Kurd Laßwitz als Philosoph und Naturwissenschaftler.

/ Oktober 17, 2020

Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 19
Zum 110. Todestag des Gothaer Gelehrten am 17. Oktober 2020

Abb. 1: Porträt von Kurd Laßwitz. 1900. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)

Kurd Laßwitz (1848–1910) ist heutzutage einer breiteren Öffentlichkeit, wenn überhaupt, nur noch als Science-Fiction- bzw. fantastischer Autor bekannt. Es sind vor allem die Romane „Auf zwei Planeten“ (1897) und „Sternentau“ (1909), die diesen Ruhm begründen. In Gotha kennt man Laßwitz noch als ehemaligen Lehrer des Gymnasium Ernestinum, wo er von 1876 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand zu Beginn des Jahres 1908 tätig war. Geht man dieser biographischen Spur weiter nach, so zeigt sich, dass Laßwitz Mathematik und Physik in Breslau, seiner Geburtsstadt, und Berlin studierte, 1873 mit einer Arbeit „Über Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind“ zum Dr. phil. promoviert wurde und ein Jahr später sein Staatsexamen für das höhere Lehramt in Mathematik, Physik, Geographie und Philosophie absolvierte. Dieser Studienweg verdeutlicht seine vorrangigen Interessen an den Naturwissenschaften und der Philosophie, was sich auch in seiner Publikationsliste niederschlägt. Viele dieser Schriften besitzt die Forschungsbibliothek Gotha in ihrer Erstauflage. Noch bedeutender ist freilich der hier bewahrte umfangreiche handschriftliche Nachlass von Laßwitz mit zahlreichen Manuskripten, Exzerpten, Materialien-Sammlungen, Briefen und Lebenszeugnissen, der Einblick in sein wissenschaftliches und literarisches Leben gibt. Dieser Nachlass ist ein von der Forschung noch nicht gehobener Schatz.

Bereits in seiner ersten größeren Publikation „Atomistik und Kriticismus. Ein Beitrag zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Physik“ (1878) äußerte Laßwitz die Überzeugung, dass Naturwissenschaft und Philosophie in einem Wechselverhältnis zueinander stehen, das vor allem im Naturbegriff begründet liegt: „Natur ist die Gesammtheit Alles dessen, was in unsere Wahrnehmung treten kann.“ (Laßwitz 1878, S. 10) Dazu gehört auch der Mensch selbst. Laßwitz behauptete nun: So weit die Naturwissenschaft auch mit der mechanischen Erklärung der Phänomene vordringen mag, so diffus bleibt ihr Begriff von der Natur – sichtbar an der uneinheitlichen Bestimmung des Atombegriffs –, da sie einen wesentlichen Faktor, nämlich die Natur selbst des erkennenden und erklärenden Subjekts, d.h. des Menschen, unberücksichtigt lässt. Laßwitz betonte die eminent wichtige Funktion von Immanuel Kants (1724–1804) kritischer Philosophie als Bewusstmachung dieser unhintergehbaren Weise des menschlichen Wahrnehmens der Welt. Das Ding an sich bleibt uns verschlossen; vielmehr erfassen wir die Dinge immer nur durch die Vermittlung unserer Sinne und begreifen sie im Rahmen einer gedanklichen Durchdringung. Kritik meint hier, sich dieser erkenntnistheoretischen Tatsache stets bewusst zu bleiben. Das Ergebnis ist dann ein Idealismus im Sinne eines empirischen Realismus. Er steht für das Zusammen von Naturwissenschaft und Philosophie, das für Laßwitz allein zu einem einheitlichen Naturverständnis führen kann.

Laßwitz verstand sich selbst als Popularisierer von Kants Philosophie, wie aus seiner Preisschrift „Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit“ von 1883 deutlich wird. Er war überhaupt der Ansicht, dass es Aufgabe der Wissenschaften sei, ihr Wissen in kritischer Haltung zu reflektieren und zu erklären. Die heute viel diskutierte Forderung nach einer Popularisierung der Wissenschaften finden wir bereits bei ihm. Nicht ohne Grund begründete er 1884 die Mittwochs-Gesellschaft in Gotha mit, in der er zahlreiche populärwissenschaftliche Vorträge hielt sowie Erzählungen, Gedichte und ähnliches mehr vortrug (eine Übersicht in Roob 1981, S. 145–148).

Laßwitz sah die Atomistik als die entscheidende Lehre für Naturwissenschaft und Philosophie an, beschäftigt sie sich doch mit dem Atom als die kleinste, uns fassbare Einheit der Natur. Was ist dieses Atom? Laßwitz hielt in seiner Schrift „Atomistik und Kriticismus“ den folgenden „kritischen Begriff“ des Atoms fest: „Die Undurchdringlichkeit, Untheilbarkeit, Starrheit desselben [sc. Begriffs] rührt nicht direct her von irgend welchen Eigenschaften einer noumenalen Welt, von der wir ja nur die Beziehung auf unsere Sinnlichkeit kennen, das Atom ist so wenig ein Ding an sich wie der Raum und die Materie; aber so gut wie wir den Raum nothwendig als dreifach ausgedehnt, die Materie als in demselben beweglich und undurchdringlich im Begriffe erzeugen, ebenso nothwendig erzeugen wir den Begriff von einem phänomenalen Gegenstand, welcher in all den wandelbaren Formen und Qualitäten der Körperwelt untheilbar, undurchdringlich und unverändert bleibt, erzeugen wir den Begriff des Atoms als einen Grundbegriff alles physikalischen Denkens.“ (Laßwitz 1878, S. 35) Dieses Zitat bestätigt die eben ausgeführte Erkenntnistheorie: Das Atom ist kein Ding an sich unabhängig von unserer Wahrnehmung, sondern ganz im Gegenteil eine Erscheinung (ein phänomenaler Gegenstand), die wir durch unsere Sinne aufnehmen und die von uns nur aufgrund unserer Erfahrungen, gewonnen durch den Vergleich mehrerer Phänomene, zu einem Begriff verdichtet werden kann.

