Bericht zum Workshop am 10.11.2023
„Vom Erkunden zur Erkenntnis? Ansätze und Perspektiven digitaler Sammlungsvisualisierungen“
Ob im Museum, in der Bibliothek oder im Archiv – immer mehr Sammlungsbestände werden mit großem Aufwand digitalisiert und online präsentiert. Neben Aufnahmen von vergleichsweise leicht reproduzierbaren, flachen Objekten wie Gemälden, bedruckten Papieren oder Teppichen finden sich inzwischen auch Bilder plastischer Gegenstände und 3D-Scans, ergänzt durch von vornherein digital erstellte Dateien aus den Beständen von GLAM-Institutionen. Von den Zwängen der Materialität, die die Möglichkeiten im physischen Ausstellungsbetrieb begrenzt, ist der Umgang mit digitalen Datensätzen völlig befreit – einzig ein Bildschirm mit Zugang zum fraglichen Netzwerk muss als Medium weiterhin vorhanden sein. Wie die Repräsentationen der Objekte und die Born-Digitals auf diesen Monitoren gezeigt werden, ist aber nicht nur eine Frage der digitalen Ästhetik und der technischen Machbarkeit: Da die Nutzbarkeit der Online-Portale im Zentrum steht, sind bei der Bewältigung der Aufgabe, Sammlungen digital zu präsentieren, neben Ansätzen der digitalen Hermeneutik auch Erkenntnisse der Wahrnehmungspsychologie, der Medienwissenschaften und der Kommunikationswissenschaften hilfreich.
Angesichts dieser vielschichtigen Herausforderung ist es für die GLAM-Institutionen umso wichtiger, sich mit diesem Thema kritisch auseinandersetzen und in einen Austausch über Anforderungen und Grenzen der digitalen Sammlungsvisualisierung zu treten. Zu diesem Zweck fand am 10. November 2023 an der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt ein Workshop statt, der nicht nur der theoretischen Reflexion und dem fachlichen Austausch diente, sondern auch der kreativen Praxis Raum bot.
Als Organisatorin des Workshops ging die stellvertretende Direktorin der Forschungsbibliothek Gotha, Hendrikje Carius, in ihrer Begrüßung auf die zentralen Fragen ein, die sich bei jeder digitalen Präsentation von Sammlungen stellten, die neue, interaktive Zugänge zu historischen Materialien und Daten bieten möchte: Inwieweit sollen über die klassische Suche hinaus explorative Visualisierungen integriert werden, die zu einem selbstständigen, assoziativen Bewegen auf dem jeweiligen Internetportal einladen? Und inwieweit sind die Konzeptionen dazu noch stärker mit Ansätzen der Digital Humanities zu verzahnen, um das epistemische Potenzial der Daten nutzen zu können? Diese Fragen basieren auf der Beobachtung, dass dem Wunsch der Institutionen, kulturelles Erbe im Internet zugänglich zu machen, eine heterogene Gruppe potenzieller Nutzerinnen und Nutzern gegenübersteht – eine Beobachtung, die im Laufe des Workshops immer wieder thematisiert wurde.
