Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 7

/ April 29, 2020

Ernst Salomon Cyprians „Grotius“. Naturrecht im Dienst der lutherischen Spätorthodoxie

Der Gothaer Kirchenrat, Bibliotheksdirektor und renommierte Reformationshistoriker Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) gehört zweifellos zu den Hauptvertretern der lutherischen Spätorthodoxie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Porträt des Ernst Salomon Cyprian. FB Gotha, Inv.-Nr. 817 (CC BY-SA 4.0)

Diese Zuordnung hat jedoch Historiker dazu verleitet, Cyprian mit einem wenig differenzierenden Blick zu betrachten. Vielmehr schnüren viele ihn noch immer eng in das Korsett eines extrem konservativen, starren und rückwärtsgewandten Theologen. Dementsprechend wird das, was in seinem Leben und Werk als besonders, progressiv oder innovativ angesehen werden könnte, weitgehend ignoriert. So ist die Bedeutung des Naturrechts in Cyprians Schaffen bis in die jüngste Zeit hinein übersehen worden, gelten doch Vertreter dieser Rechtslehre, wie Samuel von Pufendorf (1632–1694), Christian Thomasius (1655–1728) und Christian Wolff (1679–1745), als bedeutende Wegbereiter der Aufklärung, und dazu kann Cyprian unmöglich gehören.

Cyprian hat nun aber den niederländischen Rechtsphilosophen Hugo Grotius (1583–1645) – einen der Gründungsväter der Naturrechtlehre – sehr geschätzt. 1709 gab er eine Ausgabe von dessen De veritate religionis Christianae (Über die Wahrheit der christlichen Religion) mit eigenen Kommentaren heraus. Eine Zweitauflage folgte 1726. Zudem überliefert Cyprians Biograph Erdmann Rudolph Fischer (1687–1776): „Nebst dem Worte Gottes und Lutheri Catechismo war sein liebstes Buch Grotius de iure belli & pacis, den er Standes-Personen offt erkläret, selbsten aber fast täglich zur Gemüths-Vergnügungen gelesen hat“.

Titelblatt von Cyprians Exemplar von Grotius’ „De jure belli ac pacis“. FB Gotha, Chart. B 1427 (CC BY-SA 4.0)

Cyprians Privatexemplar von Grotiusʼ De jure belli ac pacis (Über das Kriegs- und Friedensrecht) befindet sich heute in der Forschungsbibliothek Gotha und ist in der Digitalen Historischen Bibliothek Erfurt/Gotha online verfügbar. Dieser Druck aus dem Jahr 1701 ist mit eigenhändigen Notizen und Marginalien von Cyprian so übersät, dass er eine Handschriftensignatur erhalten hat, nämlich Chart. B 1427. Entsprechend dem mit einem Wahlspruch – „Bona conscientia paradisus“ (Ein gutes Gewissen ist das Paradies) – versehenen Besitzvermerk unten auf dem Titelblatt hatte Cyprian den Druck 1702 erworben. Bei einer ersten Auswertung der Notizen auf dem Workshop „Contrasting Readings of Grotiusʼ De iure belli ac pacis“ (Gotha, 26.11.2019) konnte Martin Mulsow feststellen, dass Kommentare lutherisch-orthodoxer Theologen und Rechtsgelehrten wie Johann Heinrich Boecler (1611–1672), Johann Adam Osiander (1622–1697), Heinrich Henniges (1645–1711) und Caspar Ziegler (1621–1690) Cyprians Lektüre begleitet haben. Ihre Leseart des Grotius ist von dem Naturrechtsverständnis Philipp Melanchthons (1497–1560) geprägt, der das Naturrecht als im Herzen des Menschen eingeschriebenes Gesetz Gottes aufgefasst hat.

