Thüringens erste Landesschule

/ Oktober 2, 2024

Das Gothaer Gymnasium und sein struktureller Wandel im 17. Jahrhundert

2024 jährt sich zum 500. Mal die Gründung der Lateinschule in Gotha, die rasch an Bedeutung in der mitteldeutschen Bildungslandschaft gewann. Anlässlich dieses Gedenkens veranstalten die Forschungsbibliothek und das Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt am 10. und 11. Oktober 2024 die Tagung „Zwischen Schule, Universität und Privatbildung. Das Gothaer Gymnasium illustre im Kontext frühneuzeitlicher Kulturen gelehrten Wissens“. Was macht das Gothaer Gymnasium zu einem besonders geeigneten Ausgangspunkt für das gewählte Thema? Inwiefern überschnitt sich sein Curriculum mit dem von Schulen und Universitäten sowie mit den Angeboten auf dem Markt der Privatbildung? Wie lässt sich das Gymnasium in der Pluralität und Flexibilität der Lernmöglichkeiten vor der tiefgreifenden Regelung des Bildungswesens durch den Staat im 19. Jahrhundert einordnen?

Um uns diesen Fragen anzunähern, wollen wir einen kursorischen Blick auf zwei entscheidende strukturelle Änderungen des Gymnasiums im 17. Jahrhundert wenden: seine Erhebung zur ersten Landesschule in der historischen Landschaft Thüringen im Jahr 1605 und seine Reorganisation unter dem zwischen 1641 und 1673 amtierenden Rektor Andreas Reyher (1601–1673). Daraus wird deutlich, dass das frühneuzeitliche Gothaer Gymnasium teils als Schule, teils als Einrichtung höherer Bildung zu charakterisieren ist.

Abb. 1: Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg: Stiftungsurkunde für die Gymnasien in Coburg und Gotha, Coburg 1605

Auch wenn die Quellenüberlieferung für die Gothaer Lateinschule im 16. Jahrhundert gering ist, weisen zeitgenössische Aussagen und neue Forschungen darauf hin, dass sie von Anfang an unter den prominentesten Bildungseinrichtungen ihrer Art rangierte (siehe Blogbeitrag). Diese Einschätzung wird dadurch verdeutlicht, dass die Lateinschule seit 1605 finanzielle Förderung von den Landständen erhielt und somit als die erste Landesschule in Thüringen anzusehen ist. Der Forschung ist diese bedeutende Erkenntnis in den vergangenen Jahrhunderten nicht zuletzt deshalb entgangen, weil Coburg und nicht Gotha im Mittelpunkt der entsprechenden Stiftungsurkunde steht (Abb.1). Damals war Gotha Teil des Herzogtums Sachsen-Coburg. Der Landesherr, Johann Casimir (1564–1633), unterstützte das Coburger Gymnasium finanziell, um es zu einer hochschulähnlichen Einrichtung auszubauen. Zu diesem Zweck bewilligten die Landstände 1598 Kapital in Höhe von 24.000 Gulden. Am 3. Juli 1605 ordnete Johann Casimir an, dass von den jährlichen Zinsen die Gymnasien in Coburg und Gotha 500 bzw. 200 Gulden erhalten sollten.

Diese Begünstigung zeugt von der zentralen Bedeutung der Gothaer Lateinschule im westthüringischen Teil von Johann Casimirs Territorium. Die „Fürstliche LandSchul“ in Gotha wurde von diesem Zeitpunkt an häufiger als „gymnasium“ und seltener als „schola“ bezeichnet. Es erfolgte im nächsten Jahr eine ausführlich ausgearbeitete Erweiterung und Neuordnung des Lehrplans unter dem Rektor Andreas Wilke (1562–1631). Zugleich wurde ein zusätzlicher Lehrer, Sebastian Leonhart (1544–1610), angestellt, der das Fach Universalgeschichte in den Unterricht einführen sollte.

Der Stundenplan von 1606 überschnitt sich erheblich mit dem Curriculum an den philosophischen und theologischen Fakultäten der protestantischen Universitäten. Neben den freien Künsten Grammatik, Dialektik, Rhetorik, Arithmetik, Geometrie und Musik wurden auch humanistische Studien wie Griechisch, Hebräisch, Geschichte und Poetik unterrichtet. Hinzu kamen theologische Unterweisung auf der Grundlage doktrinärer Kompendien von den Theologieprofessoren Martin Luther (1483–1546) in Wittenberg, David Chyträus (1530–1600) in Rostock und Matthias Hafenreffer (1561–1619) in Tübingen sowie die Einführung in die biblische Exegese insbesondere durch die Beschäftigung mit den Psalmen, den Evangelien und anderen Teilen des Neuen Testaments – in Latein wie auch in den Ursprungssprachen Hebräisch und Griechisch. Die vom Gothaer Superintendenten gehaltenen Predigten in der Stadt dienten ebenfalls explizit der theologischen Bildung der Jugend am Gymnasium.

