Theologie und orientalische Sprachen in Gotha studieren?
Frühneuzeitliche Pfarrerausbildung zwischen Schule, Universität und Privatbildung
In den ersten Jahren seiner Amtstätigkeit als Gothaer Generalsuperintendent verfasste Salomon Glass (1593–1656) eine Anleitung zu theologischen Studien (Abb. 1). Die Überschrift lautet: „Bericht von dem Studio Theologico, wie solches von einem künfftigen Prediger füglich und mit nutzen getrieben werden möge“ (Abb. 2). Nach dieser Anleitung hatten die angehenden Pfarrer nicht nur Griechisch und Hebräisch, sondern auch Aramäisch und Syrisch für ihre biblischen Studien zu lernen. Siebzig Jahre später instruierte der Gothaer Herzog Friedrich II. (1676–1732) seinen neuen Kirchenrat Ernst Salomon Cyprian (1673–1745), den „studiosi theologiae“ in der Residenzstadt zwei Stunden wöchentlich auf der Grundlage von Leonhard Hutters (1563–1616) „Compendium locorum theologicorum“ zu unterrichten. Bei der Betreuung dieser Theologiestudenten sollte er insbesondere auf deren Entwicklung in der Bibelexegese, Ethik und Kirchengeschichte achten, drei Bereiche, in denen „auf universitäten fast wenig gethan wird“. Zugleich sollte Cyprian die Weiterbildung der jungen Pfarrer im Herzogtum beaufsichtigen, so dass sie ihre Kenntnisse über die Bibel, die Bekenntnisschriften, Luthers Werke, theologische Doktrin und Kirchengeschichte sowie in Griechisch, Hebräisch und anderen orientalischen Sprachen stets vertiefen. 1733 veröffentlichte Cyprian einen Katalog seiner umfangreichen Privatbibliothek mit der ausdrücklichen Intention, angehenden Pfarrern in Gotha ein Verzeichnis von Quellen und Sekundärliteratur für ihre persönlichen Studien zur Verfügung zu stellen. Wurden aber nicht lutherische Pfarrer an Universitäten ausgebildet?
Die Frage ist zu beantworten mit „Ja, jedoch nicht exklusiv in der Frühen Neuzeit“. Dementsprechend war auch kein akademischer Abschluss für die Zulassung zum Pfarramt notwendig. Seit der Reformation waren Lateinschulen bzw. Gymnasien neben den Universitäten von grundlegender Bedeutung für die protestantische Pfarrerausbildung. Dies gilt auch für die Lateinschule in Gotha, die sehr früh die biblischen Sprachen Griechisch und Hebräisch in ihr Curriculum aufnahm. Bis weit ins 16. Jahrhundert hinein und teilweise auch darüber hinaus wurden Pfarrer ordiniert, die lediglich in Schulen und Gymnasien, im privaten Bereich und durch Selbststudium höher gebildet wurden. Auch während der Regierungszeit von Herzog Ernst I. (1601–1675) von Sachsen-Gotha-Altenburg gibt es Indizien dafür, dass mehrere Pfarrer im Herzogtum als höchste Bildungseinrichtung das Gothaer Gymnasium besucht hatten.
Welche Bedingungen machten dies möglich? Ein Blick auf den Lehrplan aus dem Jahr 1659 für die beiden obersten Klassen des Gothaer Gymnasiums, die Prima und Selecta, zeigt deutlich, dass das Curriculum stark auf die Bildungsbedürfnisse künftiger Pfarrer ausgelegt war (Abb. 3). Beide Klassen erhielten montags eine Lese- und die Selecta mittwochs auch eine Stilübung in Hebräisch. Für Griechisch waren drei Stunden angesetzt: montags und dienstags eine Leseübung im Neuen Testament und samstags eine Stilübung. Hinzu kam die Theologie selbst. Montags und donnerstags unterrichtete der Generalsuperintendent die Selecta und der Rektor die Prima auf der Grundlage des oben genannten Kompendiums von Hutter, das damals auch an zahlreichen lutherischen Universitäten benutzt wurde. Ferner steht die Predigt als erste Stunde freitags auf dem Lehrplan. Die Kirche war somit auch wichtiger Bildungsort. Dementsprechend war die Praxis, Aufzeichnungen von Predigten zu machen, im protestantischen Raum weit verbreitet (Abb. 4).
