Ein wissenschaftliches Großprojekt in ländlicher Abgeschiedenheit?

/ April 26, 2024

Einblicke in das Netzwerk zur Entstehung von Veit Ludwig von Seckendorffs „Historia Lutheranismi“

Abb. 1: Kupferstich mit Porträt von Veit Ludwig von Seckendorff, 1691.

Die „Historia Lutheranismi“, die Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692) (Abb. 1) 1691 vollendete, gilt als die erste umfassende quellenkritisch erarbeitete Darstellung der Reformationsgeschichte, die trotz ihrer apologetischen Natur und des unverkennbaren lutherischen Standpunkts des Verfassers Objektivität anstrebt. Sie war eine Reaktion auf die 1680 in Paris erschienene „Histoire du Lutheranisme“, in der der französische Jesuit Louis Maimbourg (1610–1686) die Reformation als Rebellion gegen Papst und Kaiser darstellte. Für seine zweibändige Widerlegung wertete Seckendorff nach langjährigem Dienst am Gothaer und Zeitzer Hof zahlreiche Drucke und Handschriften auf seinem Rittergut in Meuselwitz bei Altenburg aus. Wie war es möglich, ein Projekt dieser Größenordnung in ländlicher Abgeschiedenheit und nicht an einem Ort mit vorhandener wissenschaftlicher Infrastruktur zu realisieren?

Durch das an der Forschungsbibliothek Gotha angesiedelte DFG-Projekt zur Erschließung der Korrespondenz und Lebenszeugnisse des Juristen und Staatsmanns Veit Ludwig von Seckendorff kann diese Frage nunmehr genauer beantwortet werden. Etwas mehr als 7.900 Dokumente aus 32 Archiven und Bibliotheken werden seit 2020 katalogisiert. In den ersten drei Jahren bearbeitete Dr. cand. Jacob Schilling das Corpus, nun in den letzten sechs Monaten Dr. cand. Marian Hefter. Zu den aufbereiteten Quellen zählen nicht nur die handschriftliche Materialsammlung für Seckendorffs bahnbrechende Kirchengeschichte, sondern auch die Korrespondenzen zu deren Entstehung. So lässt sich das Netzwerk hinter diesem Vorhaben genau rekonstruieren.

Von den ersten Anläufen in den frühen 1680er Jahren bis zur Veröffentlichung der Gesamtausgabe der „Historia Lutheranismi“ verging ein Jahrzehnt. Dabei lassen sich drei Phasen feststellen, in denen das beteiligte Netzwerk jeweils eine etwas andere Gestalt annahm.

Phase I: 1682 bis 1684

Abb. 2: Geographische Visualisierung des 1682–1684 an der Entstehung der „Historia Lutheranismi“ beteiligten Netzwerks

Seckendorff hielt eine Widerlegung von Maimbourgs vernichtender Kritik am Luthertum für dringend notwendig. Es dauerte jedoch einige Jahre, bis er den Entschluss gefasst hatte, selbst diese große Aufgabe in Angriff zu nehmen. 1682 begann er, Partner zu sichern (Abb. 2). Entscheidend war die Unterstützung des breitvernetzten Professors für praktische Philosophie, Moral und Politik und Herausgeber des Gelehrtenjournals „Acta eruditorum“ Otto Mencke (1644–1707) und anderer Gelehrter in der naheliegenden Handels-, Verleger- und Universitätsstadt Leipzig zu gewinnen. Wichtig war auch der Zugang zu den Beständen in der Universitätsbibliothek sowie in den privaten Büchersammlungen der Universitätsmitglieder. Die Verbindung zu Leipzig wurde zu einer dauerhaften Lebensader des Projekts. Seckendorff wandte sich zudem an die Höfe der sächsischen Fürsten, denn er wollte seine Publikation auch mit Akten aus den Fürstenarchiven, die Gelehrten meist verschlossen blieben, untermauern. Von Dresden, Eisenach und Gotha erhielt er positive Rückmeldungen. Seckendorff besprach sein Vorhaben auch mit dem herzoglichen Rat und Direktor der Hofbibliothek in Hannover Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716).

