Jean-Baptiste Maugérard – „erbärmlicher Geschäftemacher“ oder versierter Handschriften-Kenner?
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 13
Am 15. Juli jährt sich der Todestag des Jean-Baptiste Maugérard (1735–1815) zum 205. Mal. Die Bibliothek verdankt ihm den Besitz von rund 50 höchst wertvollen mittelalterlichen Handschriften – eine Tatsache, die einen kurzen Rückblick wert ist.
1750 war Maugérard in das Benediktinerkloster Mouzon im heutigen Département Ardennes im nordöstlichen Frankreich eingetreten, um danach als Lehrer und Bibliothekar in der Abtei S. Arnould in Metz sowie in Paris zu wirken. Seit 1766 unternahm er im westlichen Teil Deutschlands Forschungsreisen durch Kloster- und Stiftsbibliotheken. Dabei kaufte oder tauschte er seltene Werke für sein Kloster auf so effiziente und wohl auch trickreiche Art, dass der „Kölner Staatsbote“ in der Ausgabe vom 26.7.1789 die Bibliothekare vor ihm warnte. Nach der Säkularisation seines Klosters floh Maugérard 1792 nach Osten und weilte fast zehn Jahre in der Benediktinerabtei auf dem Petersberg zu Erfurt, von wo aus er zahlreiche Handschriften nach Gotha verkaufte. 1802 durfte Maugérard aus dem Exil nach Frankreich zurückkehren und wurde dort zum Commissaire du gouvernement pur la recherche des objets d’art et de science dans le quatre noveau départements du Rhin ernannt. 1806 zog er sich aus dem aktiven Leben zurück, zuletzt das hohe Amt des Administrators der Bibliothèque nationale de France in Paris bekleidend.
Doch wer war dieser Mann? Ihm eilte ein Ruf voraus, der hinsichtlich der Beschaffung von Handschriften und Drucken dem des einst über Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) hartnäckig bis ins 19. Jahrhundert hinein kolportierten ähnlich zu sein scheint. Dieser Universalgelehrte ist im Letzen Abendmahl des Lucas Cranach d.J. aus dem Jahre 1564 heute noch in der Johanneskirche in Dessau zu sehen und geradezu wörtlich als culter Flacianus bzw. als das „flacianische Messer“ verunglimpft worden: Mittelalterliche Handschriften in Bibliotheken soll Flacius verstümmelt oder auch nicht zurückgegeben haben. Diese Attitüde kann zwar mehr oder weniger ins Reich der Legenden verwiesen und Flacius heutzutage als Gelehrter gewürdigt werden, der mit seiner Sammel- und Forschungstätigkeit dazu beitrug, wichtige Texte des Mittelalters zu überliefern. Dennoch rühren diese Beispiele historischer Einschätzung an der Frage nach dem Umgang der Gelehrten und Sammler vergangener Jahrhunderte mit alten Quellen und Handschriften. Medial dürfte Maugérard jedenfalls bei weitem präsenter als Flacius gewesen sein, zumal in einer zeitgenössischen Zeitung vor ihm gewarnt wurde. Und doch wurde Maugérard 1802 Beauftragter der Nationalbibliothek Paris zur Beschlagnahmung von Urkunden, päpstlichen Bullen, Handschriften und frühen Inkunabeln, die noch nicht in der Nationalbibliothek vorhanden waren. Oder müsste man sagen: gerade deshalb?
Die Wahrnehmung des Mönchs durch Zeitgenossen und Nachwelt changiert je nach Ort der Betrachtung am linken oder rechten Ufer des Rheins. Maugérard verschaffte der Bibliothèque nationale zwischen Frühjahr 1803 und Sommer 1804 mehrere hundert Inkunabeln, Verfassungsurkunden und Handschriften aus den neuen Departements – und zwar oft sehr seltene Stücke, die meist auch nach den Traités von Vienne 1815 in Paris blieben. Ihm zu Ehren wurde zwar an der Pariser Bibliothek ein Fonds Maugérard eingerichtet. In der Folgezeit geriet er in Frankreich allerdings in Vergessenheit. Von deutscher Seite wurde Maugérard hingegen meist als erbärmlicher Geschäftemacher und Strauchdieb oder gar als „ein in jahrelanger Privatjagd auf Handschriften und literarische Seltenheiten bewährter Schweißhund“ (Degering 1915, S. 43) bezeichnet. Im Fokus von Studien stand er seit den 1830er-Jahren mehrfach, nicht nur in dem immer noch wertvollen Beitrag von Ludwig Traube (1861–1907) und Rudolf Ehwald (1847–1927), sondern zuletzt auch in der Arbeit von Bénédicte Savoy über den Kunstraub und Napoleons Konfiszierungen.
