200 Jahre August Heinrich Petermann – Kartograph. Manager. Netzwerker
200 Jahre August Heinrich Petermann – Kartograph. Manager. Netzwerker
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 43
Verfasser: Dr. Petra Weigel, Leiterin der Sammlung Perthes
Am 18. April vor 200 Jahren wird August Heinrich Petermann in Bleicherode am Südrand des Harzes in die Familie eines niederen Justizbeamten hinein geboren. Zwei Jahre, von 1836 bis 1838, besucht er das Gymnasium in Nordhausen. Doch die dort gepflegte klassisch philologische Ausbildung sprechen den aufgeweckten, an modernen Sprachen, an Geographie und Karten interessierten Jungen nicht an. Theologe und Jurist – die damals typischen Lebenswege erfolgreicher Abiturienten – sind nicht Petermanns Weg.
So sieht es auch sein Vater. Er erreicht, dass sein Sohn 1839 an der in Potsdam neugegründeten „Geographischen Kunstschule“ angenommen wird. Ihr Initiator und Leiter ist Heinrich Berghaus, damals unbestritten der bedeutendste Vermesser, Geograph und Kartograph in Deutschland. Berghaus ist vernetzt und ein selbständiger Unternehmer mit einer Mission für die Karte. Er eröffnet dem begabten, wenig bemittelten 16jährigen, dem er das Schulgeld erlässt und den er in seinen Haushalt aufnimmt, eine „geographische Carriere“, wie Petermann Jahre später, 1853, an Bernhardt I Perthes schreiben wird.
Petermann gewinnt einen Mentor, einen väterlichen Freund, der ihn – überblickt man Petermanns Werk – nachhaltig prägen wird. Als Autor des aufstrebenden kartographischen Verlags Justus Perthes Verlag in Gotha bezieht Berghaus seinen Schüler in seine Kartenprojekte ein, vor allem den „Physikalischen Atlas“. Bei Berghaus erlernt Petermann das Handwerk des Kartographen. Petermanns zeichnerische Begabung trifft auf Berghaus‘ innovative topgraphische und thematische Kartenpraxis und deren Popularisierung. Und Petermann lernt bei Berghaus mit Alexander von Humboldt und Carl Ritter die Pulsgeber der sich findenden geographisch-kartographischen Wissenschaften kennen.
Nicht zuletzt formen diese Einflüsse und Begegnungen ein Selbstbewusstsein, mit dem der 23-jährige Petermann auf internationales Parkett tritt. 1845 geht er, sicher auf Empfehlung von Berghaus, nach England, zunächst nach Edinburgh, wo er am Verlag Johnston & Comp. an der englischen Ausgabe von Berghaus‘ „Physikalischem Atlas“ mitarbeitet. Ab 1847 sieht man Petermann in London. In der Welthauptstadt der Geographie gründet er ein kleines selbständiges kartographisch-lithographisches Unternehmen.
Noch im Jahr seines Wechsels nach London wird Petermann Mitglied der Royal Geographical Society, 1850 deren Sekretär. In London entwickelt sich Petermann zu dem brillanten Netzwerker, der seine Verbindungen zu Forschungsreisenden, Wissenschaftlern und Diplomaten zeit seines Lebens für seine Projekte nutzen wird. Hier kommt er mit den brennenden geographischen Fragen seiner Zeit in Berührung und gibt auf diese entschiedene, mitunter unbequeme und, wie wir heute wissen, auch falsche Antworten.