Phase II: 1685 bis 1687

Abb. 3: Geographische Visualisierung des 1685–1687 an der Entstehung der „Historia Lutheranismi“ beteiligten Netzwerks

Hatte Seckendorff zwischen 1682 und 1684 die wichtigsten Vorbereitungen getroffen, ging die Arbeit an der „Historia Lutheranismi“ dennoch in den folgenden Jahren nicht rasch voran. Er hatte die Zusagen der sächsischen Fürsten für die Benutzung der Bestände im Hofarchiv in Dresden und im Ernestinischen Gesamtarchiv in Weimar erhalten, aber keine Akten wurden unmittelbar nach Meuselwitz geliefert. Dieser Schritt bedürfte weiterer Verhandlungen und musste auch geregelt und koordiniert werden. Bis zur Veröffentlichung des ersten Buchs der „Historia Lutheranismi“ im Herbst 1687 hatte Seckendorff aus Weimar nur wenige und aus Dresden keine Akten eingesehen. Zudem konzentrierte sich Seckendorff auf andere bedeutende Publikationen in dieser Zeit, allen voran sein 1685 erschienenes naturrechtliches Werk „Der Christen-Staat“. Schließlich erlitt die Arbeit an der „Historia Lutheranismi“ einen unerwarteten Rückschlag, als ein verheerendes Feuer am 9. Juni 1686 in Meuselwitz ausbrach.

Für die Bewerkstelligung des ersten Buchs, das sich mit dem Zeitraum zwischen 1517 und 1524 befasste, stand Seckendorff vorwiegend mit mitteldeutschen Gelehrten im Kontakt (Abb. 3). Dazu zählten neben den Leipzigern insbesondere der Jenaer Historiker und ernestinische Hofhistoriograph Caspar Sagittarius (1643–1694) und der Altenburger Generalsuperintendent und Herausgeber einer zehnbändigen deutschen Lutherausgabe Johann Christfried Sagittarius (1617–1689). Seckendorff erhielt einzelne Quellen auch vom Dresdner Hofbibliothekar David Schirmer (1623–1686), vom Eisenacher Regierungsrat Moritz Gerhard († 1701), außerdem vom Arnstädter Konsistorialrat Georg Conrad Büttner (1648–1693) sowie vom Nürnberger Ratsherrn Joachim Krabler (1619–1689).

Phase III: 1688–1691

Abb. 4: Geographische Visualisierung des 1688–1691 an der Entstehung der „Historia Lutheranismi“ beteiligten Netzwerks

In den letzten vier Jahren des Projekts fokussierte Seckendorff auf die Geschichte der Reformation vom Bauernkrieg 1525 bis zu Luthers Lebensende 1546. In dieser Phase konnte er erstmals Quellen en masse auf seinem Rittergut Meuselwitz durcharbeiten (Abb. 4). Entscheidend dafür war die Unterstützung des neuen Weimarer Oberarchivars Tobias Pfanner (1641–1716) und des Gothaer Gymnasiallehrers Wilhelm Ernst Tentzel (1659–1707) seit Sommer 1687. So sind nahezu 60 Briefe und Dokumente aus dem Austausch mit Pfanner und 85 aus der Korrespondenz mit Tentzel nachzuweisen. Laut Seckendorff wurden mehr als 400 Aktenbände von Weimar nach Meuselwitz transportiert. Zugleich stellte Tentzel im Auftrag des Gothaer Herzogs Seckendorff zahlreiche unikale Handschriften und rare Drucke zur Verfügung.

