Japan sammeln
Bruno Hassenstein und die Sammlung japanischer Karten in Gotha
Ansichten des Fuji
In der gedämpften Stille des Lesesaals der Sammlung Perthes entfaltet sich ein Stück Kartengeschichte. Eine japanische Karte aus dem Jahr 1843, deren Dimensionen die Kapazität der Tische im Lesesaal nahezu übersteigt, breitet sich in ihrer Vollständigkeit aus. Kunstvoll auf der Karte dargestellt, kommen grüne Berge, blaue Seen, Flüsse und der heilige Berg Fuji in einem goldenen Farbton zum Vorschein. Die abgebildete Landschaft, ergänzt durch japanische Nomenklatur, ergibt ein Bild von ‚den 13 Provinzen‘, von denen aus der Berg Fuji zu sehen ist. Diese Karte von ‚den 13 Provinzen‘ aus der späten Edo-Zeit (1600–1868), die die Topographie des entfernten Inselreichs Japan wiedergibt, ist Teil der Sammlung Perthes geworden und wird sorgfältig in einer Konvolutmappe der Kartensammlung aufbewahrt. Bei näherer Betrachtung der Karte drängt sich die Frage auf: Wie kam diese Karte nach Gotha?
Der Sammler und Kartograph
Dass diese und weitere originale japanische Karten aus dem 19. Jahrhundert in der Sammlung Perthes überliefert sind, ist auf den Kartographen Bruno Hassenstein (1839–1902) zurückzuführen. Bereits mit 15 Jahren begann Hassenstein 1854 seine kartographische Ausbildung in einem der führenden europäischen Kartenverlage, Justus Perthes Gotha, unter der Anleitung und als einer der ersten Schüler von August Petermann (1822–1878). Nach Petermanns Tod im Jahr 1878 übernahm Hassenstein die Kartenredaktion der von Petermann seit 1855 herausgegebenen „Mittheilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt“, die seit 1878 den Namen Petermanns im Titel führten,1Der Titel der Zeitschrift änderte sich mehrfach, hier wird im folgenden die heute übliche Bezeichnung „Petermanns Geographische Mitteilungen“ (PGM) verwendet. und war weiterhin bis zu seinem Tod als Kartograph für den Verlag aktiv. In seiner über 50-jährigen kartographischen Tätigkeit schuf er insbesondere Karten zu Afrika und Japan sowie nicht zuletzt Kartenblätter von Zentralasien, die die Routen des Forschungsreisenden Sven Hedin (1865–1952) verzeichneten.2Weigel, Smolarski 2018, S. 110–111. Getrieben von beruflichem und privatem Interesse an Japan, widmete sich Hassenstein in den Jahren 1879 bis 1887 intensiv der Kartierung des Landes. Für seine Forschungen sammelte er hydrographische, trigonometrische und topographische Karten Japans, die heute einen wesentlichen Teil des Japankarten-Bestands der Sammlung Perthes ausmachen.3Kartenkonvolut Japan, in japanischer Schrift : 1843-1900 : Kartensammlung, Forschungsbibliothek Gotha, SPK 30.15.b.06 C (01). Dieser Beitrag wirft ein Schlaglicht auf die Entstehung dieser bemerkenswerten Kartensammlung, illustriert am Beispiel der Karte von ‚den 13 Provinzen‘ (Abb. 1).
