Johann Helders Rede „De urbe Gotha“ und die frühen Anfänge einer Stadtgeschichte im 16. Jahrhundert
Jubiläen beflügeln bekanntlich das Interesse an erinnerungswürdigen und auch identitätsstiftenden Ereignissen der Vergangenheit und fördern eine erneute Auseinandersetzung mit den entsprechenden historischen Zusammenhängen. Anlässlich der sich zum 1250. Mal jährenden urkundlichen Ersterwähnung der Stadt Gotha veranstalteten die Forschungsbibliothek und das Forschungszentrum im Oktober 2025 eine gemeinsame Tagung zur Blütezeit der Historiographie der Stadt (siehe Programm)
Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Austausches stand die erste gedruckte Stadtgeschichte, die der Jenaer Historiker Caspar Sagittarius (1643–1694) mit Hilfe mehrerer Akteure kompilierte (Abb. 1). Sie erschien in ihrer vollständigen Fassung erst postum im Jahr 1700 (Abb. 2). Aber frühe Anfänge, die Geschichte der Stadt Gotha zu rekonstruieren und schriftlich festzuhalten, sind schon im 16. Jahrhundert nachweisbar. Längst bekannt ist die historische Darstellung der Reformation in deutscher Sprache, die der Zeitzeuge und erste evangelische Superintendent, Friedrich Myconius (1490–1546), in den frühen 1540er Jahren verfasste.1Chart. A 339, Bl. 1r–47v. Im letzten Fünftel des Werkes fokussiert er auf lokale Ereignisse. Neben dem zeitgenössischen Geschehen führt Myconius auch vereinzelte Fakten aus früheren Jahrhunderten an, beispielsweise über den 1369 erbauten Leinakanal, das Kollegiatstift St. Marien und die Festung Grimmenstein..
Im Vorfeld der Tagung ist eine 32 Seiten umfassende lateinische Schulrede mit dem Titel „De urbe Gotha“ in der frühneuzeitlichen Handschriftensammlung der Forschungsbibliothek aufgefallen, die auch zu den frühesten historischen Darstellungen der Stadt am Leinakanal zählt (Abb. 3a).2Chart. A 456, Bl. 19r–35v. Der Rektor Johann Helder (1551–1625) hatte sie öffentlich am 26. März 1588 im Rahmen der Frühlingsexamina an der Lateinschule gehalten.3Helder redete sein Publikum mit den Worten „geehrte, angesehene, vornehmste, sich durch Gelehrsamkeit und Weisheit auszeichnenden Männer“ an. Chart. A 456, Bl. 20v: „Reverendi, spectabiles, clarissimi eruditione et prudentia ornatissimi viri“. Besondere Anstrengungen wurden unternommen, die Rede aufzubewahren und ansprechend zu gestalten. Sie wurde in einer zeitgenössischen Reinschrift festgehalten. Die vorangestellte Anrufung Gottes ist wie mehrere Wörter im Text, insbesondere Fürstennamen, in Majuskeln geschrieben (Abb. 3b). Das Anfangswort „CHRISTO“ wie auch die Initiale „D“ zu Beginn der eigentlichen Rede sind mit grüner Tinte hervorgehoben. Diese gestalterischen Merkmale zeugen von der besonderen Wertschätzung des Textes, der heute zu den frühesten erhaltenen Reden der 1524 gegründeten Gothaer Lateinschule gehört.4Älter ist nur die am 2. Oktober 1587 gehaltene Rede über das ewige Leben, die gedruckt wurde in Helder 1591. Leider wurden die Bogen zu einem späteren Zeitpunkt am Falz durch Wasser großflächig beschädigt.
Johann Helder, gebürtiger Erfurter, der mit dieser Rede auch Zuspruch für die seit sechs Jahren unter seiner Leitung stehende Schule gewinnen wollte,5Zu dieser grundsätzlichen Funktion öffentlicher Schulreden vgl. Nagel, Schulrhetorik an Gymnasien um 1700. bekundete, dass er sich der Geschichte Gothas aus Liebe zu dieser Stadt gewidmet habe.6Chart. A 456, Bl. 20v: „erga urbem hanc amore“. Die Rede enthält jedoch viel weniger Ortsgeschichte, als man heute erwarten würde. Helder begann mit allgemeinen, teilweise auf Tacitus beruhenden Ausführungen über die Germanen. Die früheste Erwähnung der Stadt fand er bei Myconius, der in einer Eisenacher Chronik von einer frühmittelalterlichen Versammlung von Herrschaftsträgern in Gotha erfahren hatte.7Chart. A 339, Bl. 37v–38r. Vgl. dazu Bollbuck, Die Reformationsgeschichte des Myconius. Helder datierte das Ereignis auf das Jahr 830.8Chart. A 456, Bl. 22v. Die Schenkungsurkunde Karls des Großen 775 für die Hersfelder Reichsabtei war damals in Gotha nicht bekannt. Innerhalb weniger Redeminuten eilte er von den Ungarneinfällen im frühen 10. Jahrhundert und vom Leben des hl. Godehard (960–1038), des Schutzpatrons der Stadt (Abb. 4), über den – in der protestantischen Geschichtsschreibung postulierten – Verfall der Kirche bis zu Luthers Reformbewegung im 16. Jahrhundert. In diesem Kontext nannte er die ersten drei Superintendenten in Gotha – Friedrich Myconius, Justus Menius (1499–1558) und Simon Musäus (1521–1576)9Helder gibt irrtümlich Paul als Vornamen von Musäus an. – und die ersten drei Rektoren der Lateinschule – Basilius Monner (ca. 1500–1566), Pancratius Sussenbach (1528–1562) und Cyriacus Lindemann (ca. 1516–1568).
