Heinrich Schütz und der Tod von Heinrich Posthumus Reuß

/ Mai 10, 2024

Ein bislang unbekannter Druck aus der Forschungsbibliothek Gotha gibt neue Einblicke in die Entstehungsgeschichte einer der bemerkenswertesten Kompositionen des 17. Jahrhunderts

Mitten im strengen Winter 1635/36, als neben der unerbittlichen Kälte auch Hunger, Pest und Krieg die thüringische Bevölkerung bedrohen, stirbt auf seinem Geraer Residenzschloss Heinrich Posthumus Reuß, Herr zu Gera, Lobenstein und Ober-Kranichfeld. Er hatte seinen Tod am 3. Dezember 1635 gut vorbereitet: Selbst ausgewählte Bibel- und Liedverse schmücken seinen Sarg und sind bedeutungsvoll auf seinen Begräbnistag, den Tag Simeonis am 4. Februar 1636, bezogen. Der berühmte Dresdner Hofkapellmeister Heinrich Schütz, einst Heinrich Posthumus’ Landeskind, vertont dieses Textprogramm als repräsentative Begräbnismusik:

Abb. 1a Kantoreiarchiv St. Bartholomäus Waldenburg (Archiv der Verfasserin)

Abb. 1b Kantoreiarchiv St. Bartholomäus Waldenburg (Archiv der Verfasserin)

Die Musikalischen Exequien wurden am 4. Februar 1636 aufgeführt – so wie es Heinrich Posthumus vorgesehen und Heinrich Schütz auf der Titelseite des Notendrucks dokumentiert hat. Oder etwa doch nicht? Daran existieren schon seit einigen Jahren berechtigte Zweifel.

Die Geraer Hofordnungen geben trotz akribischer Detailplanung keinen Hinweis auf Schützens Musik während der Zeremonie. Lediglich einige Chorschüler und der Kantor Peter Neander werden erwähnt. Überhaupt findet die Begräbnisfeier wegen der äußeren Widrigkeiten anders als geplant statt: Der Leichenzug durch die Stadt Gera wird verkürzt; die Gästeliste ist vermutlich wegen Winterkälte und erschwerter Anreisen durch Kriegsgebiet an diesem Tag im Februar 1636 deutlich reduziert.
Eine Spur, die Licht in die Widersprüche zwischen geplanter Repräsentation und tatsächlich realisierter Zeremonie bringt, führt in die Forschungsbibliothek Gotha. Denn neben Hofakten und Notendruck sind weitere Dokumente erhalten, die über die Trauerfeierlichkeiten berichten. Dazu gehören drei gedruckte Leichenpredigten sowie eine Art Textbuch des Begräbnisgottesdienstes, der Abdruck/ Derer Sprüche Göttlicher Schrifft vnd Christlicher Kirchen Gesänge, gedruckt 1636 beim Geraer Buchdrucker Andreas Mamitzsch.

Abb. 2 Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, Theol 4° 00947 [06a]. urn:nbn:de:urmel-ff19958d- a28e-4d0a-bd2f-a9ea922697ae-00009942-023 – Die Version ist vollständig als Faksimile in der gerade erschienenen Edition der Musikalischen Exequien abgedruckt: Neue Schütz Ausgabe Bd. 4.

Dieser Abdruck gibt den Ablauf des Gottesdienstes anhand der Liedtexte wieder. Er ist in drei Exemplaren überliefert. Sie sind jedoch eigenartigerweise nicht identisch. Das Dresdner Exemplar in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek und das Wolfenbütteler Exemplar in der Herzog August Bibliothek weichen nur geringfügig voneinander ab (VD17 14:053571S); das Gothaer Exemplar der Forschungsbibliothek (VD17 39:138135S) dagegen ist um Textabschnitte erweitert. Gerade diese Ergänzung macht das Gothaer Exemplar zu einem bedeutenden Puzzlestück in der Entstehungsgeschichte von Schützens Musikalischen Exequien:

Kein Exemplar nennt den Namen des Komponisten. Doch der Gothaer Abdruck vermerkt die Verse „Selig sind die Toten“ aus der Offenbarung des Johannes sowie „Sie sind in der Hand des Herren“ aus dem Buch der Weisheit, die auf das dritte Werk in den Musikalischen Exequien, das Canticum B. Simeonis SWV 281, deuten:

Abb. 3 und 4 Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt, Theol 4° 00947 (06a).

