Die freie Kunst ohne Lehrstuhl

/ Dezember 2, 2024

Musikpflege am Gothaer Gymnasium illustre in der Frühen Neuzeit

Das Kalenderjahr 2024 und somit auch das 500. Gründungsjubiläum des Gothaer Gymnasiums neigt sich dem Ende zu. Weihnachten steht bevor. In der Frühen Neuzeit wurde die lange Ferienzeit zwischen Heiligem Abend und Epiphanie (6. Januar) dadurch begründet, dass die Schüler an mehreren Tagen in den Gottesdiensten singen mussten (siehe Blogbeitrag: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2024/06/vom-nutzen-der-schulferien-und-des-selbststudiums/). Insgesamt war die Musik von zentraler Bedeutung für den Schulunterricht. Zugleich spielte das Gymnasium eine vitale Rolle im Musikleben der Residenzstadt. Doch wie war diese Kultur in der frühen fragmentarischen Quellenüberlieferung greifbar?

Im Unterschied zu heute war die Musikpflege ein Charakteristikum der frühneuzeitlichen Schulen. Auch wenn die Musik zu den sieben freien Künsten zählte, die die Grundlage des gelehrten Bildungskanons in Europa seit der Antike bildeten, fand sie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein kaum Zugang im öffentlichen universitären Curriculum. Die Musik fehlt grundsätzlich in Universitäts- und Fakultätsstatuten, akademischen Prüfungsordnungen und überlieferten Mitschriften von Studenten aus früheren Zeiten. Dagegen prägte sie tiefgreifend den Schulalltag.

In den lutherischen Städten und Territorien lag dies vor allem daran, dass Schüler seit der Reformation zunehmend für die musikalische Gestaltung der Liturgie in der Kirche eingesetzt wurden. Schulchöre unter der Leitung eines Kantors sangen der Gemeinde die gemeinsamen Lieder in der deutschen Volkssprache vor und bereicherten die Gottesdienste mit mehrstimmigem Gesang, auch Figuralmusik genannt.

Abb. 1: Das vierstimmig komponierte Lied „In dulci jubilo“ im Torgauer bzw. Gothaer Chorbuch, 1545.

Im Zusammenhang mit dem Ausbau der Festung Grimmenstein – also des Vorgängerbaus von Schloss Friedenstein – zur Residenz gründete der ernestinische Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen (1529–1595) 1565 eine Hofkantorei, die aus zwölf ausgewählten Knaben unter anderem aus den Lateinschulen in Altenburg, Jena und Eisenach bestand. Für die Gottesdienste in der zwischen 1552 und 1554 erbauten Schlosskirche benutzte die Kantorei vermutlich das Chorbuch, das der berühmter Torgauer Kantor Johann Walther (1496–1570) ursprünglich für die 1544 von Martin Luther geweihte Kirche auf Schloss Hartenfels erstellt hatte und nach dem Schmalkaldischen Krieg in den Besitz von Herzog Johann Friedrich gelangte (Abb. 1). Die erste Hofkantorei in Gotha war jedoch von kurzer Dauer. Johann Friedrich stand unter Reichsacht wegen seiner Unterstützung des Reichsritters Wilhelm von Grumbach (1503–1567), der den Fürstenbischof von Würzburg hatte ermorden lassen. Der Herzog geriet 1567 in kaiserliche Gefangenschaft und der Grimmenstein wurde dem Erdboden gleich gemacht.

1574 wurde aus dem Kreis Gothaer Lateinschüler ein mehrstimmiger Chor gegründet, dessen Mitglieder als „Symphoniaci“ bzw. „Cantorey Knaben“ bezeichnet wurden. Dieser Chor und einzelne ausgezeichnete Sänger am Gymnasium unterhielten auch den Hof. Seit der Gründung des Herzogtums Sachsen-Gotha 1640 trat die Kantorei wöchentlich vor dem Residenzhaus von Ernst dem Frommen (1601–1675) auf dem Hauptmarkt – heute als historisches Rathaus bekannt – auf. In diesen Jahren wurde Schloss Friedenstein erbaut. Auch nach Vollendung des Baus hatten Sänger des Gymnasiums illustre dem Hof zu Diensten zu sein. Der Rektor wurde beispielsweise 1691 gebeten, einen Diskantisten (Sopranisten), einen Altisten, drei Tenöre und zwei Bassisten für eine bevorstehende Oper zur Verfügung zu stellen. Es waren also nicht nur Knaben vor dem Stimmwechsel, sondern auch Jugendliche und Erwachsene, die das Gymnasium besuchten (Siehe Blogbeitrag: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2024/10/thueringens-erste-landesschule/).

Abb. 2: Zweitauflage der „Isagoges Musicae“ von Cyriacus Schneegaß mit eigenhändiger Widmung des Autors an den Rektor Andreas Wilke, 1596.

