Ein Buch kehrt zurück. Geschichte und Zukunft der Verlagsbibliothek Perthes

/ April 6, 2023

20 Jahre Sammlung Perthes, Folge 2

Im Dezember 2022 gelang der Forschungsbibliothek Gotha ein überraschender Coup. Sie erwarb das „Vollständige Handbuch der neuesten Erdbeschreibung“ von Adam Christian Gaspari. Das in zweiter Auflage von 1819 bis 1832 im „Geographischem Institut“ von Friedrich Justin Bertuch in Weimar erschienene Handbuch war seinerzeit ein weit verbreitetes geografisches Standardwerk. Sensationell war der Erwerb, weil es sich um das Handexemplar von Adolf Stieler handelte, ausgewiesen durch Besitzstempel und zahlreiche handschriftlichen Anmerkungen (Abb. 1).

Abb. 1: Adam Christian Gaspari u.a.: Vollständiges Handbuch der neuesten Erdbeschreibung, Titelblatt des 23. Bandes, Weimar 1825

Adolf Stieler (1775–1836) war Jurist am Hof der Gothaer Herzöge (Abb. 2). Hier hatte er Verbindung zu Franz Xaver von Zach, der seit 1786 als Astronom und Geodät für den aufgeklärten, naturwissenschaftlich interessierten Herzog Ernst II. von Sachsen-Gotha-Altenburg (1745–1804) die erste freistehende Sternwarte Deutschlands auf dem Seeberg bei Gotha errichtete. Die Sternwarte sammelte astronomische, mathematische Daten für Kartierungen und definierte die für die Vermessung Thüringens grundlegende geodätische Basis. In diesem Umfeld entwickelte sich der zeichnerisch begabte Stieler in den frühen 1800er Jahren zu einem virtuosen Kartografen. Zach publizierte Stielers Karten in seinen bei Friedrich Justin Bertuch in Weimar erscheinenden „Geographischen Ephemeriden“.

Doch Stieler wollte mehr. Er wollte die in die Jahre gekommenen Atlanten von Bertuchs „Geographischem Institut“ – ein 1804 gegründeter, auf Karten und Globen spezialisierter Ableger von Bertuchs Landes-Industrie-Comptoir – grundlegend erneuern. Aber Bertuch hielt an seinen Autoren fest. Stieler trug deshalb um 1810 dem Gothaer Verleger Justus Perthes seine Idee eines Atlanten an, mit dem er „Beschränktes, aber in der Ausführung Ausgezeichnetes liefern“ wollte. Selbstbewusst und präzise formulierte Stieler die Qualitätsmerkmale seines geplanten Kartenwerks: „bequemes Format, möglichste Genauigkeit, Deutlichkeit und Vollständigkeit, … zweckmäßige Auswahl, Gleichförmigkeit der Projektionen und des Maßstabes, schönes Papier, guter Druck, sorgfältige Illumination, wohlfeiler Preis“.1SPA ARCH MFV, Nachlass Stieler, Mappe 20/1, Bl. 1a–3b. Zitiert nach Bernhard Perthes: Justus Perthes in Gotha 1785–1885, Gotha 1885, S. 14 und Justus Perthes Hauptkatalog 1935, Gotha 1935, S. VIII. Siehe auch Bryś, Justus Perthes Gotha, S. 23 mit Anm. 33.

Abb. 2: Adolf Stieler, Vorlage für das Porträt Stielers im Ahnensaal des Perthes-Forums

Justus Perthes war interessiert, auch wenn er bis dahin Karten kaum verlegt hatte. Vorsichtig tastend hatte er das Feld betreten mit Kartenbeilagen für historische Reisewerke, wie „Anton Pigafetta‘s Beschreibung der von Magellan unternommenen Reise um die Welt“ (1801) und zeitgeschichtlichen Analysen wie Karl Ernst Adolf von Hoffs „Das teutsche Reich vor dem Ausbruche der französischen Revolution und nach dem Friedensschlusse zu Lunéville“ (1801). 1809 folgte mit Johann Heinrich Gottlieb Heusingers „Handatlas über alle bekannte Laender des Erdbodens“ das erste bei Perthes erschienene selbständige Kartenwerk, das aufgrund seiner mageren Kartografie jedoch nur wenig Erfolg hatte. Anders als Bertuch schlug Justus Perthes Stielers Angebot nicht aus, schon deshalb nicht, weil Stieler als Hofbeamter abgesichert, vorerst auf Honorar verzichtete.2SPA ARCH MFV, Nachlass Stieler, Mappe 20/1, Bl. 2b–3 (§ 9), zitiert bei Bryś, Justus Perthes Gotha, S. 23 mit Anm. 34. Er wollte erst am Ertrag seines Atlanten beteiligt werden. Stieler, verantwortlich für das „Wissenschaftliche und Graphische“, Perthes, verantwortlich für das „Commerzielle und Pecuniäre“, agierten fortan als gleichberechtigte Partner und Herausgeber, die sich den Erwerb von Literatur und Karten wie die Entlohnung der am Atlas Arbeitenden teilten und sich gegenseig zu Erben einsetzten.3Die Beziehung wurde vertraglich geregelt; SPA ARCH MFV, Nachlass Stieler, Mappe 20/1, Bl. 4b–7b (Zitate aus § 2); tiefgründige Analyse des Vertrages bei Bryś, Justus Perthes Gotha, S. 31–35.

