“Ein geschickter und gelehrter Mensch”: Carolus Rali Dadichis Reise von Aleppo nach Gotha
Am 25. Juli 1718 hieß Gottfried Vockerodt (1665–1727), der Rektor des Gothaer Gymnasium illustre, einen ungewöhnlichen Gast willkommen. Der Mann war Mitte zwanzig, hatte schwarzes Haar und eine dunkle Gesichtsfarbe. Er behauptete, er sei ein griechisch-orthodoxer Christ aus Aleppo, Syrien, das damals eine östliche Provinz des Osmanischen Reichs war. Er nannte sich Carolus Rali Dadichi.
Dem Besucher waren Berichte über seine außerordentlichen sprachlichen Fähigkeiten vorausgeeilt. Er sei mit ungewöhnlichen Fähigkeiten in Arabisch, Syrisch, Hebräisch, Griechisch, Lateinisch, Italienisch, Französisch und „anderen Wißenschafften“ gesegnet. In ihm vereinten sich eine durchdringende Intelligenz und ein phänomenales Gedächtnis – er sei etwa in der Lage, aus der Erinnerung seitenweise griechische und lateinische Dichtung zu rezitieren. Kurzum, “ein geschickter und gelehrter Mensch”, wie der Professor der reformierten Universität Marburg Johann Caspar Santoroc (1682–1745) August Hermann Francke (1663–1727) in Halle schrieb.
Santoroc empfahl Francke, Dadichi anzustellen. Vielleicht könne er dem Professor und Aushängeschild des Halleschen Pietismus bei seiner Edition der Hebräischen Bibel zur Hand gehen. Francke ermutigte Dadichi nur zu gerne, zu ihm an die Saale zu kommen. Aber zunächst sandte er ihn nach Gotha, wo er bei Vockerodt unterkommen sollte, um die Bekanntschaft eines vielversprechenden Theologiestudenten Franckes zu machen. Der Student war Johann Heinrich Callenberg (1694–1760). Callenberg sollte Dadichi im Anschluss rechtzeitig zum Anfang des neuen Universitätssemesters nach Halle begleiten.
Wer war dieser „geschickte“ und „gelehrte“ Syrer?
Zweihundert Jahre später dachte der Bibliothekar Wolfram Suchier (1883–1964), dass er des Rätsels Lösung gefunden hatte. In seinem 1919 veröffentlichten Werk C. R. Dadichi oder wie sich deutsche Orientalisten von einem Schwindler düpieren ließen behauptete er, dass Dadichi überhaupt kein Syrer war. Vielmehr sei er ein „Schwindler“, ja „ein abgefeimter Betrüger“, gewesen, der Vockerodt, Santoroc, Francke und mehrere andere deutsche Gelehrte dazu brachte, an die erfundene Geschichte seiner nahöstlichen Herkunft zu glauben. Tatsächlich aber, so Suchier, sei der Mann, der nach Deutschland gekommen war und behauptet hatte, ein Arabisch sprechender Christ aus Aleppo zu sein, nur ein talentierter und heuchlerischer Franzose. „Carolus Dadichi“ sei in Wahrheit ein Mann aus Marseille namens „Charles d’Atichy“ gewesen, der seine Identität mit diesem Namen nur oberflächlich kaschiert habe.
Suchier täuschte sich fast in jeder Hinsicht. Womit er allerdings richtig lag, war das Gefühl, dass zumindest Teile von Dadichis Geschichte nicht recht zusammenzupassen schienen. Dadichi verbarg vor den Gelehrten in Deutschland nie, dass er ursprünglich nach Europa gekommen war, um in Paris mit den Jesuiten zu studieren. Er hatte sich eine Weile in Rom aufgehalten, wo er sich im Kreis von Kardinälen und sogar von Papst Clement XI. (1649–1721) bewegte. Er war dann in Genf zum reformierten Glauben übergetreten und hatte verschiedene reformierte und lutherische Städte und Universitäten besucht, wo er Arabisch lehrte und die Menschen, die er kennenlernte, mit seiner ungeheuren Gelehrsamkeit und seiner Vielsprachigkeit beeindruckte.