Beim Lehrplan ist unter anderem zu bedenken, dass er wenig über die eigentlichen Lehrinhalte verrät. Diese konnten sich im Laufe der Zeit und bei verschiedenen Lehrern teilweise ändern. Genauere Auskunft bieten die Protokolle der Examina am Gothaer Gymnasium, die auch den von den einzelnen Lehrern behandelten Lehrstoff festhalten. Ein Blick auf die Überlieferung für die Selecta von 1697 bis 1701 belegt zum Beispiel, dass der damalige Lehrer für Hebräisch, Johann Elias Reichardt (1668–1731), Wilhelm Schickards (1592–1635) „Horologium Hebraeum“ als Grammatik benutzte und dass er innerhalb von zwei bis drei Jahren alle zentralen Teile des Alten Testaments behandelte: den Pentateuch sowie die großen, kleinen und späteren Propheten. Zugleich lässt sich aus den Protokollen schließen, dass der im Lehrplan verwendete Begriff „Hebräisch“ als Sammelbegriff für orientalische Sprachen im Allgemeinen zu verstehen ist, denn im genannten Zeitraum führte Reichardt die Selektaner auch in postbiblisches Hebräisch („Rabbinica“), Syrisch und andere orientalische Sprachen („aliae linguae orientales“) ein.
Ebenfalls zu bedenken ist, dass die Lehrpläne und Examensprotokolle lediglich Auskunft über öffentliche Lehrveranstaltungen geben. Wie an Universitätsstädten fand jedoch ein Großteil, wenn auch nicht der Hauptteil des Lernens im Privatbereich statt, sei es in privaten Kollegien, mit Hilfe eines Mentors oder im Selbststudium. Einen aufschlussreichen Einblick in diese Verhältnisse gewährt ein Beschwerdebrief des Gymnasialprofessors Johann Gottfried Leschnert (1681–1747) aus dem Jahr 1735 an das Oberkonsistorium auf Schloss Friedenstein (Abb. 5). Nach dem Tod von Reichardt am 14. September 1731 übernahm Leschnert den Unterricht in Hebräisch und Aramäisch. Dazu gehörten nicht nur die öffentlichen Stunden. Vielmehr bot Leschnert nach jeder öffentlichen Stunde auch eine private Stunde zur Analyse der Grammatik des vorhin gelesenen Kapitels an. Anschließend an jeden Gottesdienst, sei es am Sonntag oder an einem Festtag, machte er mit den Primanern und Selektanern eine Übung, in der ein bis drei Psalmen in Hebräisch gelesen und dann ins Lateinische und Deutsche übersetzt wurden. Schließlich gab Leschnert in der Sommerzeit drei Stunden Privatunterricht wöchentlich. In Konkurrenz zu ihm – und darüber beschwerte er sich – lehrten der jüngere Bruder von Reichardt, Lehrer der Tertia († 1744) – sein Vorname ist nicht bekannt –, und der Theologiestudent („studiosus theologiae“) Johann Ernst Sterzing (1707–1773) Hebräisch privat. So war Privatunterricht eine wesentliche Ergänzung zum öffentlichen Unterricht und umfasste sogar mehr Stunden.
In den Examensprotokollen wurde auch das Alter der Geprüften angegeben. Die Selektaner waren in dem für Universitätsstudenten in der Frühen Neuzeit üblichen Alter. Von 1697 bis 1701 lag die Bandbreite zwischen 15 und 28 Jahren (Abb. 6). Besonders häufig waren Selektaner im Alter von 19 bis 22 Jahren. Aus diesem Grund sind disziplinierende Mandate zum Beispiel gegen den Besuch der Wirtshäuser, Duellieren und das Tragen von Degen ebenso für die Residenzstadt Gotha wie für Universitäten überliefert.
Im Lichte dieser aufschlussreichen Quellen wird ersichtlich, dass höhere Bildung in der Frühen Neuzeit in mancher Hinsicht flexibler, weniger reguliert und stärker individuell gestaltet war als heute.
Weitere Einblicke in die Bedeutung der orientalischen Sprachen in der europäischen Gelehrtenkultur sind in der Jahresausstellung der Forschungsbibliothek Gotha „Der Orient in Gotha“ vom 8. September bis zum 3. November 2024 zu gewinnen.
Daniel Gehrt
Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.
Quellen
- Ernst Salomon Cyprian: Bibliotheca Cyprianica, Sive Catalogus Librorum Historico-Theologicorum … Leipzig 1733 (VD18 11462752).
- Examensprotokolle, Gotha, 1697–1701. FB Gotha, Gym. 106.
- Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg: Instruktion für Ernst Salomon Cyprian, Schloss Friedenstein, [1. August] 1713, in: LATh – StA Gotha, Geheimes Archiv UU III Nr. 18, Bl. 3r–8v.
- Johann Gerhard: Aufzeichnungen von Predigten, Quedlinburg, um 1597. FB Gotha, Chart. B 915, Bl. 253r–276v, 281r–282r, 293r–311r
- Johann Gottfried Leschnert: Brief an das Oberkonsistorium auf Schloss Friedenstein, Gotha, 30. November 1735. LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 78b, Nr. 34 (unfoliiert).
- Salomon Glass: „Bericht von dem Studio Theologico, wie solches von einem künfftigen Prediger füglich und mit nutzen getrieben werden möge“, [Gotha, ca. 1642], in: FB Gotha, Chart. A 305, S. 195–210. Frühere Abschrift in: Gym. 10, Bl. 453r–455v.
Literatur
- Asaph Ben-Tov: Johann Ernst Gerhard (1621–1668). The Life and Work of a Seventeenth-Century Orientalist. Leiden/Boston 2021 (zu orientalischen Studien im Allgemeinen im 17. Jahrhundert).
- Daniel Gehrt: Die Anfänge des protestantischen Bildungssystems in Gotha, in: Sascha Salatowsky (Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 11–18. Open Access: https://www.db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00052854/B-03710-49.pdf
- Daniel Gehrt: Beyond the Institution. Private Studies in the Theological Education of Lutheran Pastors and Scholars, in: Sascha Salatowsky und Joar Haga (Hrsg.): Frühneuzeitliches Luthertum. Interdisziplinäre Studien. Stuttgart 2022, S. 89–131, bes. S. 122–127 (zu Glass’ Anleitung zu theologischen Studien).
- Daniel Gehrt: Die Harmonie der Theologie mit den studia humanitatis. Zur Rezeption der Wittenberger Bildungskonzeptionen in Jena am Beispiel der Pfarrerausbildung, in: Matthias Asche, Heiner Lück, Manfred Rudersdorf und Markus Wriedt (Hrsg.): Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550. Leipzig 2015, S. 263–312.
- Daniel Gehrt: Maple Wood Heirlooms and the Re-formation of a Dynastic Identity. Sermon Notes Taken by Elector John of Saxony as Grapho-Relics, in: Renaissance and Reformation 44/1 (2021), S. 59–85, hier S. 70–76 (zur protestantischen Praxis, Predigten mitzuschreiben).
- Max Schneider: Zur Geschichte des Gymnasiums in Gotha. VIII. Beitrag: Aus Geißlers Rektorat (1768–1779), in: Aus der Heimat. Blätter der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung 3 (1900), S. 82–91.
- Johann Anselm Steiger: Die Rezeption der rabbinischen Tradition im Luthertum (Johann Gerhard, Salomo Glassius u.a.) und im Theologiestudium des 17. Jahrhunderts. Mit einer Edition des universitären Studienplans von Glassius und einer Bibliographie der von ihm konzipierten Studienbibliothek, in: Christiane Caemmerer und Jörg Jungmayr (Hrsg.): Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01.10.1997. Amsterdam u.a. 2000, S. 191–252.
- Solveig Strauch: Religionsunterricht an den Schulen des Herzogtums Gotha im 17. Jahrhundert, in: Sascha Salatowsky(Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 55–59. Open Access: https://www.db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00052854/B-03710-49.pdf
Abbildungsnachweis
- Ölgemälde von Salomon Glass, um 1625. Kustodie der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Inv.-Nr. GP 46.
- Salomon Glass: Anleitung zu theologischen Studien, Gotha, um 1642. FB Gotha, Chart. A 305, S. 197.
- Lehrplan für die Selecta und Prima, Gotha, 1659. Landesarchiv – Thüringen – Staatsarchiv Gotha, Oberkonsistorium Generalia, Loc. 78b, Nr. 19, Bl. 17r.
- Aufzeichnungen von Predigten durch Johann Gerhard als 15jähriger Schüler, Quedlinburg, um 1597. FB Gotha, Chart. B 915, Bl. 253r.
- Angebot an Hebräischunterricht in Gotha 1735. Erstellt auf der Grundlage des Beschwerdebriefs von Johann Gottfried Leschnert am 30.11.1735 in: Landesarchiv – Thüringen – Staatsarchiv Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 78b, Nr. 34 (unfoliiert).
- Alter der Gothaer Selektaner 1697–1701. Erstellt auf der Grundlage der Examensprotokolle in: FB Gotha, Gym. 106.