darunter Meißen, Eilenburg, Freiberg, Wittenberg, Frankfurt am Main und Koblenz sowie aus der schlesischen Stadt Schweidnitz (heute Świdnica) und der niederländischen Hansestadt Deventer.

Abb. 2: Matrikel des Gothaer Gymnasiums, seit 1646 mit der Selecta, 1641–1648.

Warum entschieden sich viele Schüler und ihre Eltern für Bildungsmöglichkeiten in der Ferne, auch wenn sich gute Lateinschulen in ihren Heimatstädten befanden? Wie an Universitäten wurde das Angebot an höherer Bildung an Lateinschulen von den jeweils vor Ort Lehrenden geprägt, so dass der Besuch mehrerer Schulen die Bildung in verschiedenen Bereichen merklich vertiefen und erweitern konnte. Wie Luther im oben angeführten Zitat zum Ausdruck brachte, überschnitt sich das Curriculum gut ausgestatteter Lateinschulen mit dem von Universitäten. Dies galt insbesondere für die freien Künste, die humanistischen Studien und – insbesondere im protestantischen Bildungsraum – die Theologie. Aus diesem Grund war es in der Frühen Neuzeit attraktiv, nicht nur mehrere Universitäten, sondern auch mehrere Lateinschulen zu besuchen. Der Zwickauer Stephan Roth (1492–1546), dessen Mitschriften aus seiner Schul- und Universitätszeit in der Ratsbibliothek Zwickau weitgehend überliefert sind, war zum Beispiel an der Lateinschule in seiner Heimatstadt und dann in Glauchau, Chemnitz und Dresden, bevor er an der Universität Leipzig immatrikuliert wurde. Der spätere Rektor der Gothaer Lateinschule, Andreas Wilke (1562–1631), besuchte die Schule in seinem Heimatsort Helmershausen sowie in Meiningen und Halberstadt, bis er 23 Jahre alt war. Erst dann ging er an eine Universität.

Nach der Gründung des Herzogtums Sachsen-Gotha 1640 durch Ernst I., genannt den Frommen, wurde die Überlieferung zur Gothaer Lateinschule deutlich dichter. Dies ist auf eine wesentliche Änderung in den administrativen Strukturen zurückzuführen. Die Schule unterstand nicht mehr unmittelbar dem Gothaer Stadtrat, sondern dem Konsistorium. Sie wurde somit im Behördenapparat des Herzogtums fest integriert und galt seitdem als Landesschule. Ab diesem Zeitpunkt wurde sie grundsätzlich nicht mehr als Schule, sondern als Gymnasium bezeichnet, wobei beide Begriffe seit Anfang des 17. Jahrhunderts austauschbar verwendet wurden. Die enge Einbindung im territorialen Behördenwesen ging mit einer intensiveren Kontrolle und Regulierung der Verhältnisse am Gymnasium einher, welche schriftlich verordnet und dokumentiert wurden. Die daraus hervorgehenden Akten wurden am Hof archiviert.

Abb. 3: Prüfungsergebnisse für die Klasse Selecta und Vermerke zu den Abgängern, 4. August 1698.

Eine der Neuerungen war die Einführung von Matrikelbüchern. Diejenigen aus dem Zeitraum zwischen 1641 und 1708 sind heute im Staatsarchiv Gotha (Gym. Ernest. 67–70) überliefert (Abb. 2). Die Protokolle der halbjährlichen Examina im Frühling und Herbst, die mit einigen Lücken von 1673 bis 1859 im Staatsarchiv (Gym. Ernest. 71–86) und in der Forschungsbibliothek (Gym. 106, 114–117) aufbewahrt sind, bieten ebenfalls Informationen darüber, wer zu welcher Zeit am Gymnasium war (Abb. 3). Solche Verzeichnisse wurden für die wenigsten Schulen in dieser frühen Zeit systematisch geführt. Entscheidend war die enge Verbindung zum Hof. So existieren Matrikelbücher beispielsweise auch für die kursächsischen Fürstenschulen in Meißen, Pforta und Grimma seit ihrer Gründung im Jahr 1543 bzw. 1550.

Abb. 4a: Landkarte mit den Herkunftsorten der Schüler des Gothaer Gymnasiums von 1653 bis 1882.

Die Gothaer Matrikelbücher vermitteln die Namen und häufig auch die Herkunftsorte der Schüler. Vor über hundert Jahren hat der Gothaer Gymnasialprofessor Max Schneider (1858–1920) mehr als 4.000 Personen in der obersten Klasse erfasst, die zwischen 1653 und 1882 ihre Studienzeit am Gymnasium beendeten bzw. als universitätsreif galten. In jüngerer Zeit erstellte der Gothaer Genealoge Heino Richard Biogramme dieser Schüler. Die Daten wurden in die von Olaf Simons am Forschungszentrum Gotha entwickelte Wikibase-Plattform „FactGrid“ importiert. In diesem Format können sie in einer beliebigen digitalen Forschungsumgebung genutzt und auswertet werden.

Abb. 4b: Landkarte mit den Herkunftsorten der Schüler des Gothaer Gymnasiums von 1653 bis 1882, Haupteinzugsgebiet

Durch eine von Simons erstellte Karte der Herkunftsorte der Schüler wird das Einzugsgebiet des Gothaer Gymnasiums ersichtlich (Abb. 4a). Die meisten Schüler stammten aus Gotha und Umgebung. Das Kerngebiet lässt sich durch die Gera mit Erfurt und Arnstadt im Osten, den Thüringer Wald im Süden, Sättelstädt halbwegs zwischen Gotha und Eisenach im Westen sowie durch Langensalza, Tennstedt und Staußfurt im Norden abstecken (Abb. 4b). Der nächste konzentrische Ring erstreckt sich bis zur Saale im Osten, zur Südseite des Thüringer Waldes, zur Werra im Westen und zum Harz im Norden. Die Karte zeigt, dass Schüler aus verschiedenen Teilen des Alten Reichs stammten, einschließlich aus Schlesien und dem heutigen Nordpolen, aber auch vereinzelt aus der Schweiz, den Niederlanden, Ungarn, Polen, den baltischen Ländern und Russland!

