Die „Expedition im Bierhause“
Ein anderer Blick auf die Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts
Wenn von den europäischen Afrikareisenden des 19. Jahrhunderts noch heute jemand einer breiten Öffentlichkeit bekannt geblieben ist, dann sind es am ehesten David Livingstone und Henry Morton Stanley; in Deutschland vielleicht noch Gustav Nachtigal oder Heinrich Barth. Diese Männer galten den Zeitgenossen als Entdecker, manchmal als Helden, und ihre Geschichten wurden fast ein Jahrhundert lang als Pionierleistungen eines sendungsbewussten Europas erzählt. Deshalb sind sie bis heute im kollektiven Gedächtnis präsent geblieben, auch wenn man sie inzwischen kritisch zu betrachten weiß.
Aber viele Expeditionen galten bereits den Zeitgenossen nicht als Erfolgsgeschichte und sie gerieten trotz einiger Versuche, die verstorbenen Reisenden zu Märtyrern zu erklären, bald in Vergessenheit. So dürfte die eher unrühmliche Geschichte Hermann Steudners heute kaum jemand kennen. Hier wird sie anhand einiger eindrucksvoller Archivalien vorgestellt, denn sie offenbart einen anderen Blick auf die Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts: Anstelle eines Helden zeigt sie eine problematische Gestalt, die es nicht vermochte, auf die Herausforderungen des Reisens mit einer Erfolgsgeschichte zu antworten.
Hermann Steudners erste Afrikareise
Hermann Steudner, 1832 geboren und in Görlitz aufgewachsen, hat nach der Schule in Würzburg Botanik studiert und ist anschließend in Berlin promoviert worden, wo er mit dem einflussreichen Afrikaforscher Heinrich Barth Bekanntschaft machte. Auf dessen Empfehlung hin wurde er, obwohl er kaum über Reiseerfahrungen verfügte, im Jahr 1860 ausgewählt, eine Expedition Theodor von Heuglins als Botaniker zu begleiten. Das spendenfinanzierte Unternehmen wurde von einem Gothaer Komitee um den Verleger Justus Perthes, den Kartografen August Petermann und Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha organisiert und verfolgte das offizielle Ziel, den Verbleib des seit Jahren in Zentralafrika vermissten Afrikareisenden Eduard Vogel zu klären. Darüber hinaus sollten seine Aufzeichnungen nach Deutschland gebracht und eine für Europäer bislang unbekannte Region erforscht werden.1Schmid 2024.
Begleitet von hohen Erwartungen und großer medialer Aufmerksamkeit brachen die Reisenden im Februar 1861 auf. Zunächst sollten sie mit der Bahn nach Triest, dann mit dem Schiff nach Ägypten und nach einem möglichst kurzen Aufenthalt abermals per Schiff über das Rote Meer an die nordostafrikanische Küste reisen. Von dort aus sollten sie auf einem etwa 2.000 Kilometer langen Landweg nach Osten das zentralafrikanische Reich Wadai erreichen. Hier, im Osten des heutigen Tschads, wurde Vogel vermutet. Doch schon bei ihren ersten beiden Stationen außerhalb Europas, in Alexandria und in Kairo, geriet die Expedition ins Stocken, wie ein preußischer Diplomat aus Ägypten seinem Vorgesetzten schrieb:
Gegenüber der Öffentlichkeit wurde der lange Aufenthalt damit begründet, dass es nicht möglich sei, ein früheres Schiff zu nehmen, und dass die Zeit in Kairo „nützlich und lehrreich“ sei, während „sehr viel gearbeitet und gesammelt“3o. A. 1861, S. 229. werde. Der preußische Diplomat bewertete die Situation jedoch völlig anders:
Ob dies der Wahrheit näher kam, kann heute nicht mehr rekonstruiert werden; zumindest war jedoch der hohe Alkoholkonsum im weiteren Reiseverlauf immer wieder ein Thema.
Konflikte in der Reisegesellschaft
Nachdem die Reisenden schließlich Kairo verlassen hatten und per Schiff auf das Gebiet des heutigen Eritrea gelangt waren, folgte dort ein ähnlich langer ungeplanter Aufenthalt, bei dem es zu Meinungsverschiedenheiten über die weiter einzuschlagende Route kam. Während die wissenschaftlichen Begleiter Werner Munzinger und Theodor Kinzelbach auf die vom Gothaer Komitee vorgegebene direkte Route zu Vogels letztem Aufenthaltsort bestanden, plädierten Expeditionsleiter Heuglin sowie Steudner für einen großen Umweg über das äthiopische Gondar, wo sie botanische und zoologische Forschungen anstellen wollten.
