Vom Lehnstuhl in die Arktis: Wie Adolf Mühry nach Spitzbergen kam
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 34
Während in Preußen der Sieg der Schlacht bei Sedan gefeiert wurde, traten die Teilnehmer der zweiten deutschen Polarexpedition nach Ausfall des Dampfkessels ihre Rückreise unter Segel an. Als sie am 11. September 1870 in Bremerhaven einliefen, waren die ersten Meldungen, mit denen sie konfrontiert wurden, die Ereignisse des Deutsch-Französischen Krieges.1Verein für die Deutsche Nordpolarfahrt (Hrsg.): Die zweite deutsche Nordpolarfahrt in den Jahren 1869 und 1870 unter Führung des Kapitän Karl Koldewey, Bd. 1. Leipzig 1873, S. 689–693. Der Gothaer Geograph und Kartograph August Petermann (1822–1878) ließ es sich nicht nehmen, in seinem Bericht über die Rückkehr der Expedition den Forschern affektvoll zu attestieren, dass dieses
„Häuflein Schiffbrüchiger […], im friedlichen Dienste der Wissenschaft, aber gleichfalls mit Deutschem Heldenmuth, ein Jahr lang, meist in entsetzlicher Lage, gegen die Naturgewalten gerungen und sich glücklich durchgeschlagen hatten.“2August Petermann: Rückkehr der Deutschen Nordpolar-Expedition am 1. und 11. September 1870, in: Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie 16 (1870), S. 382.
Die Publikationen der Ergebnisse der zweiten Deutschen Polarfahrt sollten zunächst auf sich warten lassen. Sie erschienen in der darauf folgenden Zeit fragmentarisch in diversen Zeitschriften und 1873 und 1874 als umfassende Expeditionsberichte.
Im Archiv der Schriftleitung zu „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ befindet sich ein im Umfang nicht unbeachtlicher Bestand mit dem Titel „Dr. A. Mühry Polarforschung/ Nordpol“. Es erscheint sonderbar, dass Mühry (1810–1888) innerhalb der Publikationen zur zweiten deutschen Polarfahrt kaum Erwähnung findet, obgleich das arktische Thema spätestens seit 1861 die extensive Korrespondenz zwischen Adolf Mühry und August Petermann mit steigender Tendenz durchzog.
Adolf Mühry, der sich nach seinem Studium der Medizin als Privatgelehrter in Göttingen vor allem mit (bio)klimatologischen Fragen auseinandersetzte, führte mit Petermann seit Ende der 1850er Jahre eine rege Korrespondenz. Beide Wissenschaftler verband nicht nur ihre Begeisterung für die Arktis, sondern auch, dass sie sich in ähnlichen Forschungsfeldern bewegten; sie waren sich gleichermaßen in ihrem wissenschaftlichen Habitus in einem Punkt sehr ähnlich: beide waren Lehnstuhlgelehrte, die selbst nie ins Feld gingen und sich ihre Daten und Informationen durch weitgreifende Netzwerke beschafften. Nichtsdestotrotz gab es einen eklatanten Unterschied. Während es Petermann verstand, sich medienwirksam sowohl in der Fachwelt als auch in der Öffentlichkeit zu platzieren, um somit nicht zuletzt für seine Projekte zu werben, folgte Mühry einer anderen Maxime:
„Ich beneide Sie jedoch nicht um Ihren Ruhm, weil ich überhaupt Ruhm nicht für ein Glück halte, sondern wirklich für Wahrheit: ‚Qui bene vixit bene latuit‘“3Brief von Adolf Mühry an August Petermann, 13.06.1868, in: SPA-ARCH-PGM 074/2: Mühry, Adolf (Korrespondenz 1867–1871) Bl. 235v.
„Gut hat der sein Leben geführt, der sich gut verborgen hat“, ein Zitat aus den Triesten Ovids.
Wenngleich Mühry sich weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückhielt, erarbeitete er sich über die Jahre hinweg eine gewisse Autorität innerhalb der Scientific Community. Für Petermann war Mühry ein Gewährsmann in meteorologischen, ozeanographischen und klimatologischen Fragen und er griff im Kontext verschiedener Unternehmungen und Publikationen immer wieder auf die Expertise Mührys zurück. So auch bei der Planung der zweiten deutschen Polarexpedition. Mühry beriet Teile der Mannschaft, schlug Routen und Orte zur Überwinterung vor und bemühte sich stets, mit Bemerkungen den Plan der Polarfahrt zu optimieren sowie Petermann in seinem Vorhaben zu unterstützen. Das Interesse Mührys entzündete sich hierbei insbesondere an dem in weiten Teilen unbekannten klimatischen System der arktischen Region, dessen Verständnis für ihn substanziell war, um die globalen Wind- und Strömungssysteme zu erklären. Gleichwohl stellten die politischen Dimensionen – und insbesondere die Verstrickungen mit Preußen – der deutschen Polarfahrt einen Störfaktor für ihn dar. Nachdem die Polarfahrt infolge ihrer Rückkehr durch Akteure in Berlin sowohl wissenschaftlich als auch politisch vereinnahmt wurde, machte Mühry seine antipreußischen Ressentiments, die in der Revolution von 1848 gründeten und die er immer wieder unterstrich,4Nicola Theus: Adolf Adalbert Mühry (1810–1888). Leben und Werk des Göttinger Arztes unter besonderer Berücksichtigung der medizinischen Geographie. Göttingen 1997, S. 6–7; für ein frühes Beispiel in der Korrespondenz mit Petermann vgl. den Brief von Adolf Mühry an August Petermann, 30.11.1865, in: SPA-ARCH-PGM 074/2: Mühry, Adolf (Korrespondenz 1867–1871) Bl. 174–175. noch einmal deutlich und schrieb Petermann:
„so nehme ich Gelegenheit an die richtige Behörde mich zu wenden, mit dem Ersuchen, dass mein Name niemals genannt werde in irgend einer der dazu gehörenden Arbeiten, wie auch dass auf der Karte Bezeichnung damit geschehen möge. […] Sie scheinen zur Zeit nahe verbunden zu sein mit Berlin; erlauben Sie die Bemerkung, dass ich Ihnen dahin nicht folgen werde.“5Brief von Adolf Mühry an August Petermann, 02.02.1871, in: SPA-ARCH-PGM 074/2: Mühry, Adolf (Korrespondenz 1867–1871) Bl. 356.