Abb. 2: August Erich: Porträt von Andreas Reyher und seiner Familie, Gotha 1643

Auch nach der Gründung des Herzogtums Sachsen-Gotha 1640 durch Ernst den Frommen (1601–1675) wurde das Gymnasium in der Residenzstadt von den Landständen mitfinanziert. Zu den grundlegenden strukturellen Änderungen dieser Aufbruchszeit gehörte zum einen, dass das Gymnasium dem Konsistorium auf Schloss Friedenstein unterstellt wurde. Die gymnasialen Verhältnisse wurden von dieser landesherrlichen Behörde streng reguliert und kontrolliert, während der Stadtrat entsprechenden Einfluss einbüßte. Zum anderen erfuhr das Gymnasium – wie auch das gesamte Schulwesen im Herzogtum Sachsen-Gotha – in den frühen 1640er Jahren eine grundlegende Reorganisation durch den Reformpädagogen Andreas Reyher (Abb. 2). Der Herzog machte Reyher 1641 zum Rektor des Gymnasiums und Federführer des Reformprogramms, das Sachsen-Gotha im Bildungsbereich zum Vorreiter im Reich machen würde. Entsprechend den Prinzipien des wegweisenden Didaktikers Wolfgang Ratke (1571–1635) sollten nunmehr allen Kindern und Jugendlichen ab fünf Jahren Zugang zu einer elementaren Schulbildung in den Städten und Dörfern ermöglicht werden. Neu war auch, dass noch mehr in der Muttersprache unterrichtet wurde, auch beim anfänglichen Erlernen von Latein und modernen Fremdsprachen.

Abb. 3a: Anzahl der Personen an den Schulen in Gotha 1697

Diese Bildungspolitik hatte bedeutende strukturelle Folgen für das Gothaer Gymnasium, die sich in den jährlichen, ab 1673 überlieferten Examensprotokollen anschaulich widerspiegeln. Als Stichprobe nehmen wir die Angaben aus dem Protokoll von 1697, das sich in der Forschungsbibliothek Gotha befindet (Gym. 106, Bl. 1r–69v).

Während die bereits erwähnte Ordnung von 1606 sechs Klassen am Gothaer Gymnasium vorsah, kam nach 1640 eine weitere hinzu. 1645 wurde zudem eine Klasse auserwählter Schüler, die Selecta, gegründet. 1697 wurden alle Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen in diesen acht Klassen des Gymnasiums – das Altersspektrum erstreckte sich damit von vier bis 25 Jahren – zusammen mit denen in den beiden Klassen der Mädchenschule mit Fünf- bis Fünfzehnjährigen geprüft. Die Gesamtzahl der 1697 in den Examensprotokollen aufgeführten Personen betrug 1.194 (Abb. 3a).

Sowohl der 1606 gedruckte Lehrplan als auch die Rechenschaftsberichte, die die Lehrkräfte im Rahmen der Kirchen- und Schulvisitation von 1613 abzulegen hatten (Chart. A 634, Bl. 167r–169bv, 178r–v), zeigen, dass bereits in den Jahren vor 1640 Deutsch neben Latein zur Unterrichtssprache in der untersten Klasse gehörte. Insgesamt betrachtet, zielte jedoch das Curriculum des Gymnasiums im ersten Jahrhundert seines Bestehens grundsätzlich auf die Beherrschung der lateinischen Sprache ab. Wegen der didaktischen Aufwertung der Volkssprache und der Bestrebungen, der Gesamtbevölkerung religiöse Grundkenntnisse und die Fähigkeit des Lesens, Schreibens und Rechnens institutionell zu vermitteln, änderte sich dieses Bild in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In der Septima, der untersten, 1647 gegründeten Klasse des Gymnasiums, wurde ebenso wie in den beiden Mädchenklassen ausschließlich in der deutschen Sprache unterrichtet. In der Sexta, Quinta und Quarta war die Unterrichtssprache gemischt, als die Schüler begannen, Latein und in der Quarta auch Griechisch zu lernen. Zur Quinta gehörte eine Klassengruppe, die sogenannten „teutschen Knaben“, die ausschließlich Unterricht in ihrer Muttersprache hatten und ebenso wie die Mädchen auch Rechnen lernten. Das Curriculum von der Quarta bis zur Prima erinnert weitgehend an jenes, das bereits auf der Grundlage der Ordnung von 1606 vorgestellt wurde. Nur stammte inzwischen das Standardkompendium für die theologische Bildung vom Tübinger Professor Leonhard Hutter (1563–1616). In der Selecta kamen weitere Fächer hinzu, die auch an philosophischen Fakultäten der Universitäten gelehrt wurden, wie Ethik, Physik, Politik und Metaphysik. Die Schüler oder bezeichnender die Studenten der Selecta waren – wie diejenigen in den anderen oberen Klassen – dementsprechend im Universitätsalter (Abb. 3b). Im Unterschied zu heute erfolgte der Wechsel von einer Klasse zu anderer nicht im Jahresturnus, sondern grundsätzlich nach individueller Leistung, unabhängig von der Dauer, die nötig war, – sei es Monate oder Jahre – um das nächste Niveau zu erreichen.