Die unterschiedlichen Ansichten führten bald zum offenen Streit, der sich weniger um den einzuschlagenden Weg drehte, sondern zunehmend persönlich wurde. So schrieb Steudner an Barth, Kinzelbach sei „in höchstem Grade ohne Energie und ohne Interesse“ und seine „Freßgier“ erinnere „lebhaft an gewisse Thiere“5Steudner 1861.. Kinzelbach seinerseits fällte in einem Brief an seinen Bruder kein besseres Urteil über die „Canaille“ Steudner, die „solange Spirituosen vorhanden waren, das Meiste davon soff u. jede Gelegenheit […] benutzte, um sich wie ein Schwein zu besaufen.“6Kinzelbach 1862, Bl. 27v–28r. Als die beiden Parteien sich schließlich trennten, um die jeweils bevorzugte Route zu verfolgen, begründete Kinzelbach dies wie folgt: „Wenn Steudner ein ordentlicher Gesellschafter, oder besser wenn ein ordentlicher Mensch an Steudners statt dagewesen wäre, so wären wir am Ende Heugl[in] […] gefolgt.“7Kinzelbach 1862, Bl. 17r. Zu weiteren Konflikten innerhalb der Reisegesellschaft und zur Bedeutung archivalischer Zeugnisse für die geschichtswissenschaftliche Einordnung von Expeditionen siehe Prass 2019.
Das Scheitern der Expedition
Als das Gothaer Komitee von Heuglins und Steudners Umweg erfuhr, reagierte es sofort, indem es die beiden von dem Unternehmen ausschloss und nun alles auf Munzinger und Kinzelbach setzte, die nur noch das Reich Darfur durchqueren mussten, um zu Vogels letztem Aufenthaltsort zu gelangen. Als jedoch der Herrscher Darfurs ihnen in einem Brief die Ein-, aber nicht die Durchreise erlaubte und ihnen stattdessen Gefangenschaft oder Tod in Aussicht stellte, entschlossen sie sich zur Umkehr. Da sie bis dahin auf einem Weg gereist waren, der nach ihren eigenen Angaben „so sicher und gangbar als der von Stuttgart nach Triest und von vielen europäischen Touristen betreten“8Kinzelbach 1863, S. 217. war, ging dieser Teil der Reise ergebnislos zu Ende.
Heuglin und Steudner schlossen sich einer anderen Expedition Richtung Südwesten an und kamen bis an den Fluss Bahr al-Ghazal, heute im Südsudan. Dort erkrankte Steudner schwer und starb im April 1863 in der Ortschaft Wau. Heuglin, der offensichtlich ein besseres Verhältnis zu ihm hatte als Kinzelbach, schrieb an Barth:
Ein anderer Blick auf die Afrikaforscher des 19. Jahrhunderts
Nach Steudners Tod reiste Heuglin zurück nach Europa. Dass „diese so in alle Welt hinausposaunte deutsche Expedition“10Barth 1863., zu der „arme Schullehrer mühsam ihre Pfennige zusammen getragen haben“11König 1861., nach zahlreichen Fehltritten erfolglos zu Ende ging, hätte eigentlich ein Skandal sein müssen. Es kam aber nicht dazu, weil die größten deutschen Presseorgane ebenso wie maßgebliche Wissenschaftler selbst am Spendenaufruf und der Organisation beteiligt waren. Vereinzelt wurde öffentlich Kritik am Unternehmen geäußert, die aber sofort auf Widerspruch stieß und nicht weiterverfolgt wurde. Mit der Ausnahme, dass man Steudner auf einer 1864 vom Verlagshaus Perthes veröffentlichten Karte zum „Märtyrer der Wissenschaft“ erklärte12Zu dieser Karte und zum Begriff des „Märtyrers der Wissenschaft“ siehe Kuhn/Struck 2019, S. 101–120 (Kap. 5)., wurde über das gescheiterte Unternehmen im Wesentlichen geschwiegen und einige Jahre später scheint es bereits vergessen gewesen zu sein.