Abb. 2: Laßwitz‘ Hauptwerk zur Geschichte der Atomistik, Bd. 1. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)

Hatte die Schrift „Atomistik und Kriticismus“ ein überwiegend erkenntnistheoretisches Interesse, so ging es Laßwitz in seiner großen, zweibändigen Studie „Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton“ (1890) um die Aufhellung des historischen Ursprungs des Atombegriffs und seiner Entwicklung vom frühen Mittelalter bis ins frühe 18. Jahrhundert hinein mit dem großen Physiker und Entdecker der Schwerkraft Isaac Newton (1643–1727) als Endpunkt. Dieses eintausend Seiten umfassende Werk schildert die Atomistik als die überzeugendste Theorie der Materie, die für Laßwitz Naturwissenschaft und Philosophie auch nach Kant weiterhin prägte. Laßwitz benötigte für die Abfassung seines Opus magnum unzählige Schriften von Gelehrten, die er in der „herzoglichen Bibliothek zu Gotha“ fand (Laßwitz 1890, Bd. 1, S. VII), bei dessen Bibliothekaren Wilhelm Pertsch (1832–1899) und Heinrich Georges (1852–1921) er sich herzlich bedankte. Die unmittelbare und nachfolgende Rezeption dieses Werks ist noch nicht aufgearbeitet. Für Wilhelm Dilthey (1833–1911), der mit seinem Schüler Laßwitz über viele Jahre in einem freundschaftlichen Briefaustausch stand, ist dieses Buch „nach feststehendem Urteil zu den gelehrtesten und scharfsinnigsten Arbeiten zu zählen, die in den letzten 20 Jahren geschrieben worden sind.“ (Brief an Wilhelm Stieda, 17. Juni 1896, in Dilthey 2019, S. 62)

Die Atomistik wäre für Laßwitz aber nicht richtig aufgearbeitet, wenn man nicht zugleich deren Gefahr im „ordinären Materialismus“ erkennen würde. In seiner Schrift „Aufgaben der Volksbildung“, die 1877 in der Wochenschrift „Schlesische Warte“ in mehreren Teilen erschien, hat Laßwitz energisch eine Trennlinie zwischen dem theoretischen Materialismus der Wissenschaften und dem ethischen Materialismus gezogen, der für die Gesellschaft ausgesprochen schädlich sei. Egoismus, ein falscher Begriff von Freiheit und ein „fade(r) zersetzende(r) Cultus der Wirklichkeit“ (Laßwitz 1877, S. 135), der nur um sich selbst kreist und keine tiefe Idee zu fassen in der Lage ist, erschienen Laßwitz als Auswüchse eines Industrialismus – von Kapitalismus sprach er nicht –, die mit einer Aufklärung im Sinne einer philosophischen und zugleich idealen Auffassung der Welt und des Lebens zu überwinden seien. Gedanken, die auch in heutiger Zeit ihre Aktualität nicht verloren haben.

Verfasser: Dr. Sascha Salatowsky, 15.10.20

Bibliographie:
Wilhelm Dilthey: Briefwechsel. Bd. III: 1896–1905. Hrsg. von Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing. Göttingen 2019.
Kurd Laßwitz: „Aufgaben der Volksbildung“, in: Schlesische Warte (1877), Nr. 10–16. Moderne Ausgabe in: Laßwitz: Natur und Mensch und andere Vorträge und Aufsätze (1869–1885). Herausgegeben von Dieter von Reeken. Lüneburg 2009, S. 113–155.
Kurd Laßwitz: Atomistik und Kriticismus. Ein Beitrag zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Physik. Braunschweig 1878. Moderne Ausgabe in: Laßwitz: Ueber Tropfen, welche an festen Körpern hängen und der Schwerkraft unterworfen sind [Dissertation]. Atomistik und Kriticismus. Ein Beitrag zur erkenntnistheoretischen Grundlegung der Physik. Reprografische Nachdrucke der 1873 bzw. 1878 erschienenen Originalausgaben. Herausgegeben von Dieter von Reeken. Lüneburg 2008, S. 98–217 [mit Originalpaginierung: S. 1–111].
Kurd Laßwitz: Die Lehre Kants von der Idealität des Raumes und der Zeit im Zusammenhange mit seiner Kritik des Erkennens allgemeinverständlich dargestellt. Berlin 1883. Moderne Neuausgabe: Herausgegeben von Dieter von Reeken. Lüneburg 2010.
Kurd Laßwitz: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton. Erster Band. Die Erneuerung der Korpuskulartheorie. Hamburg und Leipzig 1890. Moderne Ausgabe: Reprografischer Nachdruck. Herausgegeben von Dieter von Reeken. Lüneburg 2008.
Helmut Roob: Kurd Laßwitz. Handschriftlicher Nachlass und Bibliographie seiner Werke. Mit einer Einleitung von Hans Schlösser. Gotha 1981.

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