Die Tatsache allerdings, dass Dadichi sich selbst als „griechischen“ Christen bezeichnete, verschleierte die wahre Geschichte seiner Kindheit in Aleppo. Er war nämlich als Maronit aufgewachsen und Maroniten waren im Grunde Katholiken. Dadichis fantasievolle Zusammenstellung seiner Hintergrundgeschichte scheint ein Versuch gewesen zu sein, sich als eine Art „protestantischen“ Ostchristen neu zu erfinden, als er im protestantischen Europa seine Karriere begann.
In Gotha jedenfalls machte sich Dadichi sofort ans Werk. Callenberg hatte scheinbar über die Sommerferien ein paar Schüler angenommen. Dadichi begann, sie in der richtigen Aussprache der arabischen Buchstaben zu unterweisen. Gegen Ende August lernten „einige Schüler“ bei Dadichi an drei Tagen in der Woche Arabisch. Für seine Mühen bezahlte ihm Vockerodt drei Taler.
Dadichi half Callenberg auch bei seinem eigenen Arabischstudium. Callenberg hatte bereits von einem anderen syrischen Christen namens Salomon Negri (1665–1729) Unterricht erhalten. Dieser hatte 1715/16 Halle besucht. Mit Dadichis Hilfe konnte er nun sein Wissen vertiefen. Zu der Zeit konnten Studenten der arabischen Sprache bereits von den Ergebnissen von mehr als einem Jahrhundert europäischer Orient-Studien profitieren. Es gab zahlreiche Grammatiken und ein bemerkenswert gutes Wörterbuch, nämlich das Lexicon arabico-latinum (1653) des niederländischen Gelehrten Jacobus Golius (1596–1667). Auch gedruckte Versionen des Alten und Neuen Testaments in arabischer Übersetzung standen zur Verfügung, sowie mehrere Geschichtswerke in arabischer Sprache. Ein Koran war – besonders wichtig – ebenfalls vorhanden, mit einer guten lateinischen Übersetzung und einem Kommentar, der auf klassischer islamischer Exegese beruhte. Mit Dadichis Hilfe allerdings war Callenberg in der Lage, die eine Sache zu üben, die er nicht aus Büchern lernen konnte: Arabisch zu sprechen und die Feinheiten der Aussprache sowie umgangssprachliche Ausdrücke direkt von einem Muttersprachler zu hören.
Die beiden Männer befassten sich in Gotha mit den dort vorhandenen Artefakten aus der islamischen Welt. Im 18. Jahrhundert hatten viele europäische Bibliotheken bereits umfangreiche Sammlungen arabischer Handschriften zusammengetragen. Gotha konnte mit Leiden, Oxford, Paris und Rom nicht mithalten. Erst ein Jahrhundert später, dank der Aktivitäten Ulrich Jasper Seetzens (1767–1811), erwarb die Bibliothek den größten Teil ihrer heutigen Sammlung nahöstlicher Handschriften. Dennoch entdeckten Callenberg und Dadichi einige faszinierende Materialien in der Herzoglichen Bibliothek.
Ein besonders interessantes Objekt war ein Werk mit dem Titel Ḫizānat al-fiqh (“Schatz des Rechts”), ein Kompendium der islamischen Rechtstheorie des ḥanafitischen Richters und Theologen Abū l-Laiṯ as-Samarqandī (gest. 983). Diese Handschrift, die im späten sechzehnten Jahrhundert abgeschrieben worden war, hatte einst dem Jenaer Orientalisten Johann Ernst Gerhard (1621–1668) gehört (heute FB Gotha, Ms. orient. A 991). Callenberg und Dadichi bearbeiteten den arabischen Text Wort für Wort, wobei Dadichi jeweils unbekannte Vokabeln erklärte. Callenberg begann auch eine lateinische Übersetzung. Dieses frühe Eintauchen in fiqh bzw. islamische Jurisprudenz erwies sich als prägend mit Blick auf Callenbergs spätere Karriere. Er entwickelte ein besonderes Interesse an islamischem Recht und an der Frage wie dieses die Beziehungen mit den Christen beherrschte. Callenberg schrieb sogar seine Dissertation an der Universität über dieses Thema, wobei er Auszüge aus der Abschrift von Abū l-Laiṯ as-Samarqandīs Kompendium zitierte.