Diese Leistungen, wie auch die musikalische Begleitung von Begräbnissen, stellten eine wichtige Einnahmequelle insbesondere für die vielen Schüler aus ärmlicheren Verhältnissen dar. Das Singen war somit ein Mittel, um den Unterhalt während der Schulzeit mitzufinanzieren. Solche Kosten waren merklich höher für die zahlreichen auswärtigen Schüler als für die Einwohner der Stadt (siehe Blogbeitrag: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2024/02/eine-schule-hoeherer-bildung-mit-breiter-ausstrahlung/). Die „Cantorey“ und „Current Knaben“, auch „Eleemosynarii“ genannt, gingen regelmäßig durch die Straßen und sangen um Almosen. Die Tage zwischen Neujahr und Epiphanie bildeten die aktivste Zeit dieser Laufchöre, die zuweilen mit einem Festmahl für die Chöre gekrönt wurden. Diese Praxis wurde jedoch nicht überall unkritisch angesehen. Insbesondere in der Dunkelheit der Wintertage wurde nicht selten Unfug getrieben. Die Chöre liefen eigenmächtig zu benachbarten Ortschaften, um zusätzliche Almosen zu sammeln. Exzesse fanden gelegentlich bei Festmahlen statt. Trotz der immer wieder vorkommenden Ärgernisse und Konflikte behielt das Neujahrssingen wegen seiner existentiellen Bedeutung für viele Schüler über Jahrzehnte hinweg einen festen Platz in der Kultur der Residenzstadt.

Abb. 3: Musiknoten für das vierstimmige Konjugieren von hebräischen Verben, [nach 1640].

Das Singen in den Kirchen, am Hof und in den Straßen wurde somit vornehmlich von ärmeren Schülern geleistet und erforderte außercurriculare Chorproben. Musikunterricht war aber für sämtliche Kinder im Klassenraum vorgesehen. Nach den frühesten überlieferten Lehrplänen des Gothaer Gymnasiums aus den Jahren 1606 und 1613 wurde die Musiklehre von Cyriakus Schneegaß (1546–1596) in lateinischer Sprache verwendet. Schneegaß, ehemaliger Schüler in Gotha aus dem naheliegenden Dorf Bufleben, hatte dieses Buch mit dem Titel „Isagoges musicae libri duo“ als Pfarrer in Friedrichroda verfasst und schenkte dem Rektor Andreas Wilke (1562–1631) 1596 ein Exemplar der Zweitauflage (Abb. 2). Nach der 1648 erschienenen Auflage des sogenannten „Schulmethodus“ vom Rektor Andreas Reyher (1601–1673) sollte die Figuralmusik anhand der kurzen Anleitung des ehemaligen Gymnasiallehrers Michael Trümper (1603–1670) in deutscher Sprache gelehrt werden.

Singen galt damals wie heute als besonders wirksames didaktisches Mittel, um Sprachen zu erlernen. Nicht zuletzt aus diesem Grund wurden einige lateinische Lieder auch nach den volkssprachlichen liturgischen Reformen Luthers von Schulchören in den Kirchen gesungen. Unter den Gymnasialakten aus der Rektoratszeit von Andreas Reyher finden sich sogar Musiknoten für das vierstimmige Konjungieren von hebräischen Verben (Abb. 3).

Musik prägte somit das Lehren, Lernen und Leben an den frühneuzeitlichen Schulen entscheidend und wuchs jeweils um den Jahreswechsel zu einem Crescendo an.

Daniel Gehrt

Dr. Daniel Gehrt ist Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Quellen (chronologisch geordnet):

  • Chorbuch, Torgau, 1545. URL: https://dhb.thulb.uni-jena.de/servlets/solr/dhb_restricted?qry=Chart.+A+98
  • Cyriacus Schneegaß: Isagoges Mvsicae Libri Dvo. … Erfurt 1596 (VD16 S 3196). URL: https://stimmbuecher.digitale-sammlungen.de/view?id=bsb00093794
  • Johann Casimir, Herzog von Sachsen-Coburg: Nova Constitutio Quarundam LL. Class. Et Lectionum in Gymnasio Gothano ad incrementum huius, & celebritatem … Coburg 1606 (VD17 23:247923Q), Bl. A4r–v. URL: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:3:1-50970
  • Lehrpläne des Gothaer Gymnasiums, 1613. FB Gotha, Chart. A 634, Bl. 167r–169bv, 178r–v. URL: https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00011425
  • [Andreas Reyher]: I. Special- und sonderbahrer Bericht/ Wie nechst Göttlicher Verleyhung/ die Knaben und Mägdlein auff den Dorffschafften/ und in den Städten/ die untere Classes der Schul-Jugend im Fürstenthumb Gotha/ Kürtz- und nützlich unterrichtet werden können und sollen …, Gotha 1648 (VD17 39:147843V), Bl. C5v–C6v (Kapitel 9 „Von dem Singen“). URL: https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00008777?derivate=ufb_derivate_00008015
  • Akten zur ausstehenden Zahlung des Hofs an die Schulkantorei wegen der wöchentlichen Musik vor dem Residenzhaus, 1642. LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 83a, Nr. 1.
  • Akten zum Streit um die Abschaffung des Neujahrssingens in der Stadt Gotha und Verzeichnisse der Armenkollekten, 1662–1670. LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 83a, Nr. 2.
  • Mandat Herzog Ernsts I. von Sachsen-Gotha gegen das Neujahrssingen in benachbarten Orten, 1665. LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 83a, Nr. 3.
  • Akten zu den Kurrenden, 1706–1722. LATh – StA Gotha, Oberkonsistorium, Loc. 83a, Nr. 10.