Abb. 3b: Altersspektrum in der Tertia, Secunda, Prima und Selecta am Gothaer Gymnasium 1697

So war das Gothaer Gymnasium seit den Reformen in den 1640er Jahren eine – für die heutigen deutschen Verhältnisse fremde – polymorphe Einrichtung, die wesentliche Bestandteile schulischer, gymnasialer und universitärer Bildung in sich vereinte. Zum Lernen am Gymnasium gehörte ebenfalls Privatbildung (siehe Blogbeitrag) bzw. Selbststudium (siehe Blogbeitrag). Das galt grundsätzlich für akademische Studien mit oder ohne institutionelle Anbindung.

Die eingehende Beschäftigung mit der ersten Landesschule Thüringens im Kontext vergleichbarer historischer Einrichtungen und Lernmöglichkeiten in der Gothaer Tagung verspricht, mehr Klarheit über die in der Frühen Neuzeit breiten, aber in der Forschung bisher wenig beachteten Grauzonen zwischen Schule, Universität und Privatbildung zu gewinnen.

Daniel Gehrt

Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Programm für die Tagung „Zwischen Schule, Universität und Privatbildung. Das Gothaer Gymnasium illustre im Kontext frühneuzeitlicher Kulturen gelehrten Wissens“.

URL: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/einrichtung/forschungsbibliothek-gotha/pdf-Dateien/2024-06-18_Wissenstagung_Gotha_Programm.pdf

Quellen

  • Abdruck der Stiftungsurkunde der Landesschulen Coburg und Gotha, Coburg, 3. Juli 1605, in: Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg: Ordnung Wie es in deß …Herrn Johann Casimiri Herzogen zu Sachsen … Orts Francken vnd Thüringen, in den Kirchen, mit Lehr, Ceremonien, Visitationen und was solchen mehr anhängig, Dann im Fürstlichen Consistorio …, auch im Fürstlichen Gymnasio, so wol Land: vnd Particular Schulen, gehalten werden solle. Coburg 1626 (VD17 12:121790S), S. 337–346. URL des Volldigitalisats: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:70-dtl-0000024306
  • Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg: Nova Constitutio Quarundam LL. Class. Et Lectionum in Gymnasio Gothano ad incrementum huius, & celebritatem … Coburg 1606 (VD17 23:247923Q). URL des Volldigitalisats: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-50970
  • Sebastian Leonhart: Oratio De Dignitate, Iucvnditate, Mvltiplici Vsv Atqve Frvctv Ex Lectione Historiarum Petendo … Pronunciata In Illustri Schola Gothana ante inchoationem praelectionis Historiarum … Coburg 1606 (19.03.1606; VD17 23:234705Q). URL des Volldigitalisats: http://diglib.hab.de/drucke/171-3-quod-16s/start.htm
  • Lehrpläne des Gothaer Gymnasiums aus dem Jahr 1613, in: FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 167r–169bv, 178r–v. URL des Volldigitalisats: https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00011425
  • Examensprotokoll in Gotha 1697, in: FB Gotha, Gym. 106, Bl. 1r–69v.

Literatur

Abbildungsnachweis

  1. FB Gotha, Th 4° 3219, S. 337.
  2. Stiftung Schloss Friedenstein, Kulturgeschichtliche Abteilung, Inv.-Nr. 4036 S1.
  3. Erstellt auf der Grundlage der Examensprotokolle in: FB Gotha, Gym. 106, Bl. 1r–69v.
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