Weitere Schriftstücke stammten nicht von Muslimen, sondern von Christen: zwei arabische Briefe – einer davon auf einer mehr als zwei Meter langen Papierrolle – waren Dank einer früheren Episode in der Geschichte des deutschen Orientalismus nach Gotha gelangt. In den 1660er Jahren hatten Herzog Ernst I. („der Fromme“, 1601–1675) und der Mann, der heute als der Begründer der Äthiopistik gesehen wird, Hiob Ludolf (1624–1704), einen Plan geschmiedet, eine lutherische Mission nach Äthiopien zu schicken. Johann Michael Wansleben (1635–1679) wurde auf Kosten des Herzogs nach Nordafrika geschickt. Er gelangte allerdings nie weiter südlich als bis Oberägypten. Es kam noch schlimmer, als Wansleben, der sich von Alexandria nach Rom begeben hatte, zum Katholizismus konvertierte. Später kehrte er im Dienste Ludwigs XIV. von Frankreich (1638–1715) ins Osmanische Reich zurück. Ernst I. und Ludolf vergaben ihm diesen großen Verrat nie.
Wansleben war es, der die beiden Briefe nach Gotha geschickt hatte (heute FB Gotha, Chart. A 101, fol. 90 und 91). Vermutlich tat er dies in dem Versuch, Rechenschaft für die gescheiterte Äthiopien-Mission abzulegen. Die Verfasser der Briefe waren Matthäus IV., der koptische Patriarch von Alexandria (gest. 1675) und Johannes, ein Erzpriester (qummuṣ) der Kirche des Heiligen Markus. Beide Briefe warnten, nach einigen weitschweifigen Grüßen an den Herzog, vor den vielen Gefahren einer Reise nach Äthiopien. Der Weg sei kompliziert und man müsse unterwegs Bestechungsgelder bezahlen. Am schlimmsten aber sei: Die Äthiopier töteten angeblich alle Europäer, die ankamen, da jesuitische Missionare Zwietracht gesät hätten.
Im September 1718 steuerte Callenberg eine lateinische Übersetzung beider Briefe zu einer Denkschrift für Herzog Ernst den Frommen bei, die in Gotha gedruckt wurde. Dadichi wurde auf der Titelseite als derjenige erwähnt, der den Text „korrigiert“ habe. Callenbergs handschriftlicher Entwurf wirft ein Licht darauf, wie Dadichi die Endversion korrigierte. Zum Beispiel schrieb der Erzpriester Johannes, Wansleben sei zu ihm zum ṯaġr von Alexandrien gekommen. Callenberg übersetzte zunächst portus („Hafen“). Dadichi verbesserte dies zu fines („Grenzen“). Gleichermaßen gab Johannes die Warnung des Patriarchen an Wansleben wieder und erwähnte die fitna, die zwischen Äthiopiern und Europäern entstanden sei. In Callenbergs Entwurf stand rebellio („Rebellion“). Dadichi verbesserte das Wort zu rixa („Streit“).
Im Vorwort zu seinen gedruckten Briefen war Callenberg voll des Lobs für seinen „sehr gelehrten“ (eruditissimus) und „sehr talentierten“ (doctissimus) Partner. Jedoch deuten seine und Vockerodts Briefe an Francke darauf hin, dass der Umgang mit ihrem syrischen Gast nicht immer reibungslos verlief. Dadichi war scheinbar zu stolz, die drei Taler anzunehmen, die Vockerodt für den Arabischunterricht zahlte. Vockerodt war daher gezwungen, ihm das Geld in einem versiegelten anonymen Päckchen zu schicken. Sowohl Vockerodt als auch Callenberg waren aus moralischen und religiösen Gründen über Dadichis Verhalten besorgt. Grund dafür war ihr Misstrauen einem jungen Mann gegenüber, der sieben Jahre unter Jesuiten gelebt hatte.
Am 11. September war Dadichi bereits in Halle. Dort verbrachte er ein Jahr und unterrichtete Arabisch, Syrisch und Persisch. Sein zweimonatiger Aufenthalt in Gotha war also nur ein kurzes Zwischenspiel auf seiner Odyssee durch Europa. Danach zog er weiter nach Leipzig, Berlin und – über Italien, Spanien, Frankreich und die Niederlande – nach London. Dort starb er im April 1734 im Alter von nur vierzig Jahren.
Wenn Dadichis Aufenthalt in Gotha auch kurz war, so blieb er doch nicht ohne Folgen, regte die gemeinsame Erkundung der Handschriften der Herzoglichen Bibliothek doch Johann Heinrich Callenberg an, seine Karriere als Arabist zu beginnen. Carolus Rali Dadichi war sicher eine der schillerndsten Persönlichkeiten, die im frühneuzeitlichen Gotha verweilten. Was werden wohl die deutschen Schuljungen über ihren Arabischunterricht mit ihrem gelehrten und ungewöhnlichen Lehrer aus Aleppo gedacht haben?
