Jenseits der Karte – Geographische Typenbilder in der Sammlung Perthes

/ August 16, 2022

Abb. 1: Alois Geistbeck, Franz Engleder (nach Rudolf Reschreiter), Geographische Typenbilder 2: Der Königssee, Dresden: Verlag A. Müller-Fröbelhaus, [1890?]; Gotha: Justus Perthes Verlag o.J., FB Gotha, SPA WK B-009 (2).

In der Wohnung meiner in Südthüringen lebenden Verwandten hing in meiner Kindheit ein kleinformatiger Farbdruck des Königssees (Abb. 1). Ich wusste nicht, wie fern mir im geteilten Deutschland dieser oberbayerische Gebirgssee war. Mich faszinierte diese romantische Landschaft, die Schauplätze Grimm‘scher Märchen und Sagen evozierte. In einen von hohen, wolkenumsäumten Bergmassiven umgebenen tiefblaugrünen See stürzten Gebirgsbäche zu Tal. Menschenleere und Einsamkeit lagen über diesem Bild, das in meiner kindlichen Phantasie von Naturtönen erfüllt war.

Jahre später, als ich als Abteilungsleiterin der Forschungsbibliothek Gotha die reichhaltigen Bestände der Sammlung Perthes kennenlernte und sie seitdem betreuen darf, bemerkte ich, dass es sich bei diesem Kindheitsbild entweder um eine massenhaft verbreitete, verkleinerte Druckvariante eines geographischen Typenbildes oder um eine von dem bayerischen Maler Rudolf Reschreiter um 1890 geschaffene Gemäldevorlage desselben handelte.

Abb. 2: Übersicht über die im Perthes Verlag erschienenen „Geographischen Typenbilder“, in: Wandkarten Atlanten. Bücher Zeitschriften für den geographischen Unterricht für Lehrer und Lernende. Schulkatalog 1941, Gotha: Justus Perthes Verlag 1941, S. 208–209.

Seit 1890 veröffentlichte der bayerische Schulgeograph Alois Geistbeck (1853–1925) mit dem Lehrer, Maler und Graphiker Franz Engleder († 1925) eine Folge von 20 „Geographischen Typenbildern“, die bis 1917 im Lehrmittelinstitut A. Müller-Fröbelhaus (Dresden, Wien, später Leipzig) verlegt wurden (Abb. 2). Nach einem kurzen Intermezzo im Verlag Paul Göhre, Leipzig, der die Reihe um Blatt Nr. 21 ergänzte, übernahm 1925 – im Todesjahr von Geistbeck und Engleder – der Verlag Justus Perthes Gotha den Vertrieb der damals noch lieferbaren Blätter und führte die „Geographischen Typenbilder“ als Nebenlinie seines seit 1820 entwickelten ambitionierten Schulgeographieprogramms fort. Hatten sich Geistbeck und Engleder bis auf wenige Ausnahmen vor allem auf den deutschsprachigen Raum konzentriert, erweiterte der Perthes Verlag die Reihe auf europäische und außereuropäische Regionen. Bis 1928 lagen die Blätter bis Nr. 26 vor, 1930 bis Nr. 34, 1931 bis Nr. 38. Dann brach die Serie ab. Die zunehmend vergriffenen älteren Bilder wurden nicht mehr nachgedruckt.

Abb. 3: Alois Geistbeck, Franz Engleder (nach Josef Frank), Geographische Typenbilder 20: Aufbau der deutschen Alpen [1914]. Gotha: Justus Perthes Verlag o.J., FB Gotha, SPA WK B-009 (6).

Die „Geographischen Typenbilder“ visualisierten die von der Geographie definierten Oberflächenformen der Erde in typisierender und in Bildaufbau wie Farbgestaltung ästhetisch ansprechender Gestalt. Sie sollten beispielhaft „Belege für die Gesetze […] liefern, welche trotz allem Wechsel die Formenbildung ständig beherrschen“.1Haack 1901, S. 98. Ihr Schöpfer Alois Geistbeck war in den frühen 1880er Jahren als Schüler von Friedrich Ratzel (1844–1904) an der Technischen Hochschule in München im Bereich „Realien“ ausgebildet und promoviert worden. Geistbecks Typenbilder hatten Methode. Die „Alleinherrschaft“ der im frühen 19. Jahrhundert in den geographischen Schulunterricht eingeführten Atlanten und Karten beunruhigte Geistbeck. In ihnen sah er „höchst unvollständige“, weil zu abstrakte Bilder, um Landschaft in ihrer dreidimensionalen Gestalt und in ihrem sinnlichen Eindruck zu veranschaulichen (Abb. 2). Mit seinen „Geographischen Typenbildern“ stellte Geistbeck Karten ein Bildmedium an die Seite, das sich auf dem didaktischen Prinzip der Anschauung von Landschaften gründete, die Schüler in den seltensten Fällen schon selbst gesehen hatten. Mit diesem lehrmethodischen Prinzip stand Geistbeck nicht allein. Allein im erdkundlichen Bereich waren 1921 schon weit über 50 Bildserien auf dem Markt, die sich als Typen- bzw. Charakter- oder übergreifend als Anschauungsbilder bezeichneten.2Schmidt 1921, S. 53–57.