Literatur

  • Adolf Aber: Die Pflege der Musik unter den Wettinern und wettinischen Ernestiniern. Von den Anfängen bis zur Auflösung der Weimarer Hofkapelle 1662. Bückeburg 1921, S. 110–114 (zur 1565 gegründeten Kantorei in Gotha).
  • Jean-Luc Le Cam: Zur Organisation der lutherischen Lateinschule im 16. Jahrhundert und 17. Jahrhundert als Träger der Kantorei und des Schulchors, in: Erik Dremel und Ute Poetzsch (Hrsg.): Choral, Canto, Cantus firmus. Die Bedeutung des lutherischen Kirchenliedes für die Schul- und Sozialgeschichte, Halle 2012, S. 41–71.
  • Daniel Gehrt: Die Anfänge des protestantischen Bildungssystems in Gotha, in: Sascha Salatowsky (Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 11–18. Open Access: https://www.db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00052854/B-03710-49.pdf
  • Daniel Gehrt: Geistliche Lieder und die ernestinischen Höfe in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Musik im Spannungsfeld zwischen persönlicher Frömmigkeit, Bekenntnis und dynastischer Identität, in: Kathrin Paasch (Hrsg.): „Mit Lust und Liebe singen“. Die Reformation und ihre Lieder. Gotha 2012, S. 28–38.
  • Miriam Rieger: Eine pietistische Ausbildungsstätte? Der Streit um das Gymnasium Illustre um 1700, in: Sascha Salatowsky (Hrsg.): Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Gotha 2013, S. 89–95. Volldigitalisat: https://www.db-thueringen.de/rsc/viewer/dbt_derivate_00052854/B-03710-49.pdf
  • Marie Schlüter: Musikgeschichte Wittenbergs im 16. Jahrhundert. Quellenkundliche und sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 2010.
  • Max Schneider: Zur Geschichte des Gymnasiums Illustre in Gotha. I. Die Begleitung der Leichen durch die Lehrer und Schüler des Gymnasiums, in: Blätter für Gothaische Heimathskunde 14 (1896), S. 58f.
  • Max Schneider: Zur Geschichte des Gymnasiums in Gotha. III. Beitrag: Gymnasiasten als Mitwirkende bei der Herzogl. Oper, in: Aus der Heimath. Blätter der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Alterthumsforschung 2 (1897), S. 17f.
  • Max Schneider: Reyhers Schulgesetze für das Gymnasium Illustre in Gotha aus dem Jahre 1641, in: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 11 (1901), S. 79–111.
  • Max Schneider: Zur Geschichte des Gymnasiums in Gotha. XI. Beitrag: Die ältesten Gesetze für die Coenobien, den Famulus Communis und den Chor aus den Jahren 1572; 1574, in: Mitteilungen der Vereinigung für Gothaische Geschichte und Altertumsforschung (1902), S. 118–122 (Auszüge aus: Martin Luther: Parvvs Catechismvs …, Erfurt 1593 [VD16 L 5198]).
  • Armin Schneiderheinze: Johann Walter und die Musik der Reformation. Ausstellung zum Lutherjahr 1996. Torgau, Schloß Hartenfels. Ausstellungskatalog. Torgau 1996.

Abbildungsnachweis

  1. Das vierstimmig komponierte Lied „In dulci jubilo“ im Torgauer bzw. Gothaer Chorbuch, 1545. FB Gotha, Chart. A 98, Bl. 255v–256r.
  2. Zweitauflage der „Isagoges Musicae“ von Cyriacus Schneegaß mit eigenhändiger Widmung des Autors an den Rektor Andreas Wilke, 1596. FB Gotha, H 8° 4650 (1).
  3. Musiknoten für das vierstimmige Konjungieren von hebräischen Verben, [nach 1640]. FB Gotha, Gym. 10, Bl. 175r (Ausschnitt).
Share this Post