„Ein’ feste Burg“ in Altgriechisch? Das gelöste Rätsel einer Gothaer Liedersammlung
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 46
Unter den reichen Zeugnissen der frühneuzeitlichen Musikkultur in der Forschungsbibliothek Gotha befindet sich eine Handschrift, die eine Kuriosität und absolute Besonderheit ist: eine Sammlung von 53 lutherischen Liedern samt deren Auslegungen in altgriechischer Übersetzung (Chart. A 1027). Über die Motivation dieser Übersetzungsarbeit wurde lange spekuliert. Handelte es sich um reine Gelehrtenspielerei? Oder sollten die griechischen Lieder pädagogischen Zwecken dienen? Bekanntlich pflegten lutherische Lateinschulen im 16. Jahrhundert nicht nur deutsche Lieder, sondern auch lateinische Choräle – nicht zuletzt als effektive Sprachübung – in den Kirchen zu singen. Waren die Liederübersetzungen in der Gothaer Handschrift für größere Lateinschulen gedacht, die auch Griechisch im Lehrplan hatten?
Paul Neuendorf hat dieses Rätsel in seiner jüngst erschienenen Dissertation zu Martin Crusius (1526–1607) (Abb. 1), dem Übersetzer der Lieder, endlich gelöst. Der Tübinger Professor Crusius gehörte zu den besten Gräzisten seiner Zeit nördlich der Alpen. Er nahm die Gelegenheit wahr, auch im Namen des Universitätskanzlers Jakob Andreae (1528–1590), Kontakt zum griechisch-orthodoxen Patriarchen aufzunehmen, als ihr Kollege Stephan Gerlach (1546–1612) zwischen 1573 und 1578 als Prediger des kaiserlichen Gesandten David Ungnad (1535–1600) in Konstantinopel bzw. Istanbul tätig war (Abb. 2). Es kam zum jahrelangen Briefwechsel zwischen dem ökumenischen Patriarchat und den höchsten Würdenträgern der württembergischen Kirche. Entgegen den Hoffnungen der Tübinger stimmten die theologischen Ansichten beider Partien nicht so weit miteinander überein, dass sie als Grundlage für ein mögliches Zusammenwirken dienen konnte. Lange blieb unbekannt, dass die Initiativen von Crusius zur Gewinnung der griechisch-orthodoxen Kirche für das Luthertum 1578 nicht endeten. Vielmehr verfolgte er dieses Ziel bis zu seinem Lebensende unbeirrt weiter, indem er den Kleinen und den Großen Katechismus, das „Compendium Theologiae“ des Tübinger Professors Jacob Heerbrand (1521–1600), mehr als 500 Predigten, die in der Tübinger Stiftskirche gehalten worden waren, und eben die 53 Lieder ins Altgriechische übersetzte. Crusius’ Ziele gingen insbesondere aus der Untersuchung seiner Korrespondenz und seines ungemein detailreichen Diariums hervor, das der Tübinger Professor über 30 Jahre lang führte.
Gelang es Crusius mit viel Mühe und Überzeugungsarbeit bei potentiellen Förderern, den Großteil seiner Übersetzungen zum Druck zu befördern, blieb doch sein Missionierungsvorhaben bei den Griechisch-Orthodoxen ohne nennenswerten Erfolg. Die Lieder wurden in der kritischen Edition von Neuendorf (S. 325–564) erstmals veröffentlicht. In der Handschrift hatte Crusius jeweils links die deutsche Urfassung eines Lieds und rechts eine lateinische Übersetzung abgeschrieben (Abb. 3). Zwischen diese beiden Spalten fügte er seine altgriechische Übersetzung ein. Anschließend verfasste er eine theologische Auslegung des Liedes in griechischer Sprache und übersetzte sie ins Lateinische. Beim Übersetzen behielt Crusius die Metrik der deutschen Urfassungen der Lieder bewusst bei, damit sie nach den gewohnten Melodien gesungen werden konnten. Diese Melodien wären jedoch in Griechenland nicht bekannt gewesen, so dass Crusius für die praktische Umsetzung die entsprechenden Notationen hätte hinzufügen müssen. Die besonderen Schwierigkeiten und Kosten, die das Drucken von Musikalien mit sich brachte, erklären vielleicht zum Teil, warum dieses Erzeugnis von Crusius’ Missionierungsbemühungen nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde.
Crusius’ Handschrift wurde später Teil der berühmten Liederbuchsammlung des Arnstädter Theologen und Hymnologen Johann Christoph Olearius (1668–1747), wie ein Eintrag im entsprechenden Verzeichnis belegt (Chart. B 2056, Bl. 1r). Olearius bot der Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein seine Sammlung, die er für die Nachwelt geschlossen erhalten sehen wollte, bereits 1735 zum Kauf an (Chart. A 436, Bl. 76r–83v) – ein Wunsch, der erst Jahrzehnte später erfüllt wurde: 1793 wurde die Sammlung für die Herzogliche Bibliothek erworben.
Daniel Gehrt
Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.
Literatur
- Paul Neuendorf: „Daraus kündten auch die Graeci lärnen“. Die Bemühungen des Martin Crusius (1526–1607) um ein Luthertum der Griechen. Heidelberg 2022. Online verfügbar unter der URL: https://heiup.uni-heidelberg.de/catalog/book/820
- Thomas Wilhelmi: Der erste deutsche Philhellene. Martin Crusius (1526–1607), in: Daniel Gehrt und Sascha Salatowsky (Hrsg.): Aus erster Hand. 95 Porträts zur Reformationsgeschichte. Gotha 2014, S. 48f. Online verfügbar unter der URL: https://www.db-thueringen.de/receive/dbt_mods_00030382
Abbildungsnachweis
- Porträt von Martin Crusius. FB Gotha, Biogr 4° 346/3, Tafel 77.
- Kupferstich von Konstantinopel, 1596. FB Gotha, Hist 8° 6689/2 (1).
- Das Lied „Ein’ feste Burg“ in Deutsch, Altgriechisch und Latein. FB Gotha, Chart. A 1027, Bl. 291v–292r.