Petermann denkt über die Tiefe des Toten Meeres nach und entwirft neuartige Palästinakarten. Er vermutet die Männer der seit 1845 verschollene Expedition John Franklins an einem eisfreien, vom Golfstrom erwärmten Nordpol und versucht dies mit Dutzenden von Karten zu beweisen, die über das Jahr hinweg die Temperatur- und Strömungsverhältnisse der arktischen Regionen abbilden. Er kartiert die Bevölkerungsverteilung auf den britischen Inseln, die Choleraausbrüche, die die Großstädte Englands seit den 1830er Jahren immer wieder heimsuchen, und die tausenden Schiffswracks, die im Meer vor England liegen. Petermanns Karten werden so zu analytischen Medien der rasanten Industrialisierung Großbritanniens mit all ihren Folgen. Zugleich greift Petermann in das große Geschäft der Entdeckung, Erforschung und europäischen Vereinnahmung Afrikas ein. Er setzt die Teilnahme von zwei deutschen Forschern, Heinrich Barth und Alfred Overweg, an der Nordafrika-Expedition des englischen Missionars James Richardson durch. Petermann sichert sich damit auch ein lukratives Publikationsprojekt, denn er erhält die Autorenrechte an der Veröffentlichung der Ergebnisse der spektakulären Expedition.
Petermanns umtriebiges Wesen bleibt in Deutschland nicht unbemerkt. In der Zeitschrift der damals einzigen deutschen geographischen Vereinigung, den Monatsberichten der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, spricht man 1852 von Petermann als dem „allbekannten deutschen Geograph“. Und auch Petermann lässt seine Verbindungen nach Deutschland nicht abbrechen. Nicht zuletzt, weil sich Petermann Anfang der 1850er Jahre zunehmenden Anfechtungen seiner, sicher schwierigen, Person und seiner gewagten, kompromisslos vorgetragenen Thesen ausgesetzt sieht. Zugleich gerät sein privatwirtschaftliches Unternehmen in Turbulenzen. In dieser Drucksituation knüpft Petermann an die Verbindungen aus der Potsdamer Zeit an.
Seit 1852 besucht Petermann wiederholt Gotha, vor allem der Perthes Verlag ist sein Ziel, für den er als Berghaus‘ Kartographenlehrling schon Karten gezeichnet hat. Für Petermann, so schreibt er in seinem Bewerbungsschreiben im Oktober 1853, sei Perthes die „Pflanzschule der berühmtesten Geographen“ (er meint August Stieler, Heinrich Berghaus und Emil von Sydow) und in der ersten Jahrhunderthälfte zur „größten Geographischen Produktions-Anstalt der Welt“ geworden. Doch trotz dieser elegant unterwürfig formulierten Worte ist Petermann kein Bittsteller. Denn in Gotha ist man an diesem dynamischen Kartographen mit internationalem Flair, kühnen Thesen und einer zu erwartenden vielversprechenden Publikation der Afrika-Expedition von Richardson und Barth höchst interessiert. Der Perthes Verlag, der um 1810 in das Geschäft mit den Karten eingestiegen und Deutschlands führender, nahezu konkurrenzloser Kartenverlag ist, steht vor großen Umbrüchen. Karten sind en vogue, aber um Marktführer zu bleiben, bedarf es der Ausweitung der Produktionskapazitäten, einer moderneren, mechanisierten und damit auflagenstärkeren Kartenproduktion in eigenen Verlagsgebäuden, lukrativer Produkte und eines über Deutschland hinaus strahlenden Renommees. Und vor allem letzteres verspricht der eloquente, gut vernetzte Petermann.
1854 wird Petermann Chefkartograph des Perthes Verlags. Was man sich von Petermann erwartet, zeigen die Vorschusslorbeeren, die er erhält. Er wird zwar angestellt, aber er hat weitgehende Spielräume, die sich nach dem unerwartet frühen Tod von Bernhardt I Perthes 1857 noch einmal deutlich ausweiten werden. Und im gleichen Jahr seiner Entscheidung für Gotha ernennt Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha Petermann zum Professor und die Universität Göttingen verleiht ihm den Doktortitel.