Abb. 4: Rudolf Reschreiter, Auf dem Hochlande von Ecuador, Öl auf Leinwand, FB Gotha, Sammlung Perthes (Zustand nach der Restaurierung).

„Geographische Typenbilder“ sind Schulwandbilder, die an der Grenze von didaktischem, künstlerischem und wissenschaftlichem Bild angesiedelt sind und heute von der Forschungsstelle „Historische Bildmedien Würzburg (FHBW)“ gesammelt und erforscht werden. Sie gehören zu den wenigen Bildtypen, die von der damaligen zeitgenössischen Kartographie und Geographie anerkannt wurden. Dennoch blieben sie in ihrer Leistungskraft für den schulmethodischen Unterricht gegenüber der Karte einerseits wie der textbasierten Beschreibung von Landschaft andererseits umstritten. Typenbilder waren Ergebnis eines komplexen, künstlerischen Prozesses, um Typik bzw. Charakter einer Landschaft mit ihren geologischen Formationen und Wettererscheinungen, ihrer Vegetation, Tierwelt und Besiedelung zu veranschaulichen. Ihrer Bildkomposition lag eine der Landschaft angemessene Perspektive zugrunde; aus vielen Einzelbildern erarbeitete man dann die landschaftstypischen Hinter-, Mittel- und Vordergrundgestaltungen.

Es gab deshalb erklärte Gegner des Bildes wie der schon erwähnte Friedrich Ratzel oder der Schulmethodiker und Geograph Emil Schöne (1871–nach 1921), die den auf malerischen Verfahren beruhenden geographischen Landschaftsbildern wegen ihrer Naturferne misstrauten. Denn nicht immer traf ein von europäischen Sehgewohnheiten geleiteter Maler die landschaftstypischen Eigenschaften. So erinnert die Silhouette der am Fuß des Chimborazo liegenden Stadt Ambota weniger an eine südamerikanische Ansiedlung, sondern mehr an eine Vedute von Florenz (Abb. 4).

Eine vermittelnde Position nahm hingegen Max Eckert (1868–1938) ein, wenn er schreibt, dass die Karte kein „vollkommenes Bild einer Landschaft“ erzeugen könne, sie sei „durch das Bild zu ergänzen“. Das Verständnis der Karte könnten „treffliche, die Natur getreu wiedergebende Bilder“ fördern, wofür „Typenbilder zu verwenden“ seien.3Eckert 1921, S. 70–71.

Mit „Naturtreue“ und „Typus“ benannte Eckert Kriterien, die Hermann Haack (1872–1966), seit 1898 Chefkartograph des Perthes Verlages, als entschiedener Verfechter einer auf Anschauung und Bild basierten geographischen Schulmethodik für sich in Anspruch nahm. Haack hatte deshalb maßgeblich die Übernahme und Weiterentwicklung von Geistbeck-Engleders „Geographischen Typenbildern“ durch den Perthes Verlag betrieben. Sie wurden 1935 im Hauptkatalog des Verlages4Justus Perthesʼ Geographische Anstalt Gotha, Hauptkatalog 1935, S. 43–59. annonciert und unter der Rubrik „Anschauungsmittel“ in den von 1925 bis 1941 in regelmäßigen Abständen publizierten Schulkatalogen geführt. Hier waren sie in einem schuldidaktischen Portfolio vereint mit Haacks „Bild und Karte“, „Wie eine Schulwandkarte entsteht“ und „Globen“ sowie mit den „Bildern aus der Mark Brandenburg“ von Ludwig zum Felde.

Hermann Haack traute, anders als Ratzel und Schöne, den Bildern dann mehr zu, wenn „zum mindesten die Landschaft so aussehen (kann), wie sie auf dem Bild dargestellt ist“.5Haack 1902, S. 116. Für Haack hatten Geographen, Schuldidaktiker und Künstler bei geographischen Bildern deshalb auf das engste zusammenzuwirken. Dem Künstler kam hierbei für eine gelungene geographische Landschaftsgestaltung eine besondere Rolle zu, weshalb die Vorlagen der „Geographischen Typenbilder“ immer Landschaftsgemälde waren. Schon Geistbeck hatte auf Ölbilder und Aquarelle bayrischer und österreichischer Künstler, wie Claus Friedrich Bergen (1885–1964; Abb. 2: Nr. 17), Michael Zeno Diemer (1867–1939; Abb. 2: Nr. 21), Josef Frank (1873–1941; Abb. 2: Nr. 13, 16, 18–20), Rudolf Reschreiter (1868–1939; Abb. 2: Nr. 2, 8) und den Dresdner Maler Karl Georg Hänel (1879–1945; Abb. 2: Nr. 1) zurückgegriffen. Franz Engleder setzte diese Gemälde in hochwertige 12-farbige lithographische Drucke um.

