Mit Seetzens Erbe auf den Spuren der Pharmaziegeschichte
Stellen Sie sich vor, Sie sind beim Arzt und dieser nimmt erst einmal einen beherzten Schluck Ihres eben abgegebenen Urins. Was heute bei den meisten Ekel hervorruft, war im Mittelalter ganz normal, denn was natürlich noch fehlte, waren die modernen Analyseverfahren für die Diagnose. Uringeschmack galt als relativ verlässlicher Indikator dafür, ob der Patient krank ist oder ob seine Medikation angeschlagen hat. Doch nicht nur Mediziner mussten aus heutiger Sicht ekelfrei sein, auch die Patienten selbst. Denn Behandlungsmittel aus menschlichen Bestandteilen wie Blut, Fett, Knochen, Haare, Urin und sogar mumifiziertes Fleisch wurden in Europa genauso eingesetzt wie im Orient. „Wir ekeln uns heute vielleicht davor, aber Ekel wird nur durch unsere kulturellen Vorstellungen konstruiert. Und im Mittelalter bis hin zur Frühen Neuzeit galt das nicht als eklig, sondern war ganz normal“, erläutert Dr. Natalia Bachour. Die ausgebildete Apothekerin und Historikerin forscht zum „medizinischen Kannibalismus“, wie die Historiker des 21. Jahrhunderts dieses Phänomen betitelten. Im Fokus ihrer Untersuchungen stehen unter anderem die Überlieferungen in alten Schriften aus dem arabischsprachigen Raum. Die Orientalische Handschriftensammlung der Forschungsbibliothek Gotha der Universität Erfurt bietet der Forscherin dafür einen reichen Fundus an Quellen. Diese nimmt sie nun im Rahmen ihres Herzog-Ernst-Stipendiums des Forschungszentrums Gotha und der Fritz-Thyssen-Stiftung genauer in den Blick.
Ihr Interesse für die Geschichte der Pharmazie entwickelte Natalia Bachour bereits während ihres Pharmaziestudiums, das sie in ihrer syrischen Heimat Damaskus sowie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel absolvierte. Nach ihrer Approbation als Apothekerin arbeitete sie einige Jahre in diesem Beruf, gleichzeitig begann sie bereits mit einem Aufbaustudium im Bereich Pharmaziegeschichte an der Universität Heidelberg, wo sie 2011 mit einer Arbeit über die Rezeption des Paracelsismus promoviert wurde. „Die Pharmazie ist heute sehr naturwissenschaftlich geprägt. Ich interessierte mich jedoch von Anfang an einerseits für die historische Dimension, die im Studium häufig vernachlässigt wird, und andererseits für deren Anwendbarkeit auf aktuelle Debatten, wie beispielsweise das Verhältnis von Jenseitsvorstellungen zu Organtransplantationen“, sagt die Wissenschaftlerin. Diesem Forschungsinteresse fügte Bachour mit einem Zweitstudium der Translationswissenschaft schließlich einen weiteren Baustein hinzu: die Frage nach der Weitergabe von Wissen. Pharmazie, Geschichte und Wissenstransfer – die drei Dimensionen kommen in ihrem Habilitationsvorhaben über den menschlichen Körper als Arznei in kultur- und medizinhistorischer Perspektive nun zusammen. „Mir geht es in meiner Forschung zunächst darum, zu untersuchen, wie die Wirkung einer Arznei verstanden wurde. Nach unserer Vorstellung wird diese ja gemessen mit Blutuntersuchungen und anderen messbaren Kriterien. Bevor man solche analytischen Methoden hatte, wurde die Wirkung jedoch durch Beobachtung festgestellt, aber auch durch Analogien“, erklärt die Pharmazeutin. Sie habe festgestellt, dass die Wirkung von Stoffen durch den Lebenskontext der Menschen konstruiert wird. „Viele dieser Arzneien sind mit spezifischen medizinischen, magischen, ethischen und religiösen Vorstellungen verbunden, was die Untersuchung ihrer Verwendung aus medizinhistorischer und interkulturell historisch-anthropologischer Perspektive aufschlussreich macht“, fasst sie zusammen. „Deshalb ist es mir wichtig, arabische Quellentexte aus verschiedenen Epochen sowie aus ganz unterschiedlichen Gebieten – der Medizin, Literatur, Lexikologie, der islamischen Jurisprudenz und Ethik – zu untersuchen.