Der Rest ist Geschichte. Stielers Handatlas legte den Grundstein für den Aufstieg des Justus Perthes Verlages zu einem der bedeutendsten europäischen Kartenverlage. Stielers Atlas erschien seit 1817 über mehr als hundert Jahre hinweg in elf Ausgaben. Er war der „Mercedes“ der deutschsprachigen Atlaskartografie, der weltweit vertrieben wurde. Auf Stieler vor allem geht, wie jüngste Forschungen zeigen konnten, die Profilierung des Perthes Verlages zu einem Kartenverlag zurück, der von Stielers Generosität und kartografischer Leidenschaft erheblich profitierte.

Adolf Stieler starb 1836. Entsprechend den testamentarischen Vereinbarungen gingen alle Rechte an seinem Atlas an den Perthes Verlag über, damit zugleich Kartensammlung und Bibliothek. Es spricht vieles dafür, dass so auch das Handbuch Gasparis, aus dem Stieler seine Karten geschöpft hatte, in die Bibliothek des Verlages kam. Das Exemplar trägt alle Spuren dieses Übergangs – den Besitzstempel Stielers, die altertümlichen Signaturen auf dem Buchrücken und den Stempel für den Eingang in die Bibliothek des Verlages (Abb. 1). Aber ebenso spricht alles dafür, dass noch im Verlauf des 19. Jahrhunderts diese Ausgabe, die mit ihren 23 Bänden Platz beanspruchte, aussortiert wurde, weil es eine zweite Ausgabe in der Bibliothek gab. Dann verlieren sich ihre Spuren. Die Ausgabe verschwand, um erst wieder in den späten 1990er Jahren im Berliner Antiquariatshandel aufzutauchen. Es ist dem Blick eines informierten Wissenschaftlers zu verdanken, dass sie für die Sammlung Perthes zurückerworben werden konnte.

Doch geht es nicht nur um den Verlust und die Rückgewinnung von Büchern für die Sammlung Perthes. Der Glücksfall dieses Erwerbs verweist vielmehr auf eine der Geburtsstunden der Überlieferungen des Justus Perthes Verlages, die heute in der Sammlung Perthes bewahrt sind. Den Anfang bildet der Vertrag samt der testamentarischen Verfügung zwischen Adolf Stieler und Wilhelm Perthes, dem damaligen Inhaber des Perthes Verlages. In deren Folge gehen Stielers Karten und Bücher an den Verlag. Sie bilden die älteste Schicht der Kartensammlung und Verlagsbibliothek (Abb. 3).


Abb. 3: Bibliothek des Justus Perthes Verlages, 1906, FG Gotha, SPA-Bildarchiv A 1906.

Abb. 4: Historischer Bandkatalog der Verlagsbibliothek Perthes

An diese lagerten sich weitere Sammlungen an, unter diesen ragen die Arbeitsbibliotheken von August Petermann († 1878) und Hermann Haack († 1966) heraus. Vor allem aber sind es Tausende von Rezensionsexemplaren, die seit 1855 in „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ besprochen wurden. Bei Perthes wurde alles gesammelt, annotiert und rezensiert, was kartografisch und geografisch relevant war.

Die Verlagsbibliothek Perthes umfasst heute mehr als 120.000 Bücher und Zeitschriften, darunter 3.500 Atlanten. Hinzu kommen von den Kartografen des Verlages angelegte spezielle Materialsammlungen – mehr als 800 Konvolute, die angefüllt sind mit Sonderdrucken, Zeitungsausschnitten und Manuskripten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden systematische Ordnungen für die Bibliothek erstellt und die Bücher verzeichnet. Am Anfang steht ein 1884 angelegter, bis in die 1990er Jahre fortgeführter 14-bändiger systematischer Bandkatalog (Abb. 4), es folgten zahlreiche Zettelkataloge, darunter der älteste in Gestalt eines Kapselkataloges (Abb. 5), und dann schließlich ab 2008 die Online-Katalogisierung.


Abb. 5: Kapselkatalog der Verlagsbibliothek Perthes

Abb. 6: Kapselkatalog der Verlagsbibliothek Perthes, 1906

So verborgen die historischen Überlieferungen des Verlages in der Zeit der DDR auch immer blieben, zumindest waren die Bücher als „Wissenschaftliche Fachbibliothek“ an das Bibliothekssystem der DDR angeschlossen und so wurden die Bestände auch im Thüringer Zentralkatalog nachgewiesen.
Dennoch war nur wenigen bewusst, dass in Gotha eine der exzellentesten historischen Spezialbibliotheken für die Kartografie und Geografie bewahrt wird. Die außerordentliche Qualität dieser Bibliothek wurde sichtbar, als nach Erwerb der Sammlung Perthes 2003 mit Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft die Bibliothek im Gesamtkatalog des Gemeinsamen Bibliotheksverbundes (GBV) verzeichnet wurde, der heute als K10plus den Großteil der deutschen Buchbestände erfasst. Eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Erschließung war, dass mehr als ein Zehntel der Bücher im deutschsprachigen Raum nur in der Verlagsbibliothek Perthes nachzuweisen sind.