Im Detail waren diese Lithographien weniger ausgeführt. Es ging vielmehr um die „grosse Linie“, die „breit angelegte Fläche“ und „gröbere Farbenkontraste“, um „die Fernwirkung zu heben“.6Haack 1902, S. 116. Die Drucke erschienen im Querformat. Sie waren wie Schulwandkarten auf Leinen aufkaschiert, mit Aufhängern und später Holzstäben versehen. Ganz ohne Text kamen sie jedoch nicht aus. In Legenden an den Blatträndern wurden stichwortartig charakteristische Elemente des Typenbildes benannt. Geistbeck verfasste zu jedem Blatt ein 16 Seiten umfassendes Begleitheft, das die Landschaft in ihrer besonderen Eigenart und allgemeinen Typik erläuterte, in ihren Wetterphänomenen beschrieb, in ihrer Fauna und Flora charakterisierte und ihre Besiedelung, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse umriss. Beigefügt waren in vereinfachter, skizzenhafter Manier Karten, geologische Reliefs, Längsschnitte der Vegetation, meteorologische Tabellen, graphische Ansichten und Photos.

Mit der Übernahme der „Geographischen Typenbilder“ knüpfte der Perthes Verlag 1925 an dieses hybride Format an, das Bild, Text, Karte und Photo vereinte. Die Begleithefte verfasste von nun an der Schulgeograph Ludwig Simon (1892–1942). Der Verlag ging dazu über, direkt zeitgenössische Maler für die Vorlagen der Typenbilder zu gewinnen. An die Seite von Bergen, Diemer, Frank und Reschreiter traten Carl Keßler (1876–1968, Abb. 2: Nr. 36) und der umtriebige Maler und Bergsteiger Ernst Platz (1867–1940, Abb. 2: 32, 33). Rudolf Reschreiter und Ernst Platz kannten die von ihm porträtierten und typisierten außereuropäischen Landschaften aus eigener Anschauung. Platz begleitete 1898 den als Erstbesteiger des Kilimandscharo berühmt gewordenen Geographen und Afrikaforscher Hans Meyer (1858–1929) auf dessen zweiter Kilimandscharo-Expedition und dokumentierte diese in Zeichnungen und Gemälden. Reschreiter nahm wiederum 1903 an Hans Meyers Südamerika-Expedition teil, bestieg mit ihm den Chimborazo und malte, nach München zurückgekehrt, eine Bildfolge des vergletscherten Vulkankegels. Alle sechs Maler waren zu ihren Lebzeiten bekannte Künstler und gehörten der an der Münchner Kunstakademie um 1900 etablierten Landschaftsschule an. Dies verweist auf den hohen ästhetischen Anspruch, den der Perthes Verlag und sicher zuallererst Hermann Haack mit den „Geographischen Typenbildern“ verfolgte.

Abb. 5: M. Zeno Diemer für Geistbeck-Engleder, Geographische Typenbilder 23: Am Rande der Libyschen Wüste bei Assuan. Typus einer Sand- und Felswüste. Gotha: Justus Perthes Verlag o.J [1925/26], FB Gotha, SPA WK B-009 (27).

Unter diesen Malern ragt M. Zeno Diemer heraus. Er schuf nicht nur die meisten der Typenbilder ab Nr. 22 (Abb. 2), sondern Haack gewann ihn im Juli 1924 für die Ausstattung des „Handbuch zum Stieler“ von Hermann Lautensach (1886–1971). Im Vorfeld erwarb Haack die Rechte an Diemers Flachreliefkarte der Dardanellen-Landschaft (Abb. 2: Nr. 21) und experimentierte mit deren druckgraphischer Umsetzung. Für das Stieler-Handbuch fertigte Diemer 14 Farbtafeln, sechs Farbtafeln wurden als Typenbild im 12-Farbdruck ausgeführt (Abb. 2: Nr. 22–26, 37). Indem Haack diese Typenbilder in Lautensachs zweibändigen Kommentar zum zentralen Atlasunternehmen des Perthes Verlages aufnahm, ging es ihm letztlich darum, die für den Schulgebrauch entwickelten Typenbilder als übergreifende Bildmedien der Geographie zu etablieren.

Abb. 6: Ernst Platz, In der Steppe am Fuße des Kilimandscharo, Öl auf Leinwand, FB Gotha, Sammlung Perthes (Zustand vor der Restaurierung).