Um einleitend das weite Feld der digitalen Visualisierungsmöglichkeiten abzustecken, zeigten Eva Mayr und Florian Windhager (Krems) systematisch, nach welchen Kriterien Symbole im dreidimensionalen Raum angeordnet werden können. Hierzu übertrugen sie drei Strategien, sich mit analogen Sammlungen auseinanderzusetzen, ins Digitale: Das flanierend-freie Erkunden, die gezielte Suche sowie den auf Vertrauen basierenden, geführten Zugang. Dabei machten sie darauf aufmerksam, dass sich je nach Charakter der sammlungshaltenden Institution und dem Status der nutzenden Person auch verschiedene Praktiken parallel beobachten ließen. Im Digitalen hingegen dominiere heute weitgehend der Suchschlitz. Angesichts der im Vergleich zu Museumsräumen oder Schreibtischen begrenzten Oberfläche jedes Bildschirms sei dieser ökonomisch durchaus sinnvoll, doch beschränkten solche Suchmasken die Nutzung digitaler Sammlungen auf Personen, die bereits über Vorwissen verfügten – eine Voraussetzung, die die GLAM-Institutionen sonst nicht machten. Daher plädierten Mayr und Windhager für eine offensive Großzügigkeit und für anregende Ästhetiken, wie sie beispielhaft an der Fachhochschule Potsdam in dem Team um Marian Dörk entwickelt werden. Als entscheidenden Vorteil digitaler Sammlungen machten Mayr und Windhager aus, dass die Visualisierung nicht auf eine einzige Form festgelegt ist. Um auf verschiedene Bedürfnisse reagieren zu können, sollten Digitalisate immer wieder neu arrangiert werden können: Nicht nur überblicksartig sowie in einer Detailansicht, sondern beispielsweise auch chronologisch, nach äußeren Kriterien und Taxonomien, in Netzwerken oder zufällig.
Wie sich sammlungshaltende Institutionen über die an sie gestellten Ansprüchen informieren können, zeigte Sonja Gasser (Winterthur). Hierzu stellte sie eine Umfrage vor, die von der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte in Winterthur durchgeführt worden ist. Deren Datenbank soll vor allem ein Fachpublikum adressieren, da die Stiftung über kein eigenes Museum verfügt, ihre Sammlungsbestände jedoch für Ausstellungen zur Verfügung stellt. In Zusammenarbeit mit der Universität Bern wurden daher kürzlich mittels eines Fragebogens, der sich auf sechs bereits existierende Museumsdatenbanken bezog, Daten erhoben, welche Funktionen das zu konzipierende Portal bieten müsste. Dabei wurde deutlich, dass eindeutig konservativere – möglicherweise auch: gewohnte – Formen gewünscht sind. Experimentelle Ansätze, so Gasser, seien lediglich zur Kenntnis genommen, aber nicht begrüßt worden. Aufgrund der besonderen Struktur der Stiftung lasse sich dieses Ergebnis jedoch nicht ohne Weiteres auf GLAM-Institutionen mit eigenem Anspruch auf Wissensvermittlung übertragen. Diese sind allerdings dazu aufgerufen, den von der Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte entworfenen Fragebogen für ihre eigenen Zwecke zu adaptieren und fortzuführen: Sowohl die Umfrage selbst als auch die bereits vorliegenden Schweizer Ergebnisse sollen in Bälde als Open-Access-Format im transcript-Verlag publiziert werden.
Auch Theresa Stärk (Düsseldorf) befasste sich in ihrem Beitrag mit der Frage, welches Interesse an digitalen Sammlungen von Seiten des Publikums besteht. Anfang des Jahres 2020, also noch vor der Corona-Pandemie, hat sie mit Methoden der Marktforschung und ausgehend von Kunstmuseen untersucht, aus welchen Gründen Personen digitale Ausstellungsformate besuchten oder auch nicht und wie sie ihre Erfahrungen bewerteten. Dabei unterschied Stärk zwischen primärer digitaler Vermittlung, die von Anfang an für den digitalen Raum konzipiert ist, und sekundärer digitaler Vermittlung, bei der es sich um eine Übertragung von analogen Ausstellungssituationen in digitale Räume handelt. In den Ergebnissen der vorgestellten qualitativen Umfrage, die sich auf Schauen in Düsseldorf bezog, sei nach Stärk vor allem die Bedeutung pragmatischer Fragen deutlich geworden: Der mit Abstand größte Vorzug des digitalen Formats sei in der räumlichen und davon abhängig auch zeitlichen Flexibilität des Besuchs gesehen worden. Die häufig genannten Nachteile der digitalen Vermittlung schlössen hingegen nahtlos an aktuelle kunstphilosophische Debatten an: So sei nicht nur das Fehlen der ästhetischen Erfahrung bemängelt worden, sondern mehrfach sogar ausdrücklich von einer nicht übertragbaren Aura analoger Ausstellungsobjekte gesprochen worden.