Abb. 7: Verlagsbibliothek der Sammlung Perthes im Perthes-Forum, 2015

Die seit 2014 in klimatisierten Magazinräumen des Perthes-Forums in einer modernen Rollregalanlage untergebrachte Bibliothek (Abb. 6) ist heute mühelos über Online-Kataloge recherchierbar. Umso mehr geht es um die Zukunft dieser einzigartigen Bibliothek, für deren Erschließung und Erhaltung noch viel zu tun ist. Kürzlich ist die Verzeichnung der Konvolute aufgenommen worden, die Einblicke in die Arbeitspraxis der Gothaer Kartografen ermöglichen. Wertvolle Einzelstücke werden restauriert, Bestände in säurefreien Kartonagen verpackt. Vor allem aber werden die seit 2009 laufenden systematischen konservatorischen Maßnahmen fortgesetzt, um die von Säurefraß und Papierzerfall betroffene Bibliothek zu erhalten, die hauptsächlich Druckschriften auf Papier des 19. und 20. Jahrhunderts überliefert.

Petra Weigel

Petra Weigel ist promovierte Historikerin und betreut seit 2008 die Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha.

Literatur

  • Jenny Bryś: Justus Perthes Gotha – die Profilierung zum kartographischen Verlag 1816 bis 1853, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 74 (2019), S. 19–54.
  • Andreas Christoph: Geographica und Cartographica aus dem Hause Bertuch. Zur Ökonomisierung des Naturwissens um 1800 (Laboratorium Aufklärung 16), München 2012.
  • Jürgen Espenhorst: Andree, Stieler Meyer & Co. Handatlanten des deutschen Sprachraums (1800–1945) nebst Vorläufern und Abkömmlingen im In- und Ausland. Bibliographisches Handbuch, Schwerte 1994.
  • Karl Hölscher: Die Bibliothek und die Karten-Sammlung der Geographischen Anstalt Justus Perthes in Gotha, Gotha 1901.
  • Werner Horn: Das kartographische Gesamtwerk Adolf Stielers, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 111 (1967), S. 312–326.
  • Franz Köhler: Gothaer Wege in Geographie und Kartographie, Gotha 1987.
  • Felicitas Marwinski, Christine Boxberger: Wissenschaftliche Fachbibliothek im Justus Perthes Verlag Gotha GmbH, in: Bernhard Fabian (Hrsg.), Günter Kükenshöner (Digitalisierung): Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Österreich, Hildesheim 2003; https://fabian.sub.uni-goettingen.de/fabian?Wissenschaftliche_Fachbibliothek_(Gotha). (letzter Abruf: 27.03.2023)
  • Wolfgang Struck: Justus Perthes‘ erste Karte, Beitrag für den Blog Karten-Meere, veröffentlicht am 15.07.2020/aktualisiert am 29.07.2021; https://kartenmeere.hypotheses.org/1. (letzter Abruf: 27.03.2023)
  • Petra Weigel: Die Sammlung Perthes Gotha (Reihe Patrimonia der Kulturstiftung der Länder 254), Gotha 2011, S. 17–20, 53–55.

Abbildungsnachweis

  1. Adam Christian Gaspari u.a.: Vollständiges Handbuch der neuesten Erdbeschreibung, Titelblatt des 23. Bandes, Weimar 1825 (mit dem Besitzstempel von Adolf Stieler und dem Bibliotheksstempel des Perthes Verlages), FB Gotha, SPN 8° 193 (7).
  2. Adolf Stieler, Vorlage für das Porträt Stielers im Ahnensaal des Perthes-Forums, in: Werner Horn: Die Geschichte der Gothaer Geographischen Anstalt im Spiegel des Schrifttums, in: Petermanns Geographische Mitteilungen 104 (1960), S. 271–287, Tafel 50.
  3. Bibliothek des Justus Perthes Verlages, 1906, FG Gotha, SPA-Bildarchiv A 1906.
  4. Historischer Bandkatalog der Verlagsbibliothek Perthes, angelegt ab 1883 von Richard Wendelmuth, fortgeführt u.a. von Karl Hölscher.
  5. Kapselkatalog der Verlagsbibliothek Perthes, 1906, FB Gotha SPA-Bildarchiv A 1906.
  6. Kapselkatalog der Verlagsbibliothek Perthes, 2023, FG Gotha, Foto: Petra Weigel.
  7. Verlagsbibliothek der Sammlung Perthes im Perthes-Forum, 2015, FB Gotha, Foto: Sergej Tan.
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