Abb. 7: Ernst Platz, In der Steppe am Fuße des Kilimandscharo, Öl auf Leinwand, FB Gotha, Sammlung Perthes (Zustand nach der Restaurierung).

Über den Verbleib der Gemäldevorlagen der „Geographischen Typenbilder“ ist bisher wenig bekannt. Es ist davon auszugehen, dass sie nach Fertigung des lithographischen Drucks an den jeweiligen Künstler zurückgingen. Fünf Gemälde aber konnten 2015 dankenswerter Weise vom Klett Schulbuchverlag, der bis dahin in seiner Gothaer Dependance noch kleine Teile des Perthes Verlagsarchivs hielt, in die Sammlung Perthes übernommen werden. Es sind dies „In der Steppe am Fuße des Kilimandscharo“ (Abb. 2: Vorlage zu Nr. 32; Abb. 6–8) und der „Ätna“ von Ernst Platz, der „Rheindurchbruch bei Bingen und der Rheingau“ (Abb. 2: Vorlage zu Nr. 8) und „Auf dem Hochlande von Ecuador“ (Abb. 2: Vorlage zu Nr. 29; Abb. 4) von Rudolf Reschreiter. Hinzu kommen die „Niagarafälle“ von Claus Bergen, die wie der „Ätna“ von Platz offenbar nicht als Typenbild realisiert worden sind.

Abb. 8: Übergabe der restaurierten Typenbilder, Dezember 2021,
Foto: Jan Peisker.

Die bis 2015 in den damaligen Verlagsräumen hängenden Gemälde, für die man eine einheitliche Rahmengestaltung gefertigt hatte, waren geschädigt und restauratorisch dringend behandlungsbedürftig. Auf den Bildoberflächen hatte sich jahrzehntelang Staub abgelagert, was die Leuchtkraft der Ölfarben erheblich reduzierte. Teilweise hatten sich die Gemälde aus ihren Keilrahmen gelöst, Metallteile, wie Nägel und Aufhängungen, waren verrostet, an wenigen Stellen war die Bildleinwand durchstoßen.

Mit Haushaltsmitteln der Universität Erfurt wurden 2020/2021 die fünf Gemälde durch einen Restaurator gereinigt, um deren ursprüngliche Farbigkeit wieder zu gewinnen. Er schloss Fehlstellen, retuschierte sie und arbeitete die Rahmen auf. Die in ihrem Bestand dauerhaft gesicherten Gemälde stehen so wieder der Forschung und der Öffentlichkeit zur Verfügung. Das „Geographische Typenbild“ an sich, das als veraltetes didaktisches Instrument in der modernen Geographie und Schulmethodik weitgehend ausgedient hat, harrt hingegen weiter seiner tieferen Erforschung und seiner Einbettung in die Bilddiskurse um 1900.

Petra Weigel

Petra Weigel ist promovierte Historikerin und betreut seit 2008 die Sammlung Perthes der Forschungsbibliothek Gotha.

Quellen

  • Forschungsbibliothek Gotha, SPA ARCH MFV 169 (Korrespondenz Haack/Diemer) Justus Perthes 1785–1935. Hauptkatalog, Gotha 1935.
  • Wandkarten Atlanten. Bücher Zeitschriften für den geographischen Unterricht für Lehrer und Lernende. Schulkatalog, Gotha 1925–1941.

Literatur

  • Max Eckert: Die Kartenwissenschaft, 2 Bde., Berlin und Leipzig 1921, 1925.
  • Hermann Haack: Neuere geographische Anschauungsbilder, in: Geographischer Anzeiger 2 (1901), S. 98–100.
  • Hermann Haack: Das malerische Element in den geographischen Lehrmitteln, in: Geographischer Anzeiger 3 (1902), S. 115–118, 130–135, 148–150.
  • Christan Kittler: Alois Geistbeck. Zu seinem 70. Geburtstag, in: Geographischer Anzeiger 24 (1923), S. 241–243.
  • Hermann Lautensach: Ein Handbuch zum Stieler, 2 Bde., Gotha 1926.
  • Friedrich Ratzel: Das Verhältnis der Schilderung zur Karte und zum Bild, in: Geographischer Anzeiger 7 (1906), S. 8–9, 33–34.
  • Emil Schöne: Über Ideallandschaften und geographische Grundbegriffe, in: Geographischer Anzeiger 8 (1907), S. 199–201.
  • Walther Schmidt: Das Bild als Anschauungsmittel im erdkundlichen Unterricht. Theoretische und praktische Grundlagen zu einer Methodik der Behandlung geographischer Unterrichtsbilder, München und Berlin 1921.
  • Ludwig Simon: Alois Geistbecks Lebenswerk, München und Berlin [1927].
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