“ Um herauszufinden, wie das Wissen über die arzneiliche Verwendung menschlicher Körperteile in der arabischen Medizin weitergegeben wurde, taucht Bachour nun jeden Tag in die Gothaer Orientalia ein – eine Sammlung, die einst im Auftrag der Herzöge Ernst II. und August von Sachsen-Gotha-Altenburg vom Orientreisenden Ulrich Jasper Seetzen zusammengetragen, nach Gotha geschickt wurde und bis heute im Schloss von der Forschungsbibliothek Gotha bewahrt wird. Diese Sammlung erlaubt es der gebürtigen Syrerin nicht nur, in den unterschiedlichen Fachgebieten nach wichtigen Passagen zu recherchieren – denn Seetzen sammelte für den Gothaer Hof Werke aus verschiedenen Disziplinen. Sondern hier trifft sie auch immer wieder auf unbekannte Exemplare, die kaum erforscht sind. „Ich habe zum Beispiel einen Sammelband von Traktaten eines mittelalterlichen Mediziners entdeckt und ein aus dem Sanskrit übersetztes Werk, das nur noch in Form von Zitaten in anderen medizinischen Werken erhalten war. Beide Schriften galten als verschollen und ich bin sehr glücklich, dass ich die Möglichkeit habe, hier in Gotha solche Schätze zu erforschen und sie in meine Arbeit einzubeziehen.“
Ein wenig tröstet Natalia Bachour das vielleicht auch über die Tatsache hinweg, dass ihr andere, für ihre Forschung wichtige, arabische Quellen im Moment nicht zur Verfügung stehen. „In der Assad-Nationalbibliothek in Damaskus liegen natürlich einige Handschriften, die für mich noch interessant wären. Aber jetzt nach Syrien zu reisen, kommt für mich aufgrund der politischen Lage nicht infrage“, bedauert sie. Schon bei ihrem letzten Besuch in ihrer Heimat 2014 erschrak sie, wie stark sich das Stadtbild Damaskus‘ verändert hat. Seitdem hat sich die Lage verschlimmert und das bedeutet auch für die dortige Forschung Stillstand. „In Aleppo gibt es beispielsweise ein sehr renommiertes Institut für die Geschichte der arabischen Wissenschaften, doch auch hier sind die meisten Kollegen momentan im ‚Exil‘. Das sind riesige Verluste für die Wissenschaft.“ Bachour schätzt sich deshalb glücklich, auch im europäischen Ausland – von kleinen Bibliotheken in Frankreich bis hin zur Forschungsbibliothek in Gotha – auf arabische Quellen zu treffen und so ihre Forschung weiter voran bringen zu können. Im Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt kann sie sich zudem mit anderen Wissenschaftlern und Stipendiaten austauschen, ihr Forschungsthema regelmäßig zur Diskussion stellen und von Vorträgen, Workshops und Kolloquien profitieren. „Der wissenschaftliche Austausch ist so intensiv hier, da ist es kaum zu glauben, dass man in einer kleinen Stadt wie Gotha ist.“
Nach ihrem Forschungsaufenthalt in der Residenzstadt wird die Herzog-Ernst-Stipendiatin wieder an die Universität Zürich zurückkehren, wo sie seit 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Asien-Orient-Institut tätig ist – dann mit vielen neuen Impulsen für ihre Forschung, aber auch mit dem Wissen, nicht zu allen Bibliotheken mit arabischen Beständen reisen zu können. Schon jetzt hegt sie deshalb vor allem einen Wunsch: dass Bibliotheken und Archive schnell mit der Digitalisierung vorankommen, damit Forscher aus aller Welt mit Quellen aus aller Welt arbeiten können. Denn: Nicht jeder hat das Glück, mit einem Residenzstipendium direkt vor Ort zu forschen, wie Bachour hier in Gotha.