Zum Festjahr „500 Jahre evangelisches Gesangbuch“
Johann Christoph Olearius’ Gesangbuchsammlung und die Anfänge der Hymnologie.
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 52
Im zweiten Obergeschoss des Ostflügels von Schloss Friedenstein, neben einem der kunstvoll restaurierten herzoglichen Gemächer mit geografischer Literatur, verbirgt sich ein schlichter Raum von überragendem Wert. Hier wird die reichhaltige Gesangbuchsammlung der Forschungsbibliothek Gotha aufbewahrt, „eine der größten und bedeutendsten Gesangbuchsammlungen zur Frühen Neuzeit in Deutschland“ (Salatowsky 2012, S. 72). Schwarze oder braune Buchrücken reihen sich hier aneinander – unterbrochen von grauen Boxen, in denen besonders fragile Gesangbücher mit ausgeprägten Benutzungsspuren liegen. Unter den etwa 3.000 Bänden befinden sich Gesangbücher der verschiedenen Konfessionen seit dem 16. Jahrhundert aus dem Alten Reich und darüber hinaus. Darunter befinden sich zahlreiche territoriale Gesangbücher für den gottesdienstlichen und schulischen Gebrauch, aber auch Gesangbücher für die Hausandacht oder auch für bestimmte Personengruppen wie Reisende, Kranke oder Kinder.
Die Gesangbücher verdeutlichen, wie das Kirchenlied seit der Reformation eine wichtige Funktion für die Vermittlung der evangelischen Botschaft und der Glaubenspraxis übernommen hat. Seit dem 17. Jahrhundert sind Gesangbücher Teil der hymnologischen Beschäftigung. Einer der Begründer dieser neuen Wissensdisziplin war der Arnstädter Superintendent Johann Christoph Olearius (1668–1747). Mit seiner Leidenschaft für Kirchenlieder sammelte er über 15.000 Kirchenlieder und gab zahlreiche Gesangbücher heraus. Damit setzte er seine hymnologischen Erkenntnisse in die Praxis um, trug wesentlich zur Bewahrung und Verbreitung des evangelischen Kirchenlieds bei und förderte die Verwissenschaftlichung der Disziplin. Davon zeugt sein 1702 veröffentlichter „Kurtzer Entwurff einer nützlichen Lieder-Bibliotheck“ (Theol 8° 804), in dem er die Verfasserschaft sowie die Entstehungsumstände der Lieder zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung machte. Sein persönliches Exemplar mit den fortlaufenden handschriftlichen Ergänzungen ist ebenso in der Bibliothek erhalten wie sein handschriftlicher „Index scriptorum Hymnod[icorum]“ (Chart. B 1694). Das Verzeichnis enthält alle Drucke, die er bis 1732 für seine hymnologischen Studien erwarb und die sich zu diesem Zeitpunkt in seinem Besitz befanden.
Die Forschungsbibliothek Gotha verdankt Olearius den Kern ihrer Gesangbuchsammlung. Bereits 1735 hatte er sie der Herzoglichen Bibliothek zum Kauf angeboten. Seine Sammlung sollte für die Nachwelt geschlossen erhalten bleiben: In diesem Sinne schrieb er am 13. Juni 1735 an den Gothaer Kirchenrat und Bibliotheksdirektor Ernst Salomon Cyprian (1673–1745):
„Mein zunehmendes Alter, da ich bald das 68. Jahr antreten werde, vermehret freylich die Schwachheit und verursachet abnehmende Kräffte, daß [ich] nicht mehr so eyffrig, wie in vorigen Jahren sowohl in diesen, als andern curieusen Studii, seyn kann; daher auch mein seitheriger Fleiß in colligendis Autographis Lutheri ebenfalls abnimmt, dabey mich aber resolviret, noch bey meinem Leben sothane collection, die längst über 900. Stück sich belauffen und mir viel Mühe, Sorge, correspondenz, Reisen, auch paares Geld gekostet, einer vornehmen Bibliotheck zu überlassen.“ (Chart. A 436, Bl. 76r–83v, hier Bl. 76rv)
Olearius’ Wunsch, seine Sammlung in die Herzogliche Bibliothek aufzunehmen, sollte sich allerdings erst ein halbes Jahrhundert nach seinem Tod erfüllen: 1793 erwarb Herzog Ernst II. von Sachsen Gotha-Altenburg (1745–1804) die berühmte Gesangbuchsammlung für die Herzogliche Bibliothek auf Schloss Friedenstein. Sie umfasste nach einem beim Ankauf angefertigten Verzeichnis (Chart. B 2056) 350 Nummern mit fast tausend Einzeltiteln. Davon sind heute noch ca. 270 Titel in der Forschungsbibliothek erhalten.