Wege der Karte ‚von den 13 Provinzen‘ nach Gotha
Am 25. Februar 1879 erhielt Hassenstein Post von dem Geographen und Japanreisenden Johannes Justus Rein (1835–1918) aus Marburg. Diese Sendung enthielt neun japanische Karten, darunter war auch die Karte ‚von den 13 Provinzen‘.4Johannes Justus Rein an Bruno Hassenstein, 25. Februar 1879, Forschungsbibliothek Gotha, SPA ARCH PGM 150/1, Bl. 141. Der genaue Weg dieser Karte von Yokohama nach Gotha ist aus dem Briefwechsel zwischen Hassenstein und Rein nicht eindeutig nachvollziehbar. Rein, der Japan von 1873 bis 1875 im Auftrag des preußischen Handelsministeriums bereiste, sammelte während seines Aufenthalts zahlreiche japanische Karten. In seinen akribisch geführten Tagebüchern dieser Zeit ist die besagte Karte als vierter Eintrag im Anhang verzeichnet.5Rein 2021, S. 256. Vermutlich hat Rein die Karte von ‚den 13 Provinzen‘ auf einer der vielen lokalen Ausstellungen erworben, die er gemeinsam mit seinem Japanischlehrer, Übersetzer und Begleiter, Sanda Tadashi (1847–1905), besuchte. Der Preis der Karte ist nicht überliefert. In einem Brief an seine Frau erwähnte Rein lediglich den Kauf einer großen japanischen Karte für einen Dollar,6Johannes Justus Rein an Maria Elisabeth Caroline von Rein, 16. Januar 1874, in: Conrad (Hrsg.), Rein 2006, S. 162. Den Hinweis auf diesen Brief verdanke ich Tobit Nauheim (Bonn). ohne zu spezifizieren, ob es sich dabei um die Karte von ‚den 13 Provinzen‘ handelte, was jedoch gut möglich ist. Anfang September 1875 beendete Rein seinen Aufenthalt in Japan. Vor seiner Abreise versandte er mehrere Kisten mit gesammelten Objekten per Schiff von Yokohama an verschiedene Orte nach Deutschland.7Johannes Justus Rein an Maria Elisabeth Caroline von Rein, 10. September 1875, in: Conrad (Hrsg.), Rein 2006, S. 383. In einer dieser Kisten dürfte auch die Karte von ‚den 13 Provinzen‘ gewesen sein.
Schwierigkeiten beim Verständnis einer Japan-Karte
In Gotha angekommen, war die Karte für Hassenstein jedoch weitgehend unbrauchbar, da er kein Japanisch sprach. Er benötigte für die Weiterführung seiner Arbeit eine Übersetzung ihrer Legende und Toponyme. Deshalb sandte er die Karte von ‚den 13 Provinzen‘ zusammen mit einer Übersetzungsanfrage an Sanda,8Bruno Hassenstein an Sanda Tadashi, 30. Juli 1879, Forschungsbibliothek Gotha, SPA ARCH PGM 150/1, Bl. 27–29. der 1879 in London als konsularischer Sekretär tätig war. Sanda gelang es, lediglich die Symbole in der Legende zu übersetzen, da der begleitende Text in klassischem Chinesisch (Kanbun) verfasst war, eine Schrift, die er nicht lesen konnte. Aus dem Schriftwechsel zwischen Sanda und Hassenstein geht nicht hervor, ob er für seine Dienste bezahlt wurde. Nachdem die Karte von ‚den 13 Provinzen‘ mit der teilweise übersetzten Legende aus London nach Gotha zurückgekehrt war, begann Hassenstein mit der weiteren Bearbeitung. Er nutzte trigonometrische Berechnungsverfahren, um die Karte auf ein handlicheres Format zu reduzieren. Dieser Schritt war erforderlich, damit Hassenstein in der nächsten Phase seiner Arbeit die geographischen Informationen der Karte von ‚den 13 Provinzen‘ auf seine eigene Darstellung der ‚Umgegend der Bai von Tōkio und des Vulkans Fuji-No-Yama‘ übertragen konnte. Abonnenten von „Petermanns Geographischen Mitteilungen“ hatten 1879 die Möglichkeit, diese Karte als Anhang zu Reins Artikel über dessen Besteigung des Berges Fuji zu betrachten.9Rein 1879, S. 365–376. Sie visualisierte neben der von Rein gewählten Aufstiegsroute auch die Höhenbestimmung des Vulkans. Viele der japanischen Karten der Sammlung zeichnen sich durch solche Annotationen aus, was eines ihrer charakteristischen Merkmale darstellt (Abb. 2).
Japan-Karten in Gotha – Arbeitsmaterial und Schauobjekt
Das Beispiel der Karte von ‚den 13 Provinzen‘ dürfte repräsentativ für den Großteil der japanischen Karten in der Sammlung sein. Obwohl die genauen Wege, Preise und Hintergründe einiger Karten der Sammlung nicht immer klar nachvollziehbar sind, deuten Briefe, Notizen und Eintragungen auf den Karten darauf hin, dass sie über Kontakte in Tokyo beschafft und dann per Schiff von Japan über Nordamerika nach Deutschland transportiert wurden. Wie die Karte von ‚den 13 Provinzen‘ so wurden auch andere Karten der Sammlung innerhalb Europas versandt – etwa nach London oder Berlin –, um Toponyme und Legenden übersetzen zu lassen. Seine japanische Kartensammlung diente Hassenstein jedoch nicht nur als Arbeitsmaterial; 1881 präsentierte er sie auch auf einer Ausstellung in Gotha.10o.V., 1881. Den Hinweis verdanke ich Anna-Maria Hünnes (Erfurt/Gotha). In diesem Moment wurde die japanische Kartensammlung aus ihrem ursprünglichen Zweck als Arbeitssammlung herausgelöst und in den Kontext einer öffentliche Schausammlung überführt, die der lokalen Öffentlichkeit zugänglich war.