Diese Erkenntnis überrascht nicht. Unerwartet – und scheinbar beispiellos – ist dagegen Cyprians Verwendung von naturrechtlichen Argumenten in den grundlegenden historiographischen Arbeiten zur Reformation, die Teile seines zur Lebensaufgabe gewordenen Widerlegung von Gottfried Arnolds (1666–1714) bahnbrechender Unparteyischen Kirchen- und Ketzerhistorie (1699/1700) bilden. Im Anschluss an einen naturrechtlichen Diskurs über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat schreibt Cyprian der Reformation drei größere Errungenschaften zu, die die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Europa tiefgreifend änderten:

1) Die Unabhängigkeit weltlicher Mächte vom politischen Einfluss des Papstes, die den Frieden förderte
2) Die Gewissensfreiheit
3) Die Abschaffung vom Aberglauben und Fortschritte in Bildung und Wissenschaft

Cyprian entwickelte diese argumentative Strategie, um dem Einfluss des Thomasius, der wie Arnold die Legitimität der Staatskirchen radikal untergrub, entgegenzuwirken. Er warf beiden vor, Ansichten zu propagieren, auf denen Verteidiger des Atheismus und des Libertinismus bauen könnten. Der Einfluss von Grotius und anderen Naturrechtlern auf Cyprians Historiographie lässt sich am Fehlen theologischer Argumente erkennen. War Cyprian ansonsten ein emsiger Verfechter der lutherischen Bekenntnisschriften, so diskutierte er in diesem Zusammenhang keine theologische Lehren. Dies wäre auch fruchtlos gewesen, da Arnold und seine Unterstützer verbindliche Lehren für weitgehend irrelevant oder gar schädlich hielten. Vielmehr befasste sich Cyprian mit politischen, sozialen, wirtschaftlichen und moralischen Folgen der Reformation, um möglichst breiten Zuspruch für seine Argumentation zu gewinnen.

Cyprian fand die Inspiration für seine umfassende wie eingehende Darstellung der Verbreitung der Reformation in Europa, die bis dahin beispiellos war, vermutlich ebenfalls bei Grotius. Ausgehend von der Prämisse, dass die beste bzw. wahre Religion diejenige sein müsse, die sich am weitesten verbreitet, stellt Grotius die explosive Ausdehnung der christlichen Religion in den ersten Generationen deren Bestehens als ein Wunder bzw. die Manifestation göttlicher Vorsehung dar. Analog dazu schreibt Cyprian von der „wundersamen Ausbreitung“ des Wortes Gottes in dessen erneut „reinem“ – das heißt für Cyprian lutherischem – Verständnis durch Europa im Laufe des 16. Jahrhunderts.

Noch zu untersuchen wäre, inwiefern die Argumentation in Cyprians kirchenpolitischen Gutachten auf Grotius beruht. Durch die Tiefenerschließung von Cyprians amtlichem Nachlass in jüngster Zeit (siehe die Ergebnisse in dem unten angegebenen Kalliope-Portal) ist der Weg zur Beantwortung dieser Fragestellung geebnet.

Verfasser: Dr. Daniel Gehrt, 28.04.2020

 

Literatur:

Erdmann Rudolph Fischer: Das Leben Ernst Salomon Cyprians … Leipzig 1749 (VD18 11391111).
Daniel Gehrt: Arguing for the Moral Necessity of Reformation History. Ernst Salomon Cyprian’s Historiographic Use of Natural Law in Defense of the Lutheran Church. In: Daniel Gehrt und Sascha Salatowsky (Hg.): Reforming Church History (in Vorbereitung).
Daniel Gehrt: Gottfried Arnold und Ernst Salomon Cyprian im Ringen um die historische Deutung des Christentums seit der Reformation. In: Sascha Salatowsky (Hg.): Im Kampf um die Seelen. Glauben im Thüringen der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt vom 30. April bis 9. Juli 2017. Gotha 2017, S. 51–59.
Ernst Koch und Johannes Wallmann (Hrsg.): Ernst Salomon Cyprian (1673–1745) zwischen Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Gotha 1996.

Web:

Volldigitalisat von Cyprians Exemplar von Grotius‘ De jure belli ac pacis (FB Gotha, Chart. B 1427) (letzter Zugriff: 29.04.2020).
Kalliope-Portal (letzter Zugriff: 29.04.2020).

 

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