Bei einem genauen Blick in die Archive stehen aber auch Charaktere wie Stanley oder Livingstone nicht rühmlicher da als Steudner. Ihre Geschichten wurden jedoch jahrzehntelang als Erfolgsgeschichten und Pionierleistungen erzählt, was bis heute die Vorstellungen von Afrikaforschern des 19. Jahrhunderts prägt. Doch tatsächlich waren die Reisenden mit den vielen Schwierigkeiten, die sich ihnen stellten, überfordert; sie befanden sich in einem permanenten Ausnahmezustand, waren in Rausch oder Fieber nur bedingt zurechnungsfähig13Fabian 2000. und Misserfolg oder Tod waren wahrscheinlichere Szenarien als eine gefeierte „Entdeckung“. Gegen die bekannten, heroisierenden Narrative wirkt die hier zusammengefasste Reise Steudners beinahe grotesk, doch tatsächlich eröffnet sie einen realistischeren Blick auf die Geschichte von Expeditionen und die europäische Entdeckung Afrikas.
Albert Feierabend
Albert Feierabend, M.A., hat an den Universitäten Kiel und Göttingen Geschichte und Interkulturelle Germanistik studiert. Derzeit ist er Promotionsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung im Projekt „Geographie und Politik zwischen Nordostafrika und Europa“ am Forschungskolleg Transkulturelle Studien / Sammlung Perthes in Gotha der Universität Erfurt.
Quellen
- Heinrich Barth: Brief an Gustav Schubert, Berlin, 19.07.1863. URL: https://heinrich-barth.ub.uni-due.de/receive/barth_mods_00000644 (letzter Zugriff: 13. November 2024).
- Theodor Kinzelbach: Abschrift eines Briefes an Carl Kinzelbach, El Obeid, 03.05.1862. FB Gotha, SPA ARCH PGM 066, Bl. 7–35.
- Theodor Kinzelbach: Ein Brief von Th. Kinzelbach aus El Obed, der Hauptstadt von Kordofan, datirt Mai und Juni 1862 (im Auszuge), in: Mittheilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt [9] (1863), S. 217–225.
- König, o.V.: Abschrift einer Abschrift eines Briefes an Alexander von Schleinitz, Alexandria, 01.06.1861. FB Gotha, SPA ARCH PGM 062/07, Bl. 1305–1308.
- o. A.: Th. v. Heuglin’s Expedition nach Inner-Afrika. Bericht aus Kairo, 13. April – 13. Mai 1861, in: Mittheilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt [7] (1861), S. 226–230.
- Hermann Steudner: Brief an Heinrich Barth, Keren, 22.09.1861. URL: https://heinrich-barth.ub.uni-due.de/receive/barth_mods_00001592 (letzter Zugriff: 13. November 2024).
- Theodor von Heuglin: Brief von Theodor von Heuglin an Heinrich Barth, Wau, 10.04.1863. URL: https://heinrich-barth.ub.uni-due.de/receive/barth_mods_00001070 (letzter Zugriff: 13. November 2024).
Literatur
- Karl Baedeker: Ägypten. Handbuch für Reisende, 1. Teil: Unterägypten und die Sinai-Halbinsel, 2. Auflage. Leipzig 1885.
- Johannes Fabian: Out of Our Minds. Reason and Madness in the Exploration of Central Africa. Berkeley u. a. 2000.
- Kristina Kuhn, Wolfgang Struck: Aus der Welt gefallen. Die Geographie der Verschollenen. Paderborn 2019.
- Isolde Lehnert: Auf ein Bier bei August Gorff, in: Papyrus Magazin vom 15. April 2020. URL: http://papyrus-magazin.de/geschichte/auf-ein-bier-bei-august-gorff/ (letzter Zugriff: 13. November 2024).
- Reiner Prass: Forschungsreise und Wissensproduktion in Afrika in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Themenportal Europäische Geschichte. 2019. URL: http://www.europa.clio-online.de/
searching/id/fdae-1728 (letzter Zugriff: 28. Januar 2024). - Wilfried Schmid: Eine Reise ins Ungewisse. Die „Deutsche Expedition“ 1861–1862 und die Beteiligung von August Petermann, Theodor von Heuglin und Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha. Blog der Forschungsbibliothek Gotha vom 10. Juni 2024. URL: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2024/06/eine-reise-ins-ungewisse/ (letzter Zugriff: 13. November 2024).