Am 1. Januar 1688 publizierte Seckendorff einen Aufruf an evangelische Theologen in kirchlichen Leitungsstellen, um Quellen und Informationen über die Reformation in verschiedenen Teilen des Reichs zu erhalten. Die Resonanz war mäßig. Acht kurze Darstellungen der Reformation in Altenburg, Augsburg, Bautzen, Brandenburg, Bremen, Frankfurt am Main, Langenfeld in Franken und Leutkirch finden sich in Seckendorffs Materialsammlung. Einige dieser Beiträge sind auf das Engagement des Dresdner Oberhofpredigers Philipp Jacob Spener (1635–1705) zurückzuführen, der sein Netzwerk für Seckendorffs Sache mobilisierte. Das vollendete Werk erschien im Herbst 1691, wobei der Leipziger Verleger Johann Friedrich Gleditsch (1653–1716) es auf 1692 vordatierte, um die Aktualität des Buches künstlich zu verlängern (Abb. 5).

Abb. 5: Titelblatt der „Historia Lutheranismi“, 1691

Die Erschließung von Seckendorffs Korrespondenz und Lebenszeugnissen ermöglicht somit eine Gesamtschau der Akteure hinter der Entstehung der „Historia Lutheranismi“. Erstmals erkannt werden die vermittelnde Rolle von Spener und die fehlende Einbeziehung von Akten aus dem Dresdner Hofarchiv, um nur zwei Beispiele zu nennen. Die geographische Visualisierung des Netzwerks erklärt teilweise auch, warum Seckendorffs Schwerpunkt auf Mitteldeutschland lag. Dagegen konnte der Gothaer Kirchenrat und Bibliotheksdirektor Ernst Salomon Cyprian (1673–1745), der mit seiner Arbeit an diesen Meilenstein der lutherischen Kirchengeschichte anknüpfte, später mit Förderung des Gothaer Hofs, dem systematischen Ausbau der Bestände auf Schloss Friedenstein und mit seiner europäischen Vernetzung zum ersten Mal eine ausführliche gesamteuropäische Darstellung der Reformation publizieren (siehe Blogbeitrag).

Daniel Gehrt

Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Literatur zu Seckendorffs „Historia Lutheranismi“

  1. Markus Matthias: „Agitur de animae salute“. Geschichtliches Denken in Veit Ludwig von Seckendorffs „Historia Lutheranismi“, in: Daniel Gehrt, Markus Matthias und Sascha Salatowsky (Hrsg.): Reforming Church History. The Impact of the Reformation on Early Modern European Historiography (Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit 22). Stuttgart 2023, S. 127–151.
  2. Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692). Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005, S. 11–21.
  3. Anneliese Wolf: Die Historiographie Veit Ludwigs von Seckendorf nach seinem „Commentarius historicus et apologeticus de Lutheranismo“. Diss. Leipzig 1925.

Web

  1. Volldigitalisat von Veit Ludwig von Seckendorff: … Commentarius Et Apologeticus D Lutheranismo, Sive De Reformatione Religionis ductu D. Martini Lutheri in magna Germaniae parte aliisque regionibus … Frankfurt am Main/Leipzig 1692 [eigentlich 1691] (VD17 3:307951H). URL: http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10716130-9
  2. Erschließungsergebnisse des Seckendorff-Projekts in Kalliope. URL: https://kalliope-verbund.info/de/findingaid?fa.id=DE-611-BF-76744
  3. Vorstellung des Seckendorff-Projekts. URL: https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha/forschung/projekte/erschliessung-und-erforschung
  4. Daniel Gehrt: Kirchengeschichte mit europäischem Blick. Die Vorreiterrolle des Gothaer Historikers Ernst Salomon Cyprian (Blogbeitrag vom 06.04.2022. URL: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2022/04/notizen-aus-dem-gothaer-bibliotheksturm-folge-41/

Abbildungsnachweis

  • Abb. 1: FB Gotha, Theol 2° 269/2 (1), Bl. 1v.
  • Abb. 2-4: Netzwerkvisualisierungen mit Hilfe von Nodegoat. Map data ©2024 Google.
  • Abb. 5: FB Gotha, Theol 2° 269/2 (1), Bl. 3r.
Share this Post