Simon Mills
Dr. Simon Mills ist Senior Lecturer in Early Modern History der Newcastle University.
Quellen
- Callenberg an Francke, 02.08.1718, SBB, Nachlass A. H. Francke, 8/3: 9
- Francke an Dadichi, 14.06.1718, SBB, Nachlass A. H. Francke, 1a/1A: 23
- Santoroc an Francke, 22.05.1718, AFSt/H A 171: 171
- Santoroc an Francke, 19.02.1719, AFSt/H C 659: 1
- Vockerodt an Francke, 25.08.1718, SBB, Nachlass A. H. Francke, Slg. Autogr: Vockerodt, Gottfried
- Vockerodt an Francke, 14.08.1718, SBB, Nachlass A. H. Francke, 22/5: 72
- AFSt/H K 88, Fol. 54–105 und 169–173 (Callenbergs Übersetzung von Ḫizānat al-fiqh); fol. 44–52 und 106–168 (Notizen zum Vokabular in Ḫizānat al-fiqh)
- AFSt/H K 88, Fol. 19–30 (Callenbergs Entwurf einer Übersetzung von arabischen Briefen aus Ägypten)
- Johann Heinrich Callenberg: Iuris circa Christianos muhammedici particulae e codicibus Moslemorum eruit et die Aug. publicae disquisitioni exposuit Io. Henric. Callenberg… respondentis munus obeunte Ludov. Christ. Vockerodt. Halle [1729].
- Gottfried Vockerodt: Ioannes Michael Wansleb abutens Serenissimi Saxoniae Ducis, B. Ernesti, gratia… documentum… Accedunt ad B. Ernestum pro Wanslebio scriptae arabice epistolae, Matthaei, Coptitarum, & Habessinorum patriarchae, & Ioannis, archipresbyteri Alexandrini, qui Comos appellatur: quas latine reddidit Ioannes Henricus Callenbergius… emendavitque Carolus Rali Dadichi, civis Antiochenus. Gotha 1718.
Literatur
- Alastair Hamilton (Hrsg.): Johann Michael Wansleben’s Travels in the Levant, 1671–1674: An Annotated Edition of His Italian Report. Leiden 2018.
- Wolfgang Hage: Carolus Dadichi in Marburg (1718). Bittgesuch eines rum-orthodoxen Studenten im Universitäts-Archiv, in: Oriens Christianus 95 (2011), S. 16–31.
- Simon Mills: Türkenbeute in Halle: The Spoils of War and the Study of Islam in an Eighteenth-Century Pietist Orphanage, in: Erudition and the Republic of Letters 9.3 (2024), S. 363–389.
- Dmitry A. Morozov und Ekaterina Gerasimova: Carolus Rali Dadichi and the Bibliotheca orientalis by J. S. Assemani: A Letter of an Oriental Author on the Popularization of Syriac Literature in Europe”, in: N. L. Muskhelishvili und N. N. Seleznyov (Hrsg.): Simvol 61: Syriaca, Arabica, Iranica. Paris/Moskau 2012, S. 357–370 [auf Russisch].
- C. F. Seybold: Der gelehrte Syrer Carolus Dadichi (†1734 in London), Nachfolger Salomo Negri’s (†1729), in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 64.3 (1910), S. 591–601.
- Wolfram Suchier: C. R. Dadichi oder wie sich deutsche Orientalisten von einem Schwindler düpieren ließen. Ein Kapitel aus der deutschen Gelehrtenrepublik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Halle 1919.
Abbildungsnachweis
- Ḫizānat al-fiqh (“Schatz des Rechts”). FB Gotha, Ms. orient. A 991, fol. 135r.
- Johannes (Yūḥannā), Erzpriester (qummuṣ) der Kirche des Heiligen Markus: Brief an Herzog Ernst I. von Sachsen-Gotha, Alexandria, 1665. FB Gotha, Chart. A 101, fol. 91r.
- Ioannes Michael Wansleb abutens Serenissimi Saxoniae Ducis, B. Ernesti, gratia… Gotha 1718. FB Gotha, P 8° 08466 (64).