Maugérard stand jedenfalls mit Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha (1745–1804) zwischen 1794 und 1802 mehrfach in Kontakt – vom 22. Dezember 1794 hat sich sein eigenhändiger Eintrag im sog. Fremdenbuch der Herzoglichen Bibliothek erhalten: „Maugérard Prieur titulaire de Chini“ – ein Titel, der ihm als Bibliothekar und Mitglied der Societè royale des sciences et des arts de Metz von seinem Dienstherrn, dem Bischof von Metz, 1781 verliehen worden war. Die ersten Käufe sind für den 11. Februar 1795 belegt. Ausnahmsweise ist auch die Summe von 2250 Talern durch den Eintrag ins Kassabuch des Herzogs überliefert. Im Übrigen dürften diese Buch- und Handschriftenankäufe meist aus der herzoglichen Privatschatulle bezahlt worden sein, zumal präzise Nachweise in den Rechnungsbüchern fast immer fehlen.
Maugérard verkaufte Herzog Ernst II. insgesamt rund 50 Handschriften, die fast ausnahmslos aus bedeutenden Bibliotheken und hochkarätigen Skriptorien stammten, darunter Echternach, Murbach, Metz, St. Peter und Amploniana in Erfurt, St. Godehard in Hildesheim, Trier, Bamberg, Würzburg und Fulda. Trotz dieser intensiven Geschäftskontakte scheint ihn der Herzog nicht recht geschätzt zu haben. Jedenfalls lehnte er Maugérards Gesuch um ein Schutz-Privileg und einen Titel ab. Dies wird nicht nur daran gelegen haben, dass Maugérard gerade in den Handschriften, die er an den Herzog verkaufte, möglichst die Spuren der Herkunft durch das Radieren des Besitzeintrags oder das Entfernen des ursprünglichen Einbands und der ersten Seiten tilgte. Vielmehr waren Maugérards Verkaufspraktiken von Ernst II. nach Meinung von Friedrich Jacobs (1764–1847) und Ludwig Traube wahrscheinlich durchschaut worden. Wohl öfters, und wie am Beispiel der drei berühmten Codices Bonifatiani aus Fulda belegt, versuchte er den Verkauf seltener und alter Handschriften mit hohem Gebot und Verweis auf den bevorstehenden Verlust im Krieg mit den Franzosen zu erzwingen. Dabei scheute er auch vor zwielichtigen Angeboten nicht zurück wie z.B. den Fuldaer Katalog neu und ohne diese Handschriften abschreiben zu lassen.
Unter den Kodizes, die durch Maugérard in des Herzogs Hände gelangten, sind viele, die zum Feinsten gehören, was die mittelalterliche Buchkultur hervorgebracht hat. Um nur ein paar der Spitzenstücke unter den besagten 50 Handschriften zu erwähnen: So kam z.B. mit Memb. I 75 eine Sammelhandschrift mit religiöser Dichtung aus dem elsässischen Benediktinerkloster Murbach (im Jahre 727 durch den Hl. Pirminius gegründet) nach Gotha, in der Schriftzeugnisse vor allem des 7. und 8. Jahrhunderts vereint sind (Abb. 1). D.h. die Texte entstanden größtenteils noch in der Ära der Merowinger, die Pergamentseiten wurden z.T. in Halbunziale und damit mittels einer in spätantiker Zeit etablierten Schriftform geschrieben oder einzelne Blätter der Handschrift mit Pergamentstücken verstärkt, die sogar in einer Unziale des 6. Jahrhunderts ausgeführt sind. Dass die Anzahl der Handschriften, die sich generell aus dieser frühen Zeit erhalten haben, mehr als überschaubar und der kulturgeschichtliche Wert gerade dieser Zimelie groß ist, kann gar nicht deutlich genug betont werden.
