Briefe aus Amerika – Zur Geschichte und Bedeutung der Gothaer Auswandererbriefsammlung
Auswanderung und Migration sind ein allgegenwärtiges Thema – ob in Politik, Medien oder persönlichen Biografien … So auch jetzt aktuell, als Bundeskanzler Friedrich Merz dem amerikanischen Präsidenten nicht nur ein Faksimile der Geburtsurkunde von dessen deutschem Großvater als Gastgeschenk mitbrachte, sondern auch die Übersetzung der ersten gedruckten Edition deutscher Auswandererbriefe („News from the Land of Freedom. German Immigrants Write Home“, Cornell University Press, 1991). Das Buch wurde von Wolfgang Helbich 1988 auf der Grundlage der Deutschen Auswandererbriefsammlung der Forschungsbibliothek Gotha publiziert.
Die Forschungsbibliothek Gotha bewahrt mit ihren über 12.000 Auswandererbriefen einen immensen kulturgeschichtlichen Schatz. Denn die Auswandererbriefe, die im Original oder als Kopien vorliegen, bilden nicht nur den größten Bestand der schriftlichen Zeugnisse ‚einfacher Leute‘ überhaupt. Vielmehr zählt die Gothaer Sammlung inzwischen zu den größten ihrer Art weltweit.
Neben wenigen erhaltenen Tagebüchern, Chroniken und Reiseberichten sind sie die einzigen zeitgenössischen und sozialgeschichtlichen Ego-Dokumente für die Prozesse der Auswanderungsentscheidung sowie der Orientierung und Integration im Gastland. Die Briefe der Gothaer Sammlung wurden von deutschen Nordamerika-Auswanderern im Zeitraum zwischen 1820 und 1990 an ihre Familien und Freunde in der Heimat geschrieben. Für mehr als 80 Prozent der Briefe liegen Transkriptionen vor – d.h. Umschriften der nicht immer einfach zu lesenden handschriftlichen Briefe, die der Forschung, aber auch breit interessierten Leser:innen und vor allem auch Schüler:innen und Studierenden den Zugang zu den Texten erleichtern.
Beeindruckend sind die Briefe oft weniger in materieller Hinsicht – oder anders ausgedrückt – eher auf den „zweiten Blick“. Denn sie sind fast durchweg auf einfachem Papier geschrieben, das häufig verschmutzt oder eingerissen ist und gerade dadurch vom wechselhaften Schicksal ihrer Entstehung und ihrer Überlieferung künden. Selten handelt es sich um Briefpapier, das mit Bildmotiven dekoriert ist, kaum einmal um kolorierte Motive wie hier mit dem Blick auf Washington City im Brief vom 4. Mai 1862 von Friedrich Kühnstedt mit dem Bericht aus Fort Monroe über den Bürgerkrieg an seinen Vater in Sachsen.
Was die heutigen Leser:innen dieser Briefe fasziniert, ist, dass sie auf einzigartige Weise Einblick in persönliche Schicksale, Gefühle, Denkweisen und Lebensläufe geben. Sie berichten von den Schwierigkeiten, Härten und Misserfolgen, aber auch von den Herausforderungen der Überfahrt nach Amerika, dem „Ankommen“ in der neuen Heimat und den sich allmählich einstellenden Erfolgen – Dinge, über die man sonst eigentlich kaum etwas erfährt.
Gerade diese persönlichen Berichte sind es, die auch für die Forschung interessant sind. Die Gothaer Sammlung ermöglicht Recherchen zu vielen sozial-, wirtschafts-, aber auch sprach- und rezeptionsgeschichtlichen Fragen – angefangen von den Gründen der Auswanderung, der Einstellung zum amerikanischen Bürgerkrieg und den beiden Weltkriegen oder zu Problemen wie Rassismus, Armut und Krankheit bis hin zu dem aus der alten Heimat abreißenden Informationsstrom, dem Nachlassen der Sprachkompetenz oder der Frage, wie die neue Heimat denn für die Verwandten in Deutschland beschrieben wurde.

Abb. 2: Foto im Brief des nach Illinois auswanderten Ehepaars Johannes und Regina Neumann vom 26.10. 1857
Beigelegte Fotos „erzählen“ in vielen Fällen eine eigene Geschichte, zeigen sie doch, wie sich die Härte des Lebens ins Gesicht eingegraben hat oder sich der erreichte Wohlstand in guter Kleidung, Leibesfülle und Besitz niederschlug. Postkarten – wie die erst jüngst der Forschungsbibliothek übergebene Postkartenserie des Auswanderers Karl Hoffmann lassen erahnen, wie sich Kommunikationsbedingungen ändern und auch in der Wahl des verwendeten Schriftmediums abzeichnen können: Kriegsbedingt – weil man während eines Krieges wie des Ersten Weltkriegs nicht wusste, ob die Post ankommt – wurden kurze Postkarten anstelle von Briefen geschrieben, die aber in diesem Fall durch die Abbildung von New Yorker Wolkenkratzern optisch sehr interessant sind.
Die Gothaer Auswandererbriefsammlung ist durch zwei konkrete Sammlungskampagnen entstanden: In den 1980er Jahren sammelte Prof. Dr. Wolfgang Helbich Briefe von Auswanderern aus dem Gebiet der alten Bundesländer, in den 2000er Jahren ergänzte Prof. Dr. Ursula Lehmkuhl den Bestand um Briefe von Auswanderern aus den neuen Bundesländern. So werden in der Forschungsbibliothek Gotha Briefe aus dem Gebiet der gesamten Bundesrepublik und damit auch aus Thüringen aufbewahrt. Inzwischen gehören nicht nur Briefe von Auswanderern nach Nordamerika, sondern zu einem geringeren Teil auch Briefe von Auswanderern nach Südamerika und Australien zum Bestand. Nach wie vor nimmt die Forschungsbibliothek Gotha weitere Briefe in ihre Sammlung auf.
Weitere Informationen zur Auswandererbriefsammlung der Forschungsbibliothek Gotha:
Monika E. Müller
Abbildungsnachweis
- Brief von Friedrich Kühnstedt, 4. Mai 1862 an seinen Vater; mit Blick auf Washington City (Sign.: Einzelbrief Hering / Kühnstedt)
- Foto im Brief des nach Illinois auswanderten Ehepaars Johannes und Regina Neumann vom 26.10. 1857 (Sign.: Serie Neumann / Neumann)
- Postkarte mit Blick auf das Park Row Building, New York, N.Y., von Karl Hoffmann (Sign.: Serie v.d. Straten / Hoffmann; Mappe: „nur“ Vater)