Dieser Brief dürfte wohl der ausschlaggebende Grund gewesen sein, dass Mühry in den Publikationen zur zweiten deutschen Polarexpedition fast keine Erwähnung fand. Lediglich im Abschnitt zu den Instruktionen wurde Mühry mit einem Brief zur Dichte des Wassers neben anderen Wissenschaftlern angeführt.6Verein für die Deutsche Nordpolarfahrt (Hrsg.): Die zweite deutsche Nordpolarfahrt in den Jahren 1869 und 1870 unter Führung des Kapitän Karl Koldewey, Bd. 1. Leipzig 1873, S. LIX. Doch hatte diese Episode damit noch keineswegs ihren Abschluss gefunden.
Indes fanden die deutschen Polarunternehmungen im Maßstab der zweiten deutschen Polarexpedition hiernach keine Fortsetzungen mehr; stattdessen waren es vielmehr kleinere private Unternehmungen, die im arktischen Raum die Forschungen weiter vorantrieben. Hierzu zählte ebenso die im Sommer 1870 unternommene Fahrt des Grafen Karl von Waldburg-Zeil (1841–1890), der gemeinsam mit dem bisher als Afrikaforscher bekannten Theodor von Heuglin (1824–1876) nach Ostspitzbergen fuhr. Sie setzten die Forschungen im Polarmeer dort fort, wo die zweite deutsche Polarexpedition aufgehört hatte.7August Petermann: Die Erschliessung eines Theiles des nördlichen Eismeeres durch die Fahrten und Beobachtungen der Norwegischen Seefahrer Torkildsen, Ulve, Mack, Qvale und Nedrevaag im Karischen Meere, 1870 in: Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie 17 (1871), S. 98.
Mit Verwunderung dürfte Adolf Mühry im Mai 1871 die von Petermann übersandten Bögen aus „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ studiert haben, die den Bericht über die Schlittenfahrt Julius Payers sowie die Ergebnisse der Expedition Heuglins und Waldburg-Zeils inklusive einer Karte enthielten:
„Dass mein Name auch die Ehre erfahren hat, einem Cap beigelegt zu werden, kann ich nicht als eine Nichtbeachtung eines ausgesprochenen Wunsches ansehen, da dieser allerdings nur auf die in Berlin angefertigte Karte sich bezog. Ich finde mich dort oben nun in guter Gesellschaft stehen und nehme die Ehre dankbar an, ohne Einwendung zu erheben.“8Brief von Adolf Mühry an August Petermann, 02.05.1871, in: SPA-ARCH-PGM 074/2: Mühry, Adolf (Korrespondenz 1867-1871) Bl. 365.
Zwischen diversen anderen Größen der zeitgenössischen Meteorologie und Physik fand Adolf Mühry seinen Namen auf der Karte verzeichnet; denn obschon Mühry sich weitgehend öffentlichen und jeglichen politischen Vereinnahmungsversuchen entzog, dürfte ihn die Benennung und Verzeichnung des Kaps mit Genugtuung erfüllt haben:
„Alle blöde Bescheidenheit einmal abgelegt, es wäre eine Einfältigkeit, wenn ich nicht wüsste, dass ich mir auch auf dem Polargebiete, in der Hydrographie und Meteorologie einen Namen erworben habe. Die Nachwelt wird nicht umhin können, diesen anzuerkennen.“9Brief von Adolf Mühry an August Petermann, 12.01.1871, in: SPA-ARCH-PGM 074/2: Mühry, Adolf (Korrespondenz 1867–1871) Bl. 352v.
Inwieweit Mührys Prognose im Hinblick auf die wissenschaftliche Rezeption seiner Werke zutrifft ist noch unklar. In einem Punkt kann sie jedoch einen Anspruch auf Richtigkeit erheben: noch heute trägt die Felsenküste im Osten Spitzbergens den Namen des Göttinger Klimatologen.10https://data.npolar.no/placename/88b635fd-6123-5a07-835d-721b501abd76 (Letzter Zugriff: 01.12.2021)
Verfasser: Dominic Keyßner
Literatur:
Felsch, Philipp, Wie August Petermann den Nordpol erfand, München 2010.
Theus, Nicola, Adolf Adalbert Mühry (1810-1888). Leben und Werk des Göttinger Arztes unter besonderer Berücksichtigung der medizinischen Geographie, Dissertation, Göttingen 1997.
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