Zu den Maugérard-Handschriften gehört mit der Handschrift Memb. I 70 auch eine Pergamenthandschrift mit den Opera selecta des Thiofridus Epternacensis (Abt von 1081–1110) vom Anfang des 12. Jahrhunderts und damit ein Spitzenstück aus dem bereits zeitgenössisch für seine Buchkunst berühmten Skriptorium der Benediktinerabtei von Echternach (Abb. 2). Die Mönche dieser Abtei müssen das mit vier ganzseitigen Miniaturen und aufwendigem, von Gold und Farben leuchtenden Initialdekor reich geschmückte Buch auf ihrer Flucht im Jahre 1794 mit ins Peterskloster nach Erfurt genommen haben, von wo es dann Maugérard an den Herzog weiterverkaufte.
Die Aufzählung an „Maugérardschen Kostbarkeiten“ ließe sich fortsetzen mit einem griechischen Psalter und einem Evangeliar des 8. Jahrhunderts aus Murbach und einer Echternacher Abschrift des 10. Jahrhunderts von Boethius, De institutione arithemetica. Über diesen Weg kam auch ein Lüneburger Gebetbuch des 15. Jahrhunderts in den Bestand, das, ursprünglich für die Frau des Bürgermeisters Heinrich Tobinck (amt. um 1480) angefertigt, in den Besitz des Baron Hüpsch (1730–1805) gelangte. Hüpsch war seinerseits durch einen lebhaften Handschriftenhandel berühmt und berüchtigt, er muss das Gebetbuch vor 1801 an Maugérard verkauft haben (Abb. 3).
Maugérard verkaufte Herzog Ernst II. Urkunden, Handschriften mit Konzilsbeschlüssen, Chroniken, Texten antiker lateinischer und mittellateinischer profaner Autoren, Bibeltexte, Heiligenviten sowie Stunden- und Gebetbücher. Unzweifelhaft hatte er ein gutes Auge und erkannte ihren Wert zielsicher, sei es in textgeschichtlicher, paläographischer oder auch künstlerischer Hinsicht und mit Blick auf das hohe Alter der Stücke. Eine umfassende und präzise Einordnung darf dabei bereits aus wissenschaftsgeschichtlichen Gründen – die Fachdisziplinen der Paläographie und der Kunstgeschichte existierten noch nicht in der heute gewohnten Form – nicht erwartet werden. So vermutete er in seinen Notizen zu Beginn von Memb. I 70 und damit an prominenter Stelle, dass die Handschrift ein Autograph des Echternacher Abts Thiofrid sei (Abb. 4) – eine Einordnung, welche die moderne Forschung mit guten Gründen nicht teilt.
Memb. II 132, eine im Erfurter Peterskloster ausgeführte Abschrift des Diadema monachorum des Smaragdus von St. Mihiel (ca. 760–840), einer umfangreichen Sammlung von Regeln für das asketische Leben der Mönche, datierte er ausdrücklich ins 10. Jahrhundert anstelle des gebotenen 12. Jahrhunderts (Abb. 5). Ob dies nur verzeihliches Unvermögen oder aber eher als Beispiel eines Versuchs zu sehen ist, die Handschrift älter und damit wertvoller erscheinen zu lassen, sei hier dahingestellt.
