Zum Tod des Auswandererforschers Professor Dr. Wolfgang Helbich
Migration, Auswanderung oder Gründung einer neuen Existenz in einem anderen Land – noch nie waren diese Themen aktueller als heute. Professor Dr. Wolfgang Helbich (1935-2021) gebührt das Verdienst, bereits in den 1980er Jahren zum Sammeln von Auswandererbriefen aufgerufen und damit den Startschuss für eine der weltweit größten Sammlungen von Auswandererbriefen gegeben zu haben. Am 13. November 2021 ist der Experte für neuere deutsche Geschichte und Amerikanistik nach einem Leben für die Wissenschaft gestorben.
Die Forschungsbibliothek Gotha kannte Prof. Helbich vor allem als unermüdlichen Forscher und Sammler von Briefen, die deutsche Auswanderer nach Amerika hinterlassen hatten. Die Initiative, Auswandererbriefe zu sammeln, ergriff Wolfgang Helbich, als er auf die Forschungslücke und den Mangel an Dokumentation und wissenschaftlicher Erschließung solcher Briefe und Egodokumente in der Bundesrepublik aufmerksam wurde – und dies, obwohl Deutschland im 19. Jahrhundert mit den höchsten Auswandererzahlen aufzuwarten hatte. Um die Forschungslage zu verbessern, startete er – einer Pioniertat gleich – einen Sammelaufruf in 120 Tageszeitungen, darunter in der ZEIT und der HÖR ZU, sowie im Radio.
Resultat war die unter dem Namen Bochumer Auswandererbriefsammlung BABS bekannt gewordene Sammlung von Briefen, die deutsche Auswanderer ca. 1820 bis 1914 aus den USA nach Deutschland schickten. Sie besteht aus einer gut 5.000 Texte umfassenden Sammlung gedruckter Briefe und ca. 7.000 unveröffentlichten Briefen von Briefbesitzern aus der alten Bundesrepublik, vor allem aus dem Zeitraum 1830-1930, teils im Original, teils in Kopien des Originals, zusammen mit sehr umfangreichem biographischen und deskriptiven Material. Dank der großzügigen Förderung durch die Stiftung Volkswagenwerk konnte Wolfgang Helbich zwischen 1984 und 1988 als Professor für die Geschichte Nordamerikas der Ruhr-Universität Bochum maßgeblich zur Erschließung und Erforschung dieser Briefe beitragen und die Ergebnisse des Projekts in zwei umfangreichen wissenschaftliche Editionen – „Briefe aus Amerika“ (Beck 1988) und „Deutsche im Amerikanischen Bürgerkrieg“ (Schoeningh 2002) publik machen. Auch die Erweiterung dieser Sammlung mit Briefen aus Amerika nach Ostdeutschland, die seine Frau Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl (Universität Trier) initiierte, begleitete Wolfgang Helbich beratend.
Diese gesamtdeutsche Auswandererbrief-Sammlung stellt einen unermesslichen Schatz dar. Die Briefe in ihrer Subjektivität gehören zu den wenigen sozialgeschichtlichen Zeugnissen für die Prozesse der Auswanderungsentscheidung sowie der Orientierung und Integration im Gastland. Sie sind unersetzlich, weil nur sie über viele Aspekte der Auswanderung von sechs Millionen Deutschen nach Nordamerika verlässliche Auskunft geben, vor allem über deren Wünsche und Hoffnungen, Schwierigkeiten und Erfolge, Eindrücke und Vorurteile.
Die Forschungsbibliothek Gotha verdankt Wolfgang Helbich den Aufbau einer weltweit einzigartigen Sammlung und eine immense Forschungsleistung.