Einblicke in ein laufendes Digitalisierungsprojekt boten Annerose Tartler (Wien) und Florian Windhager. An der Österreichischen Nationalbibliothek wird seit 2022 die Bibliothek des Prinzen Eugen von Savoyen digital rekonstruiert. Die Buchbestände dieser inzwischen von der Unesco zum Weltdokumentenerbe erklärten Text-, Karten- und Kunstsammlung befinden sich zwar seit Jahrhunderten weitestgehend im Kuppelsaal der heutigen Österreichischen Nationalbibliothek, doch unterlag die Sammlung im Laufe der Generationen einigen Änderungen. Mittels automatischer Bilderkennung können nun die Exemplare, die zweifelsfrei aus der Bibliotheca Eugeniana stammen, schnell identifiziert werden: Die Wappenprägungen auf den Einbänden erlauben die Zuordnung zur historischen Sammlung – allerdings kommt es dabei hin und wieder zu technischen Fehlleistungen. Eine noch größere Herausforderung sind solche Titel, die zwar ausweislich des historischen Katalogs in der fürstlichen Bibliothek vertreten waren, deren Einbände jedoch aus späterer Zeit stammen. Ähnlich schwierig gestaltet sich die Benennung der Farben der historischen Ledereinbände, die jedoch einer Theorie zufolge für die historische Systematik von Bedeutung sein könnte. Diese Unsicherheiten müssen in allen Fällen auch in der digitalen Sammlungspräsentation deutlich werden. Hierzu werden in dem Rekonstruktionsprojekt optische Abstufungen genutzt, die je nach Ansicht unterschiedlich dargestellt werden können: In tabellarischen Übersichten werden Farbverläufe angezeigt, während bei Netzwerkdarstellungen mit verschieden dicken Verbindungslinien gearbeitet wird.
Eine Möglichkeit zur Visualisierung und Analyse von positiven Daten aus seriellen Quellen mittels der Factgrid-Datenbank stellten Olaf Simons (Halle), Rawan Tahboub und Michael Wermke (Jena) vor. Anhand von so genannten Schulprogrammen, also Jahresberichten mit pädagogischem Schwerpunkt, untersuchen sie den europäischen Bildungsraum im langen 19. Jahrhundert. Dabei konzentrieren sie sich auf höhere Schulen in jüdischer Trägerschaft, die wie die übrigen Institute auch an dem nationalen und europäischen Schriftentausch teilnahmen. Die Reste der ehedem zahlreichen Programmbibliotheken gestatten es, die Beziehungen zwischen den pädagogischen Einrichtungen netzwerkartig nachzuvollziehen. Ausgehend von den statistischen Angaben in den Programmen können darüber hinaus die räumlichen Bewegungen sowie familiären Beziehungen des Lehrpersonals rekonstruiert werden. Alle diese Daten werden in dem Programm Factgrid gespeichert, das seit 2017 auf der Grundlage von Wikidata als Graphdatenbank operiert. Simons stellte die Möglichkeiten und Vorzüge dieser langfristig abgesicherten und überaus anschlussfähigen Datenbank vor: Durch die Strukturierung der Daten in Tripletts könnten auch komplexe Anfragen an diesen digitalen Zettelkasten gestellt werden. Auch wenn das Factgrid selbst nur vergleichsweise einfache Visualisierungen wie etwa Zeitstrahlen vornehmen kann, könnten die Datensätze leicht exportiert und in die verschiedensten Visualisierungsprogramme eingespeist werden.