Forschungspotenziale
Die Sammlung japanischer Karten in der Sammlung Perthes hat bislang noch keine angemessene Beachtung gefunden. Das ist umso überraschender, als die Sammlung mit mehr als 800 Blättern jenseits von Japan als eine der größten Sammlungen neuzeitlicher Japankarten anzusprechen ist. Eine eingehende Betrachtung dieser Karten verspricht lohnenswerte Erkenntnisse, nicht nur bezüglich der kartographischen Darstellung und des geographischen Verständnisses Japans, sondern auch hinsichtlich der komplexen interkulturellen und wissenschaftlichen Austauschprozesse geographischen Wissens zwischen Japan und Europa im 19. Jahrhundert. Besonders hervorzuheben ist dabei die Beteiligung japanischer Geographen an diesen Transferbeziehungen, wie etwa Yamasaki Naomasa (1870–1929), ein ehemaliger Student Reins, der seine Forschungsergebnisse in „Petermanns Mitteilungen“ publizierte.11Yamasaki 1902, S. 245–253. Zudem lässt sich anhand dieser Karten diskutieren, wie wirtschaftliche Interessen, das Sammeln von Karten und die Produktion von geographischem Wissen über Japan ineinandergreifen. Es ist an der Zeit, das Potenzial dieser Kartensammlung zu nutzen und sie in den Fokus intensiverer Forschungen zu rücken.
Patrick Müller
Patrick Müller M.A. ist Historiker und promoviert am Nachwuchskolleg „Wissensgeschichte der Neuzeit“ des Forschungskollegs Transkulturelle Studien /Sammlung Perthes der Universität Erfurt.
Gedruckte Quellen
- Sebastian Conrad (Hrsg.): Johannes Justus Rein: Briefe eines deutschen Geographen aus Japan 1837–1875. München 2006, S. 97–392.
- Johannes Justus Rein: Der Fuji-No-Yama und seine Besteigung, in: Dr. A. Petermann’s Mitteilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt 25 (1879), S. 365–376. Zum Digitalisat
- Johannes Justus Rein: Verzeichnis meiner jap. Karten, in: Tobit Nauheim, Shigekazu Kusune, Winfried Schenk (Hrsg.): Japan 1873–1875: Die Tagebücher des Bonner Geographieprofessors Johannes Justus Rein, Bd. 2. Bergisch-Gladbach 2021, S. 56–262.
- Naomasa Yamasaki: Morphologische Betrachtung des japanischen Binnenmeers Setouchi, in: Dr. A. Petermann’s Mitteilungen aus Justus Perthes‘ Geographischer Anstalt 48 (1902 ), S. 245–253. Zum Digitalisat
- o. V.: Naturgeschichtliche und geographische Ausstellung, in: Gothaisches Tageblatt vom 21. Dezember 1881.
Literatur
- Andreas Dix: Das Fremde verstehen: Strategien der visuellen Erschließung Japans durch Europäer in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: kunsttexte.de, Sektion Gegenwart und Künste, Medien, Ästhetik, 2 (2020), S. 1–13. Open access (pdf): https://doi.org/10.48633/ksttx.2020.2.88584
- Alrun Schmidtke: Mapping a Distant Empire: Bruno Hassenstein’s Atlas of Japan (1885/1887), in: Holt Meyer, Susanne Rau, Katharina Waldner (Hrsg.): Space Time of the Imperial. Berlin 2017, S. 367–393.
- Petra Weigel, René Smolarski: Werkstätten der Kartographie des 19. Jahrhunderts, in: Eyk Henze (Hrsg.): Flachware 4. Jahrbuch der Leipziger Buchwissenschaft. Stuttgart 2018, S. 107–121.