Den größten Teil der Rede10Chart. A 456, Bl. 24r–33v. bildete eine Kompilation bemerkenswerter Angaben zu Leben und Herrschaft der Ludowinger und Wettiner, zu deren Territorium Gotha gehörte. Erst bei der Darstellung des letzten ernestinischen Kurfürsten, Johann Friedrich I. von Sachsen (1503–1554), nahm Helder wieder konkreten Bezug auf die Stadt, indem er die 1543 besiegelte landesherrliche Stiftung zur Subventionierung der Versorgung von 24 armen auswärtigen Schülern in Gotha lobend erwähnte.11Chart. A 456, Bl. 32v. Diese Förderung zeichnete die Gothaer Lateinschule vor allen anderen vergleichbaren Bildungseinrichtungen in den ernestinischen Landen aus. Zum Schluss stellte Helder die Stadtverfassung kurz vor, wies auf die große Bedeutung von Bildungsstätten vor Ort für Kirche und Gesellschaft hin und erwies den damaligen Landesherren der Stadt Gotha, Johann Casimir (1564–1633) und Johann Ernst von Sachsen-Coburg (1566–1638), gebührende Ehre als Förderer.
Helders Rede vermittelte somit kein neues Wissen zur Ortsgeschichte, förderte aber das lokale Bewusstsein für die Bedeutung der eigenen Geschichte. Hundert Jahre später zitierte Caspar Sagittarius Helders Rede in seiner Erörterung über die Herkunft und Bedeutung des Stadtnamens.12Sagittarius 1700, S. 1–9. Er hatte die beiden damals verbreiteten Ansichten wiedergegeben, dass der Stadtname „Gotha“ vom germanischen Volk der Goten oder vom Stadtpatron Godehard abgeleitet sein könnte.13Chart. A 456, Bl. 22v–23r. Heute geht die Sprachwissenschaft davon aus, dass der Name wahrscheinlich auf ein altgermanisches Hydronym zurückgeht, das so viel wie „langsam“ oder „schwach fließendes Gewässer“ heißt.14Vgl. Hengst, Der Name Gotha.
Daniel Gehrt
Daniel Gehrt ist Historiker und Wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.
Quellen
- Johann Helder: De urbe Gotha oratio …, Gotha, 26. März 1588. FB Gotha, Chart. A 456, Bl. 19r–35v.
- Johann Helder: Orationes Dvae Prio De Mortvorvm Resvrrectione, Qvae Certis Qvibvsdam Ac Immotis Sacrae Scriptvrae fundamentis: et exemplis ex natura desumtis, ostenditur et probatur. Alter De Ineffabili Laetitia Et Felicitate Piorvm In Altera Vita … Erfurt 1591 (VD16 H 1571), S. 35–67. Online: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:urmel-fc1a653b-eb33-4605-9b0d-e4c757b8bced2 (letzter Zugriff: 11.11.2025)
- Friedrich Myconius: Geschichte der Reformation, Gotha, ca. 1541/42. FB Gotha, Chart. A 339, Bl. 1r–47v. Edition: Otto Clemen: Geschichte der Reformation. Gotha 1990 (Nachdruck). Volldigitalisat: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:urmel-bd5183e1-33a4-4a5f-a131-e1817fe4fcdd8 (letzter Zugriff: 11.11.2025).
- Caspar Sagittarius: … Historia Gothana Plenior …, Jena 1700 (VD17 14:015458X). Volldigitalisat: http://dx.doi.org/10.25673/opendata2-28083 (letzter Zugriff: 11.11.2025).
Literatur
- Harald Bollbuck: Die Reformationsgeschichte des Friedrich Myconius, in: Daniel Gehrt und Kathrin Paasch (Hrsg.): Friedrich Myconius (1490–1546). Vom Franziskaner zum Reformator. Stuttgart 2020, S. 225–244.
- Gudrun Emberger und Uwe Jens Wandel: Godehard von Hildesheim als Gothaer Schutzpatron – Das Stadtsiegel und Stadtwappen von Gotha, in: Alexander Krünes (Hrsg.): Geschichte der Stadt Gotha. Bd. 1: Von den Anfängen der Stadt bis 1826. Leipzig 2024, S. 149–156.
- Karlheinz Hengst: Der Name Gotha – ein Sprachdenkmal aus vorchristlicher Zeit, in: Alexander Krünes (Hrsg.): Geschichte der Stadt Gotha. Bd. 1: Von den Anfängen der Stadt bis 1826. Leipzig 2024, S. 83–95.
- Jens Nagel: Schulrhetorik an Gymnasien um 1700. Die öffentlichen Redeakte zwischen Meritokratie und Repräsentation, in: Aufklärung 28 (2017), S. 29–60.
- Matthias Werner: Karl der Große, Kloster Hersfeld und die Ersterwähnung Gothas im Jahre 775, in: Alexander Krünes (Hrsg.): Geschichte der Stadt Gotha. Bd. 1: Von den Anfängen der Stadt bis 1826. Leipzig 2024, S. 71–82.
Abbildungsnachweis
- Stadtmuseum Jena, Inv.-Nr. 22 959, b/ U2, 91 (CC BY-NC-SA 4.0).
- FB Gotha, Hist 8° 2312/2 (VD17 14:015458X), vorangestellter Kupferstich und Titelblatt (zugleich Abb. auf der Übersichtsseite).
- FB Gotha, Chart. A 456, Bl. 20r.
- Wilhelm Ernst Tentzel: Svpplementvm Historiae Gothanae Secvndum …, Jena 1702 (VD18 90481070). FB Gotha, Hist 8° 2312/2 (2,2), Tab. 1, Abb. 2.