Der Wechsel auf die Zukunft, den Petermann und Bernhardt I Perthes 1854 vereinbaren, gelingt. Die nachfolgenden fast 30 Jahre gehen als „Ära Petermann“ nicht nur in die Geschichte des Perthes Verlages und der Stadt Gotha, sondern auch in die Geographie- und Kartographiegeschichte ein. Gotha wird zum Hauptschauplatz, zum Zentrum der modernen Kartographie. Diesen Ruf hat Gotha über die Zeitläufte hinweg bis heute behalten, nicht zuletzt wegen der in der Forschungsbibliothek Gotha bewahrten Sammlung Perthes, die auch aus dem Wirken Petermanns hervorging und die von den Erben des Verlags 2003 in die öffentliche Hand, den Freistaat Thüringen, übertragen worden ist.
Auf Petermann ist es zweifellos zurückzuführen, dass die deutsche Sprache bis in das 20. Jahrhundert hinein eine lingua franca der geographischen Wissenschaften ist. Denn Petermann begründet mit seinen „Mitteilungen aus Justus Perthes‘ geographischer Anstalt“, die vom Februar 1855, also sofort mit Petermanns Situierung in Gotha, bis 2004 erscheinen, die bedeutendste geographisch-kartographische Zeitschrift im deutschen Sprachraum. Petermann greift auf ältere Ideen und Vorbilder zurück. Sicher stand ihm das „Journal der Royal Geographical Society“ vor Augen und ebenso das nur kurzzeitig von 1850 bis 1852 erscheinende „Geographische Jahrbuch“ seines Lehrers Berghaus. Doch Petermann schwebt deutlich Größeres vor. Seine Zeitschrift, die zwölf Hefte im Jahr umfasst, erscheint in einem monatlichen Takt und sie ist unverwechselbar. Denn neben einer immer mehr aufschäumenden Annotations- und Rezensionsrubrik, deren besprochene Bücher und Karten die Sammlungen des Verlages am Ende auf 120.000 Buchbände und 185.000 Kartenblätter anschwellen lassen werden, sind es Karten, die Petermann im Fokus hat.
So schreibt Petermann im Editorial des ersten Heftes seiner Mitteilungen im Februar 1855, dass sich seine Zeitschrift „dadurch von ähnlichen Schriften unterscheiden [wird], dass sie auf sorgfältig bearbeiteten Karten das Endresultat neuer geographischer Forschungen zusammenfassen und graphisch veranschaulichen wird.“
Petermann „Mitteilungen“, die seinen Namen nach 1878 offiziell tragen werden, sind ein Portal der sich etablierenden Raumwissenschaften, die Karten als ihre epistemischen Instrumente verstehen. In den jeweils zwölf Heften der Jahrgänge erscheinen unter Petermanns Ägide durchschnittlich 30 bis 40 Karten. Es sind Karten, die vor den Standardisierungen des 20. Jahrhunderts entstehen. Sie eröffnen Möglichkeiten, die später nicht mehr gesehen, vergessen werden; sie erproben Formen, Stile und Kolorierungen. Sie werden begleitet von Kommentaren, die das Kartenwissen benennen, analysieren, kritisch hinterfragen und auf Leerstellen verweisen. Petermanns „Mitteilungen“ werden so zum Experimentierraum der Kartographie. Aus diesem Raum diffundieren kartographische Entwürfe und Versuchsanordnungen in die Überarbeitung der Atlanten und Schulwandkarten des Perthes Verlages. Stielers Handatlas, seit 1810 das Leitprodukt des Perthes Verlags, wird unter Petermann grundlegend erneuert.
Petermanns „Mitteilungen“ geben ein Versprechen, was Karten können – aktuell, modern, verlässlich zu sein, das zeitgenössische Wissen visuell und die Vorstellungen von der Welt überzeugend zu visualisieren. Aus diesem Versprechen gewinnt der Perthes Verlag seinen Kredit und die kritische Kartographie des späten 20. Jahrhunderts ihre Fragen.
