Zwischen Dichtung und Wahrheit – Mertin Taubers Bericht über das russische Reich zur Zeit Iwans IV.
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 49
Im zähen Ringen zwischen Schweden, Polen-Litauen, Dänemark und Russland um die Vorherrschaft im Ostseeraum führte der russische Großfürst und erste Zar Iwan IV. (1530–1584) Krieg gegen den livländischen Teil des Deutschen Ordens. In der Schlacht bei Ermes (Ērģeme) am 2. August 1560 wurden rund 70 Ordensmitglieder gefangengenommen, darunter der Landmarschall von Livland, der Komtur in Golding und ein Rittermeister des Rigaer Stifts.
Die meisten wurden in den folgenden Tagen hingerichtet, die anderen nach Moskau gebracht. Zu den letzteren zählte Mertin Tauber (Abb. 1). Nach mehreren Jahren Gefangenschaft war er wieder auf freiem Fuß und verließ in den 1570er Jahren das russische Reich. In der Zwischenzeit war der Ordensstaat Livland aufgelöst geworden. Der letzte Landmeister des Deutschen Ordens, Gotthard Kettler (1517–1587), regierte das neugegründete Herzogtum Kurland und Semgallen unter der Lehnshoheit Polens. Tauber kehrte nicht in seine livländische Heimat zurück, sondern brach zum Harz in Mitteldeutschland auf, um offenbar dort einen Neuanfang zu machen. Rückblickend verfasste er einen Bericht, der heute als zeitgenössische Abschrift in einem Sammelband in den Beständen der Forschungsbibliothek Gotha einmalig überliefert ist (Chart. B 307, Bl. 29r–130r). Welche Einsichten in das zeitgenössische Geschehen zwischen Baltikum und Ural bietet diese Darstellung und welchem Zweck diente sie?
Der Titel der hundert Quartblätter umfassenden Handschrift lautet: „Warhafftiger vnnd grundtlicher bericht vom Keyser vnd Großfürsten Eyuan, sonsten vff Moschkawittersch Czer Kneßwelykyjuan Wassylawytzsch genandt, wie Er sein Reich in so kurtzen Jharen vermehret, dasselbe auch wiederumb von Jhme selbst, durch greuliche Tyranney geschwecht vnd gefallen ist“ (Abb. 2). Auf den ersten zwölf Blättern (Bl. 31r–42v) schildert Tauber kurz die Eroberung von Kazan und Astrachan – zwei Nachfolge-Khanate der Goldenen Horde an der Wolga – durch Iwan IV. in den 1550er Jahren, die militärischen Einfälle und Erfolge des Zaren in Livland seit 1558 sowie sein persönliches Schicksal infolge der Schlacht bei Ermes 1560. Dabei will Tauber seine deutschsprachige Audienz, die „teutsche Nation“ (Bl. 34r), vor der russischen Expansion warnen. Der Bericht war somit auch ein Aufruf zur Unterstützung.
Der Hauptteil des Berichts (Bl. 42v–121v) widmet sich der Terrorherrschaft Iwans IV. seit Mitte der 1560er Jahre im Inneren des Landes, die dem Zaren den Beinamen „groznyj“ einbrachte. Das russische Wort heißt so viel wie „ehrfurchtgebietend“ oder „Furcht einflößend und Gehorsam fordernd“. Im Deutschen wird es in diesem Kontext mit „der Schreckliche“ übersetzt. Ähnlichkeiten in Aufbau und Inhalt sowie wortwörtliche Übereinstimmungen zeugen von der engen Anlehnung der Gothaer Handschrift an die bekannte Darstellung, die die ebenfalls in der Schlacht bei Ermes gefangengenommenen livländischen Adligen Johann Taube und Elert Kruse 1572 verfasst hatten. Offenbar diente letztere als Vorlage für den später entstandenen Text von Mertin Tauber.
Dies gilt auch für den Druck „Erschreckliche/ greuliche vnd vnerhorte Tyranney Jwan Wasilowitz/ jtzo regierenden Großfürsten in Muscow“ (Bl. A3v–G1r), den der 1580 nach Litauen gereiste Amtmann von St. Georgen bei Naumburg Georg vom Hoff 1582 veröffentlichte (Abb. 3). Dieser Befund macht misstrauisch, gibt doch jede Quelle einen anderen Augenzeugen als Verfasser desselben Texts an. Der Bericht von Taube und Kruse ist zwar wegen seiner Rarität als ausführliche zeitgenössische Darstellung über die Jahre der Terrorherrschaft des ersten Zaren von großer kulturhistorischer Bedeutung. Dennoch ist die Zuverlässigkeit der mitgeteilten Informationen fraglich. Taube und Kruse waren sowohl aus livländischer als auch aus russischer Sicht Verräter. Nach ihrer sechsjährigen Gefangenschaft in Moskau traten sie in den Dienst des Zaren. Sie sollten die Stände in Altlivland dazu bewegen, sich der russischen Oberherrschaft zu unterstellen, was jedoch nicht gelang. In einer Kehrtwendung mobilisierten sie 1571 in Dorpat (Tartu) einen Aufstand gegen Russland. Nach dessen Scheitern flohen sie nach Polen. Durch ihren Bericht über die Willkür und Brutalität, mit der der Zar gegen die Bojaren und die Hierarchen der russisch-orthodoxen Kirche vorgegangen war, wollten sie sich 1572 bei Gotthard Kettler, Herzog von Kurland und Semgallen, von ihrer eigenen Verwicklung in der Machtkonsolidierung des Staatsoberhaupts freisprechen.