Im Textprogramm des Heinrich Posthumus spielen diese Verse keine Rolle. Schütz muss also nach der Komposition des Canticum Simeonis SWV 281 darauf bestanden haben, dass die neuen Verse – offenbar noch vor der Begräbnisfeier am 4. Februar 1636 – in den Abdruck aufgenommen werden. Wie wichtig ihm diese Verse sind, betont er in den Anmerkungen zu den Musikalischen Exequien; denn dieser Zusatz sei seine eigene Erfindung – eine Bemerkung, die aufhorchen lässt. Und in der Tat ist dieser hinzugefügte zweite Chor, bestehend aus zwei Sopranen und einem Bariton, die zwei Seraphinen und eine „Beata anima“ darstellen, bemerkenswert. Dieser Engelschor „Selig sind die Toten“ erklingt in der Ferne, während ein fünfstimmiger Kapellchor in der Nähe der Orgel das „Herr, nun lässest du“ anstimmt. Schütz gelingt es hier auf für seine Zeit einzigartige Weise, mit Echos, Nachhalleffekten und dynamischen Kontrasten das Ideal einer unendlich klingenden, göttlichen Harmonie zu assoziieren:


Cantores Carmeli Linz, Michael Stenov, 2006, CC-BY 4.0

 

Die verschiedenen Versionen dieses Textbuches werfen die Frage nach seiner Funktion auf. War es überhaupt als „Lesehilfe“ für den Begräbnisgottesdienst am 4. Februar 1636 gedacht? Auch für die Musikalischen Exequien stellt sich die Frage, ob sie in der Form, in der sie 1636 gedruckt wurden, auch aufgeführt werden sollten.
Als Schütz Anfang Januar den Kompositionsauftrag erhält, stehen ihm ohnehin nur knapp zwei Wochen zur Verfügung. Denn für den Weg Gera-Zeitz-Leipzig-Meißen-Dresden benötigte ein Bote schon in Friedenszeiten etwa 40 Wegstunden, also vier Tage. Hätte also die verbleibende kurze Zeitspanne überhaupt ausgereicht, um zwischen dem Druck der verschiedenen Fassungen des Abdrucks und den Exequien einen Abgleich vorzunehmen?

Abb. 5 Johann Peter Nell: Neu-vermehrte Post-Charte durch gantz Teutschland nach Italien, Franckreich, Niederland, Preußen, Polen und Ungarn & c. Nürnberg 1714. urn:nbn:de:bvb:12-bsb00046970-4 (Ausschnitt).

Vielleicht hatte Schütz noch Ende Januar 1636 ein Manuskript nach Gera gesandt, damit das Textbuch in der Gothaer Fassung verändert gedruckt werden konnte. Vielleicht war Schütz sogar davon ausgegangen, dass seine Musik noch während der Begräbnisfeierlichkeiten erklingen würde.
Und vielleicht ließ sich die Formulierung auf dem Titelblatt dann nicht mehr ändern. Doch nicht nur die fehlenden Hinweise in den Hofakten, sondern auch die kurze Zeitspanne bis zur Beerdigung in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges machen eine Uraufführung am 4. Februar 1636 mehr als unwahrscheinlich.

Sowohl dem Abdruck als auch den Musikalischen Exequien kam eine symbolische Funktion als Teil herrschaftlicher Repräsentation und Erinnerungskultur zu. Wie die Predigten wurden sie an befreundete Fürstenhäuser versandt und gelangten so vermutlich auch nach Gotha. Funeralschriften dienten vorrangig dem Andenken an den verstorbenen Herrscher, das sich nicht allein auf den Moment des Begräbnisses beschränkte. Sie sind keine Dokumentation des Festes und konnten ein Fest auch glanzvoller darstellen, als es tatsächlich stattgefunden hatte. Funeralschriften hatten die Aufgabe, die Kontinuität und den Fortbestand des Herrscherhauses zu demonstrieren, und wiesen – wie nach dem Tod des reußischen Regenten – über Kunst und Literatur auch weit über das Ereignis am Begräbnistag hinaus.

Beate Agnes Schmidt

Beate Agnes Schmidt ist promovierte Musikwissenschaftlerin mit Forschungsschwerpunkten im Musiktheater des 17. und 18. Jahrhunderts, Goethe und Heinrich Schütz. Sie hat jüngst eine revidierte Neuausgabe der Musikalischen Exequien von Heinrich Schütz in der Neuen Schütz Ausgabe herausgegeben.

Weiterführende Literatur

  • Beate Agnes Schmidt: Tod und Unsterblichkeit. Gedanken zu den Musikalischen Exequien, in: Schütz-Jahrbuch 45 (2023, im Erscheinen).
  • Schütz, Heinrich: Musikalische Exequien, hrsg. von Beate Agnes Schmidt, Generalbass bearb. von Christoph Dittmar, Neue Schütz Ausgabe, Bd. 4: BA05926-01. Kassel: Bärenreiter 2024, 80 S. Link zum Verlag
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