Um abschließend kurz innezuhalten: Matthias Flacius Illyricus wurde zwar vom Erfurter Rat als Störer der öffentlichen Ruhe bzw. als turbator publicae pacis angeklagt und wohl auch aufgrund seines Beharrens auf religiöser Reinheit bzw. Luthertreue als Landesfeind verstanden. Die inzwischen entlarvte Diffamierung als culter flacianus und Bücherdieb dürfte aber auch auf diesem schwierigen Stand gründen. Im Kontrast dazu ist Maugérards Handeln nach gegenwärtigem Stand der Forschung nicht vom Vorwurf des trickreichen Treibens freizusprechen und eindeutig auf das gewiefte Sammeln, den Erwerb und den Verkauf von Büchern und Handschriften konzentriert. Auch seine Faksimile-Edition eines Briefes von Heinrich IV. von Frankreich vermag sein Handeln nicht wirklich mit einer wissenschaftlichen oder erkenntnisorientierten Couleur zu bedecken. Insgesamt stand er mit seiner Erwerbungspraxis, wie der Blick auf den Buch- und Handschriftenmarkt des 17. und 18. Jahrhunderts erkennen lässt, zwar nicht allein. Gleichwohl ragt er nach heutigem Empfinden doch eher unrühmlich hervor.
Verfasserin: PD Dr. Monika E. Müller, 13.07.2020
Verwendete Literatur:
Hermann Degering: Geraubte Schätze. Kölnische Handschriften in Paris und Brüssel, in: Beiträge zur Kölnischen Geschichte, Sprache, Eigenart 2/7 (1915), 38-55.
Thomas Falmagne: Bericht über den Stand der Katalogisierung der Echternacher Handschriften in Luxemburg, in: Andrea Rapp und Michael Embach (Hg.): Rekonstruktion und Erschließung mittelalterlicher Bibliotheken. Berlin 2008, S. 65–74.
Michele Ferrari: Einführung, in: Thiofridus Epternacensis: Opera selecta. Farbmikrofiche-Edition der Handschrift Gotha, Forschungs- und Landesbibliothek, Memb. I 70. München 1994.
Emil Jacobs: Zur Kenntnis Maugérards, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen, H. 1–2, 1910, S. 158–162.
Hermann Knaus: Maugérard, Hüpsch und die Darmstädter Prachthandschriften, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, V, 1964, S. 1227–1240.
Ernst Lutsch: Art. Maugérard, Jean-Baptiste, in: BBKL V (1993), S. 1043f. (Online-Ausgabe: https://www.bbkl.de/public/index.php/frontend/lexicon/M/Ma/maugerard-jean-baptiste-62832; Zugriff 13.07.2020)
Wolfgang Milde: Jean-Baptiste Maugérard et le manuscrit en l’honneur de sainte Lucie de Sigebert de Gembloux, in: Histoire sociale, sensibilités collectives et mentalités. Mélanges Robert Mandrou. [o.O., o. J., Paris 1980)], S. 469–480.
Oliver K. Olson: „Der Bücherdieb Flacius“ – Geschichte eines Rufmords, in: Wolfenbütteler Beiträge 4 (1981), S. 111–145.
Bénédicte Savoy: Kunstraub: Napoleons Konfiszierungen in Deutschland und die europäischen Folgen. Wien u.a. 2003, S. 93–116.
Renate Schipke (Beschr.): Die Maugérard-Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha. Gotha 1972.
Ludwig Traube und Rudolf Ehwald: Jean-Baptiste Maugérard. Ein Beitrag zur Bibliotheksgeschichte, in: L. Traube: Paläographische Forschungen. Bd. 3. München 1904, S. 301–387.
Bernhard Vollmer: Die Entführung niederrheinischen Archiv-, Bibliotheks- und Kunstguts durch den französischen Kommissar Maugérard, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 131 (1937), S. 120–132.
Abbildungen:
Abb. 1: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. I 75 Sammelhandschrift mit religiöser Dichtung. Beginn des Cyclos Victuri, fol. 77v.
Abb. 2: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. I 70: Thiofridus Epternacensis mit seinem Opus, fol. 2r.
Abb. 3: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. II 82: Lüneburger Gebetbuch. Betrachtungen zur Feuer- und Wasserweihe am Karsamstag, mit Engelsbordüre.
Abb. 4: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. I 70: Autograph Jean-Baptiste Maugérard.
Abb. 5: Forschungsbibliothek Gotha, Memb. II 132: Beginn des Diadema monachorum des Smaragdus von St. Mihiel.
Digitalisierte Bestände der FBG:
https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha/sammlungen/digitale-sammlungen/dhb
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