Als kurzer Einblick in die Erzählung sei hier ein Auszug aus der Darstellung des Massakers von Nowgorod 1570 angeführt, ein Racheakt wegen des vermeintlichen Verrats der lokalen Kirche gegenüber dem Zaren:
„Als der Grosf[ürst Iwan IV.] nun Funff tage in lauterem blutt getobet, Jst er Auffgebrochen seinen weg nach der Statt Nouogorda zugenommen, Dieselbige gleicherweise geplündert, den Ertzbischoff zu Nouogorda gefangen nehmen […], hernacher Allen seinen schatz genommen, Jhme aber noch am Leben vorschonet. Darauff alle Vermügene Äbte, Pfaffen, Kauff-Herrn vnd andere Burger, wehr die da in guttem Vermügen wahren, etzliche Dausendt gefangen nehmen, dieselbigen Peinigen vnd martern laßen, Das sie sagen musten, wo ihr geldt vnd Kirchenschetze wehren, Alles Haußgerethe, Keßel, Zinwerck, Alle wahr, Wachs, Flachs, Dalch, Vngegerbte vnd gegerbte Heutte, ließ er Vor der Statt verbrennen, die Kramerwahren Als Samet, Seyden vnd gewandt, ward vndter seine lose Buben Alles Preiß gegeben, Disch, Benck, Fenster, Thüren vnd Pforten Zerhawen, Auß den Kirchen vnd Clöstern spolyrt, die Klocken, Priesterliche Zierde Vnd geschier mit hinwegk genohmen […]“ (Chart. B 307, Bl. 92v–93v).
Wegen der persönlichen Interessen von Taube und Kruse und der schmalen Quellenlage zur Gegenprüfung – für das Massaker von Nowgorod sind beispielsweise keine lokalen Darstellungen von Einheimischen überliefert – bleiben die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit in dieser Darstellung sehr verschwommen. Die drei miteinander verwandten Texte sind in erster Linie Zeugnisse von der Entstehung eines Fremdbilds, das bis in die moderne Geschichtsschreibung nachwirkt.
Im Unterschied zu den beiden anderen Überlieferungen enthält die Gothaer Handschrift zwei Anhänge, in denen Mertin Tauber die geographische Ausdehnung der russischen Herrschaft (Bl. 121v–127r) (Abb. 4) und seinen Weg von Moskau über Dorpat (Tartu), Wilna (Vilnius), Danzig (Gdansk), Stargard (Szczeciński), Berlin und Leipzig bis nach Harzgerode (Bl. 127v–130r) beschreibt (Abb. 5). Er ist nach damaligen Maßen insgesamt 406,5 „teutsche Meilen“ gereist. Das entspricht ungefähr 3.000 km. Neben den Entfernungsangaben der Route führt er gelegentlich vereinzelte Informationen zu den Orten an. Wie im Hauptteil zeigt er ein starkes Interesse an Flüssen und Wasserwegen, welche auch von militärischer Bedeutung waren. Die Größe der Metropole Moskau, die damals mehr als 41.500 Häuser und Hofstatten (Bl. 130r) umfassen sollte, beeindruckte ihn. Nach Tauber wurde der beste Met (Honigwein) in der litauischen Stadt Kaunas gebraut. So ist die Gothaer Handschrift teilweise auch als Reisebericht anzusehen.
Als Taubers Bericht 2008 im Rahmen der Katalogisierung der Reformationshandschriften der Forschungsbibliothek Gotha erschlossen wurde, war er der osteuropäischen Forschung unbekannt. Eine eingehende Analyse dieser mehrschichtigen Handschrift steht noch aus.
Daniel Gehrt
Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.
Quellen
- Johann Taube und Elert Kruse: IV. Zar’ Iwan der Grausame. Sendschreiben an Gotthard Kettler, Herzog zu Kurland und Semgallen, 1572, in: Johann Philipp Gustav Ewers und Moritz Engelhardt (Hrsg.): Beiträge zur Kenntniß Rußlands und seiner Geschichte, Bd. 1/1. Dorpat 1816, S. 185–238. Volldigitalisat: https://gdz.sub.uni-goettingen.de/download/pdf/PPN331839202/LOG_0031.pdf
- Georg VomHoff: Erschreckliche/ greuliche vnd vnerhorte Tyranney Jwan Wasilowitz/ jtzo regierenden Großfürsten in Muscow/ so er vorruckter Jar an seinen Blutsuerwanten … vnd gemeinem Landtuolck vnmenschlicher weise … geübet … s.l. 1582 (VD16 ZV 15289). Volldigitalisat: https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb10200449?page=,1
Literatur
- Alexandre Benoit: Johann Taube and Elert Kruse. A Broken Window on Ivan IV’s Oprichnina, in: Canadian-American Slavic Studies 54/4 (2020), S. 329–386 (mit kritischer Edition des Berichts von Taube und Kruse).
- Jan Hennings: Ivan IV. „der Schreckliche” und Peter I. „der Große“ – zwischen Schreckenherrschaft und aufgeklärter Despotie, in: André Krischer und Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.): Tyrannen. Eine Geschichte von Caligula bis Putin. München 2022, S. 121–136.
- Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft, beschrieben von Daniel Gehrt. Wiesbaden 2015, S. 1065.
- Cornelia Soldat: A Case Lacking Contemporaneous Local Sources. The ‘Sack of Novgorod’ in 1570, in: Ben Kiernam (Hrsg.): The Cambridge World History of Genocide. Cambridge 2023, S. 99–117.
- Edward Thaden: Ivan IV in Baltic German Historiography, in: Russian History 14 (1987), S. 377–394.