Die optische und interaktive Entwicklung der partizipativen Sammlung „Natur der Dinge“ stand im Zentrum der Projektpräsentation von Mira Witte und Elisabeth Heyne (Berlin). Das trinationale Unternehmen wird in Deutschland vom Museum für Naturkunde Berlin betreut und verfolgt einen hochgradig experimentellen Ansatz: So ist die Präsentation zum einen rein digital und wird zum andern nur minimal kuratiert. Stattdessen werden alle Datensätze nach dem partizipativen Ansatz der Citizen Sciences eingereicht. Auf diese Weise werden subjektive Eindrücke von menschlichem Eingreifen in die Natur sowie ebenfalls subjektive Reaktionen auf diese Impressionen dargestellt. Ausdrücklich soll dabei auch dem emotionalen Empfinden Raum gegeben werden, was weit über die bisherigen Grenzen der Fachdisziplinen mit ihren entsprechenden Datenbanken hinausgeht. Bisher können die eingereichten Bilder, Texte und Audiodateien in einer Kachelansicht sowie mit Rückbindung auf eine Landkarte angezeigt werden. Um den Ansprüchen verschiedener Zielgruppen gerecht zu werden, befinden sich zwei weitere Visualisierungsangebote in der fortgeschrittenen Entwicklungsphase: Mithilfe eines Suchportals können bald Netzwerke und Verbindungen zwischen Sammlungsobjekten angezeigt werden, während mittels eines Online-Rollenspiels ein interaktiver Zugang zu der Präsentation angeboten werden wird.
Um weiter miteinander ins Gespräch und einen kreativen Austausch zu kommen, diente das letzte Drittel des Workshops einer praxisbezogenen Annäherung an die Ansätze zur digitalen Sammlungsvisualisierung: Ausgehend von drei Beispielsammlungen, deren Digitalisierung teils schon im Gange ist, unternahmen Kleingruppen erste Schritte zur Konzeptualisierung von Online-Präsentationen. Ganz analog wurden Interfaces auf Papierbögen skizziert, um einige der unbegrenzten Möglichkeiten des digitalen Raums handhabbar zu machen und darzustellen. Dabei ging es, wie Eva Mayr und Florian Windhager betonten, vor allem um eine kreative Auseinandersetzung mit dem Arrangement von digitalen Objekten und Metadaten. Bereits während der Entstehung der Zeichnungen wurde an den Tischen lebhaft diskutiert; anschließend tauschten sich alle Gruppen über ihre Überlegungen aus. Dabei spielten nicht nur die ästhetischen Überlegungen, sondern auch die unterschiedlichen Forderungen der Zielgruppen, die hinter den Disziplinen stehenden Taxonomien sowie die Verbindungen zwischen Objekten innerhalb einer jeden Sammlung eine Rolle.
Der wissenschaftliche Austausch, das Teilen von Erfahrungswerten und der praxisbezogene Anteil des Gothaer Workshop haben eindrücklich gezeigt, dass das Ziel, Sammlungen digital zu zeigen, spezifische Fragestellungen mit sich bringt: In jedem einzelnen Fall muss das Verhältnis der Vermittlungsziele der GLAM-Institutionen, der Bedürfnisse der Zielgruppen und der technischen Möglichkeiten neu bestimmt werden. Dabei stellen die unterschiedlichen Nutzungswünsche, die von Seiten des Publikums an die Onlineportale gestellt werden, eine stete Herausforderung dar. In der Konsequenz dürfte es nur selten genügen, lediglich eine einzige Präsentationsform anzubieten. Zielführend ist hingegen eine kreative Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, die der digitale Raum bietet: Im Internet haben klassische Formen der Hermeneutik ebenso ihren Platz, wie Experimente im Umgang mit Digitalisaten nicht gescheut zu werden brauchen.
Marian Hefter
Historiker und Promotionsstudent an der Universität Erfurt – Forschungszentrum Gotha im Nachwuchskolleg „Wissensgeschichte der Neuzeit“
Programm
Vom Erkunden zur Erkenntnis? Ansätze und Perspektiven digitaler Sammlungsvisualisierungen., In: H-Soz-Kult, 06.08.2023, https://www.hsozkult.de/event/id/event-137904.