Die Gesangbuchsammlung von Olearius enthält mehrere herausragende Titel. Eines der besonders begehrten Gesangbücher war das sogenannte „Achtliederbuch“, das erste evangelische Gesangbuch, das 1524 in Nürnberg von dem Drucker Jobst Gutknecht herausgegeben wurde. Es enthielt vier Lieder Martin Luthers, drei Lieder von Paul Speratus (1484–1551) sowie ein anonymes Lied. Da Olearius zunächst keine Ausgabe dieses Druckes finden konnte, fertigte er sich eine Abschrift des Druckes aus dem Besitz des Hymnologen Georg Serpilius (1669–1728) an (Cant.spir 8° 959). Diese Abschrift diente ihm als Grundlage für eine Neuauflage des „Achtliederbuchs“, die er 1717 anlässlich des Reformationsjubiläums herausgab.
1723 gelang es ihm, ein gedrucktes Exemplar vom Arnstädter Numismatiker Christian Schlegel (1667–1722) zu erwerben (Cant.spir 8° 959). Auch heute ist das Achtliederbuch eine Rarität, von der nur noch wenige Exemplare existieren.
Zu den besonders interessanten und ungewöhnlichen Stücken der Sammlung zählt eine Handschrift mit 53 lutherischen Liedern samt deren Auslegungen in altgriechischer Übersetzung vom Tübinger Professor Martin Crusius (1526–1607) (Chart. A 1027). Warum aber wurden diese Lieder übersetzt? Crusius, ein angesehener Gräzist, verfolgte das Ziel, die griechisch-orthodoxe Kirche für das Luthertum zu gewinnen. Zu diesem Zweck stand er in Kontakt mit dem griechisch-orthodoxen Patriarchen, doch trotz jahrelanger Bemühungen blieb sein Missionsvorhaben erfolglos (Gehrt 2023).
Heute wird die Gothaer Gesangbuchsammlung intensiv von Forschenden genutzt, bietet sie doch aufgrund ihrer Plurimedialität ein weitreichendes, interdisziplinäres Forschungspotenzial zu kirchen- und frömmigkeitsgeschichtlichen sowie kulturwissenschaftlichen, musik- oder auch literaturhistorischen Fragen. Im Themenjahr „Reformation und Musik“ der Reformationsdekade widmete die Forschungsbibliothek Gotha der Gesangbuchsammlung eine Ausstellung, zu der 2012 ein Katalog erschienen ist.
Außerdem werden die unikalen, nur in der Forschungsbibliothek vorhandenen Gesangbücher nach und nach digitalisiert und in den digitalen Sammlungen der Bibliothek online für Wissenschaft und Öffentlichkeit zugänglich gemacht.
Hendrikje Carius
Hendrikje Carius ist promovierte Historikerin, Leiterin der Abteilung Benutzung und Digitale Bibliothek sowie stellvertretende Direktorin der Forschungsbibliothek Gotha.
Quellen
- Johann Christoph Olearius: Brief an Ernst Salomon Cyprian. Arnstadt, 13. Juni 1735. FB Gotha, Chart. A 436, Bl. 76r–83v. URN: urn:nbn:de:urmel-ufb-193566-8-01611.
- Johann Christoph Olearius: Register derer Autorum, welche die, in dem letztern Gothaischen Gesang-buche befindliche, Lieder gemacht haben, ex Edit: 1729. 12. also eingerichtet, daß solches nicht Nur zu dem Gothaischen Gesang-buche kan gebraucht werden, sondern auch zu einer kurtzen Historie derer Lieder Autorum dienen. FB Gotha, Chart. A 436, Bl. 78r–83v. URN: urn:nbn:de:urmel-ufb-193566-8-01659.
Literatur
- Daniel Gehrt: „Ein’ feste Burg“ in Altgriechisch? Das gelöste Rätsel einer Gothaer Liedersammlung, in: Blog der Forschungsbibliothek Gotha, 15.03.2023. URL:
https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2023/03/ein-feste-burg-in-altgriechisch-das-geloeste-raetsel-einer-gothaer-liedersammlung/. - Sascha Salatowsky: Evangelischer Lieder-Schatz. Johann Christoph Olearius und seine Gesangbuchsammlung, in: Kathrin Paasch (Hrsg.): Mit Lust und Liebe singen“. Die Reformation und ihre Lieder. Gotha 2012, S. 72–77.
- Kathrin Paasch (Hrsg.): „Mit Lust und Liebe singen“. Die Reformation und ihre Lieder. Gotha 2012.
- Kathrin Paasch: Exakte Abschrift des ersten protestantischen Gesangbuchs entdeckt, in: Blog der Forschungsbibliothek Gotha, 22.05.2012. URL: https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2012/05/exakte-abschrift-des-ersten-protestantischen-gesangbuchs-entdeckt/.
Abbildungsnachweis
- Gesangbücher im Ostflügel von Schloss Friedenstein.
- Kupferstichporträt des Olearius um 1707. FB Gotha, Cant.spir 8° 1343.
- Titelblatt des Bibliotheksverzeichnisses des Olearius von 1732. FB Gotha, Chart. B 1694.
- Abschrift des Achtliederbuchs von der Hand des Olearius. FB Gotha, Cant.spir 8° 959.
- Erstausgabe des so genannten Achtliederbuchs von 1523/24 aus der Gesangbuchsammlung des Johann Christoph Olearius. FB Gotha, Cant.spir 8° 959.