Fast über 30 Jahre hinweg ist Petermann der Motor des Perthes Verlags. Mit einer erstaunlichen Energie organisiert Petermann mehrere Afrika- und Polarexpeditionen, formuliert deren Forschungsagenden, sammelt Gelder und verkämpft sich in der Gründung einer Deutschland übergreifenden geographische Gesellschaft. Als Ein-Mann-Unternehmen führt er die „Mitteilungen“ als das wissenschaftliche Flaggschiff des Verlages und pflegt ein Korrespondenten-Netzwerk von fast 1.000 Forschern, Wissenschaftlern und Autoren. Petermann wird zur Spinne im Netzwerk der Kartographie des 19. Jahrhundert und schaufelt sein Wissen, nachdem er es sorgsam gefiltert hat, monatlich in die Spalten seiner Zeitschrift hinein.
Als sich Petermann im späten September 1878 58-jährig das Lebens nimmt, ist er auf dem besten Weg seine Lebensziele zu erreichen. Aber er scheint, wenn wir das hier vorsichtig andeuten dürfen, daran nicht geglaubt zu haben. Jenseits aller Mutmaßungen, die uns Nachgeborenen angesichts einer derart radikalen Entscheidung nicht zustehen, bleibt aber festzuhalten, dass Petermanns Freitod in Umbrüche fiel, deren Herausforderungen er sich über kurz oder lang hätte stellen müssen. Als Verlagskartograph wäre er mit der zunehmenden Konkurrenz der sich an den Universitäten etablierenden Geographie-Lehrstühlen und den sich gründenden geographischen Gesellschaften konfrontiert worden. Diese werden das wissenschaftliche Geschäft der Kartographie Ende des 19. Jahrhunderts übernehmen.
August Petermann (1822–1878) – 200 Jahre später bleibt zu fragen, wie die Leistung eines der bedeutendsten deutschen Kartographen und Geographen des 19. Jahrhunderts zu beurteilen ist. Kurz gesagt: Unsere Karten von der Welt sähen ohne Petermann anders aus, wie auch die Geschichte der Entdeckung und Erforschung der Erde im 19. Jahrhundert ohne Petermann nicht zu schreiben wäre. Das sahen offenbar schon die Zeitgenossen, denn kein anderer als Jules Verne lässt Petermann als Protagonisten einiger seiner Romane auftreten.
Auf die Länge gesprochen: Petermann verdient es über die Heroengeschichten hinaus, die in diesem Jahr anlässlich seines 200 Geburtstages erscheinen werden und denen auch dieser Beitrag zuzurechnen ist, neu betrachtet zu werden. Die erste und letzte Biographie August Petermanns ist 1911 erschienen.
veröffentlicht 22. April 2022
Quellenangaben
Der Beitrag profitiert von:
- Imre Josef Demhardt: Der Erde ein Gesicht geben. Petermanns Geographische Mitteilungen und die Anfänge der modernen Geographie in Deutschland. Ausstellungskatalog. Gotha und Erfurt 2006.
- Gerhard Engelmann: August Petermann als Kartographenlehrling bei Heinrich Berghaus in Potsdam, in: Petermann Geographische Mitteilungen 106 (1962), S. 161–182.
- Matthias Hoffmann/Rainer Huschmann: August Petermann. Eine neue Ära beginnt, in: Gothaer Geographen und Kartographen, Gotha 1985, S. 77–84.
- Die Text im erwähnte Biographie Petermanns stammt von Ewald Weller: August Petermann. Ein Beitrag zur Geschichte der geographischen Entdeckungen und der Kartographie im 19. Jahrhundert, Leipzig 1911 | Jules Vernes Erwähnungen von Petermann sind nachzulesen bei Petra Weigel: Jules Verne und die Kartographie, in: Kugler, Lieselotte (Hg.), In 80 Dingen um die Welt. Der Jules-Verne-Code. Ausstellungskatalog, Berlin 2014, S. 128–136.
Zitierhinweis
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- Weigel, P., 200 Jahre August Heinrich Petermann – Kartograph. Manager. Netzwerker. In: Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 43, Blog der Forschungsbibliothek Gotha (22.04.2022), https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2022/04/200-Jahre-August-Heinrich-Petermann-Kartograph-Manager-Netzwerker, CC BY-SA 4.0
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