Allein solche Feststellungen machen deutlich, dass bei der Erforschung höherer Bildung in der Frühen Neuzeit der Blick nicht nur auf Universitäten, sondern auch auf Lateinschulen und Gymnasien zu richten ist.

Daniel Gehrt

Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Quellen

  • Johannes Dinckel: De M. Cyriaco Lindemanno, Scholae Gothanae quondam Praeceptore, Optimo, Doctissimo, Religiosissimoq́;, Oratio. …, Erfurt 1593 (VD16 ZV 4570), hier Bl. B4r–v. Volldigitalisat: https://opendata2.uni-halle.de/handle/1516514412012/7554
  • D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Abteilung Tischreden (WA TR), Bd. 4, Weimar 1916, S. 530, Nr. 4809.

Literatur

  • Ulrike Bodemann und Christoph Darbrowski: Handschriften der Ulmer Lateinschule. Überlieferungsbefund und Interpretationsansätze, in: Klaus Grubmüller (Hrsg.): Schulliteratur im späten Mittelalter. München 2000, S. 11–47, hier S. 32.
  • Linda Wenke Bönisch: Universitäten und Fürstenschulen zwischen Krieg und Frieden. Eine Matrikeluntersuchung zur mitteldeutschen Bildungslandschaft im konfessionellen Zeitalter (1563–1650), Berlin 2013.
  • Amy Nelson Burnett: Local Boys and Peripatetic Scholars. Theology Students in Basel, 1542–1642, in: Herman J. Selderhuis und Markus Wriedt (Hrsg.): Konfession, Migration und Elitenbildung. Leiden/Boston 2007, S. 109–139.
  • Daniel Gehrt: Die Anfänge des protestantischen Bildungssystems in Gotha, in: Sascha Salatowsky (Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 11–18. Open Access: https://www.db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00052854/B-03710-49.pdf
  • Daniel Gehrt: Beyond the Institution. Private Studies in the Theological Education of Lutheran Pastors and Scholars, in: Sascha Salatowsky und Joar Haga (Hrsg.): Frühneuzeitliches Luthertum. Interdisziplinäre Studien. Stuttgart 2022, S. 89–131.
  • Christoph Fasbender: “Colligi in Kempnicz“. Zum Erkenntniswert mitteldeutscher Schulhandschriften des Spätmittelalters für das Curriculum mitteldeutscher Lateinschulen, in: Rudolf Bentzinger und Meinolf Vielberg (Hrsg.): Wissenschaftliche Erziehung seit der Reformation. Vorbild Mitteldeutschland. Erfurt 2016, S. 63–83.
  • Gymnasium Ernestinum Gotha (Hrsg.): Die Abiturienten des Gymnasium Ernestinum Gotha seit 1524, Gotha 2014. Enthält u.a. Faksimiles von Max Schneiders grundlegenden Arbeiten.
  • Ernst Koch: Wohin mit den Mönchen? Eine unbekannte Quelle zur frühen Reformation in Gotha und in Westthüringen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 102 (2011), S. 87–102, hier S. 97 (Zitat von Myconius).
  • Regine Metzler: Der Nachlass Stephan Roths (1492–1546) in der Ratsschulbibliothek Zwickau (mit Anhang), in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte 81 (2010), S. 215–234.
  • Alan S. Ross: Daum’s Boys. Schools and the Republic of Letters in Early Modern Germany. Manchester 2015, bes. S. 123–144.
  • Max Schneider: Bestimmungen über den Abgang der Schüler des Goth. Gymnasiums zur Universität und über ein abzulegendes Abiturientenexamen seit 1653, in: Mitteillungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (ca. 1901), S. 7–13.
  • Katja Vogel: Die Elitenbildung in der „Fürstlichen Landschul“ unter Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha-Altenburg, in: Sascha Salatowsky und Joar Haga (Hrsg.): Frühneuzeitliches Luthertum. Interdisziplinäre Studien. Stuttgart 2022, S. 81–86.

Web

Abbildungsnachweis

  1. Ausschnitt aus: H. A. König und Matthias Seutter: Die Hochfürstliche Residentz Frieden Stein Und Hauptstadt Gotha …, Augsburg [ca. 1750]. FB Gotha, Goth 2° 29/6.
  2. Landesarchiv Thüringen – Staatsarchiv Gotha, Gym. Ernest. Nr. 67, S. 318.
  3. Forschungsbibliothek Gotha, Gym. 106, Bl. 81v–82r.
  4. Olaf Simons: FactGrid: Gymnasium Illustre/ Ernestinum, Gotha. Landkarte, wo wurden die Schüler geboren. URL: https://database.factgrid.de/query/embed.html#%23defaultView%3AMap%0ASELECT%20%3Fitem%20%3FitemLabel%20%3FitemDescription%20%3FOrt%20%3FOrtLabel%20%3FGeokoordinaten%20WHERE%20%7B%0A%20%20SERVICE%20wikibase%3Alabel%20%7B%20bd%3AserviceParam%20wikibase%3Alanguage%20%22%5BAUTO_LANGUAGE%5D%2Cen%22.%20%7D%0A%20%20%3Fitem%20wdt%3AP160%20wd%3AQ23295%3B%0A%20%20%20%20wdt%3AP82%20%3FOrt.%0A%20%20%3FOrt%20wdt%3AP48%20%3FGeokoordinaten.%0A%7D
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