Bücher auf Abwegen – die eigenmächtige Fernleihe des Max von Oppenheim aus der Bibliothek des Verlagshauses Justus Perthes Gotha
Die Bibliothek des Verlagshauses Justus Perthes Gotha galt einst als erstklassige geographische und kartographische Fachbibliothek (Abb. 1). Ihr Bestand speiste sich aus den privaten Büchersammlungen ihrer führenden Kartographen und zahlreicher Rezensionsexemplare, die in den hier herausgegebenen Geographischen Mitteilungen1Ab 1855 erscheinen die von August Petermann herausgegebenen „Mittheilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie“. In den Folgejahren wechselte mehrfach der Titel, bis die Zeitschrift 2004 eingestellt wurde. besprochen wurden. Heute umfasst die daraus entstandene Bibliothek der Sammlung Perthes, die Teil der Forschungsbibliothek Gotha ist, 120.000 Bände.
Von jeher gehörte das Verleihen von Büchern zu den Kernaufgaben der Bibliothek. Nahezu jeder deutsche Geograph oder Forschungsreisende, der auf sich hielt, stieg in die dritte Etage des Verlagshauses hinauf, wo der Bücherschatz seinen Platz hatte, um Expeditionen zu unbekannten Gestaden vorzubereiten oder nach glücklicher Rückkehr zusammen mit den Kartographen des Hauses die Reisen auszuwerten. Bis heute halten die Besucherbücher diese Namen fest.
Doch bisweilen erzählen auch die Bücher selbst von ungewöhnlichen Reisen wie jenes Exemplar von Henry Swainson Cowper „Through Turkish Arabia“ (Abb. 2), das momentan in der Ausstellung zum 375. Jubiläum der Forschungsbibliothek „Bücher bewegen“ zu sehen ist. Der in grünen Kaliko gebundene Band trägt auf dem Einband eine in Gold geprägte reisende Karawane und erschien 1894 bei W.H.Allen & Co. in London. Vermutlich ist das Werk als Rezensionsexemplar in den Bestand gekommen, denn noch im selben Jahr erscheint in Dr. A. Petermann’s Mitteilungen eine Besprechung des österreichischen Geologen Carl Diener2Dr. A. Petermann’s Mitteilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt, Bd. 40, 1894, S. 162. Dieser resümiert:
„Das Buch enthält keinerlei wissenschaftliche Beobachtungen oder geographisch wertvolle Mitteilungen, ist jedoch anziehend geschrieben und gibt ein gutes Bild von der Art des Reisens und den Lebensverhältnissen in den Landstrichen, die es behandelt und die in der modernen Reiseliteratur ziemlich vernachlässigt erscheinen.“
Dieses Urteil scheint den Bankierssohns Max von Oppenheim (1860–1946; Abb. 3) nicht davon abgehalten zu haben, sich eben jene Publikation aus dem Bestand des Hauses Perthes zu erbitten, die in Deutschland wohl schwer zu beschaffen war. Oppenheim, der nur wenig Ambitionen verspürte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, ging zeitlebens lieber seiner Leidenschaft für den Orient nach. Ende 1892 brach der junge Baron selbst zu seiner ersten Reise in den Nahen Osten auf. Nach seiner Rückkehr schrieb er im Oktober 1894 an den Perthes Verlag:
„… ich wäre Ihnen daher außerordentlich dankbar, wollten Sie es [das Buch] mir umgehend schicken, in einigen Tagen könnten Sie es wieder zurück erhalten, hier ist dasselbe nämlich weder in der k[öniglichen] Bibliothek noch in der Buchhandlung erhältlich und es aus England schicken zu lassen erfordert zu viel Zeit.“
Allerdings kehrte Cowpers „Through Turkish Arabia“ vorerst nicht in „einigen Tagen“ nach Gotha zurück, sondern ging wohl unbeabsichtigt in den Bestand der Büchersammlung des Freiherrn über und begleitete ihn auch auf seinen Umzug von Berlin nach Kairo. Erst nach über viereinhalb Jahren fiel das Versehen auf und der reumütige Leser schreibt in einem weiteren Brief an das Gothaer Verlagshaus:
„Beifolgend gestatte ich mir Ihnen Ihr Buch […] zurückzusenden, indem ich Sie vielmals um Entschuldigung bitte, daß irrtümlicherweise dasselbe so lange von mir zurückgehalten wurde. Abgesehen davon ist bei meiner Übersiedlung hierher durch einen weiteren Irrtum mein eigener Stempel in das Buch gedrückt worden und bitte ich Sie auch dies verzeihen zu wollen.“3Brief Max v. Oppenheim an die Redaktion von Petermann’s Mitteilungen, Kairo, 11.06.1899. FB Gotha, SPA ARCH PGM 417, Bl. 50. (Abb. 4)
Mit einem lakonisch an den Rand geschriebenen „sehr freundlich“ kommentiert man im Verlag kurz den Eingang.
Heute steht der Band wieder an seinem Platz im Perthes-Forum und trägt noch immer die Spuren jener Odyssee in sich: auf dem Titelblatt den Eingangstempel des Justus Perthes Verlages und auf dessen Rückseite jenen des Max Freiherrn von Oppenheim (Abb. 5). Die Publikation kann noch immer entliehen werden, allerdings nicht mehr außer Haus.
Sven Ballenthin
Informationen zur Ausstellung finden Sie hier: https://www.uni-erfurt.de/forschungsbibliothek-gotha/bibliothek/aktuelles/bibliotheksjubilaeum/ausstellung
Den Flyer zur Ausstellung finden Sie hier: https://www.uni-erfurt.de/fileadmin/Bilddatenbank/Veranstaltungen/Poster_Flyer/Flyer_Ausstellung_FBG_2022.pdf