Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 3

/ April 7, 2020

Vom Husten, Niesen, Nase putzen …. Benimmregeln vergangener Jahrhunderte

Wie man husten, niesen, Nase putzen oder Hände waschen soll … all das sind Anweisungen, deren Beachtung dieser Tage sehr häufig nahegelegt werden. Auch vor hunderten von Jahren wurde darüber gesprochen, allerdings in anderem Kontext als derzeit relevant. Wie krankmachende Keime übertragen und bekämpft werden, begann man erst spät zu verstehen – z.B. mit den Arbeiten von Ignaz Semmelweis (1818–1865) über die Händedesinfektion und Alexander Flemming (1881–1955), der 1928 das Penicillin als erstes Antibiotikum entdeckte.

Dass die Hände vor dem Essen zu waschen sind, sich nicht mit nackten Fingern gekratzt und schon gar nicht die Nase ins Tischtusch geschneuzt werden soll – denn das ziemt sich laut des Tanhausers hofzucht nicht: „[…] der riuspet, swenne er ezzen sol, / und in daz tischlach sniuzet sich, / diu beide ziment niht gar wol […].“ (V. 57–59) – dass man nicht gleichzeitig essen und reden bzw. trinken, nach dem Essen nicht zwischen den Zähnen stochern und insgesamt beim Essen und Trinken Maß halten soll – das alles empfahl bereits ein Dichter namens Tannhäuser seinen Lesern, die vor allem im Adel zu vermuten sind. Tannhäuser nennt sein Werk eine Hofzucht und spricht darin den „edlen Mann“ an: „[…] die sprüche sint von grôzer zuht, / die halten sol der edele man […]“ (V. 9–10). Von ihm ist nicht viel mehr bekannt, als dass er zwischen 1228 und 1256/66 aktiv war, als Spruchdichter und Sänger des fahrenden Volkes, und vermutlich zeitweilig am Hof Herzog Friedrichs des Streitbaren von Österreich (1211–1246) lebte. Ob er das ist, der im Codex Manesse, einer wahrscheinlich in Zürich zwischen 1305 und 1340 geschaffenen, reich illuminierten Liedersammlung, in der Tracht des Deutschen Ordens dargestellt wurde, ist nicht gesichert.

Tannhäuser ist nicht der einzige Dichter, der solche Normen schriftlich fixierte. Nachgeahmt wurde sein Werk in der sog. Rossauer Tischzucht eines weiter nicht bekannten Verfassers, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts in Österreich entstand und im Wortlaut sehr nahe daran anschließt. Ältere Beispiele, die der Ausbildung des adligen und klerikalen Nachwuchses als normative Richtschnur für korrektes Verhalten dienen sollten, lassen sich bis zu dem karolingischen Gelehrten Alkuin (735–804) und zu Hugo von St. Viktor (De institutione novitiorum; ca. 1120/30) zurückverfolgen. Hugos Anweisungen basieren auf der Ansicht, dass das Äußere eines Menschen der Spiegel seiner inneren Verfasstheit sei, auch der mentalen, und beinhaltet u.a. Verbote, die sich gegen zu starke mimische Verzerrungen des Gesichtes und das Zeigen der Zähne richten.

In der Thesmophagia, die ein gewisser Reinerus Alemannicus im 12. Jahrhundert schrieb, ist Maßhalten wichtig, weil der Mensch kein Vieh sei, mit friedlichen Gesichtszügen essen und seine Höfischheit nicht vergessen solle. Der Jurist und Straßburger Humanist Sebastian Brant (1457–1521) übersetzte das Werk und ließ es 1490 bei Michael Furter in Basel drucken. Damit war die Thesmophagia Jahrhunderte nach ihrer Entstehung nicht etwa eine angestaubte Kamelle, sondern wurde an der Wende zur Frühen Neuzeit sogar in dem damals neuen, große Verbreitung erlangenden Medium des Buchdrucks in Umlauf gebracht. In der Forschungsbibliothek Gotha hat sich der Text in einer Sammelhandschrift erhalten, die dem Druck von 1490 nahesteht (vgl. Cod. Gym. 1, fol. 59v-84v).

Weitere Regeltexte wie die Tischzuchten in der Maihinger Handschrift oder im Liederbuch der Clara Hätzlerin aus dem 15. Jahrhundert könnten als Beispiele für die Konstanz und die Aktualität der Aufforderungen zu Maßhalten und höfischen Verhaltensweisen über Jahrhunderte hinweg angeführt werden. Interessanter ist allerdings der Blick in eine der ersten umfassenden Verhaltenslehren in deutscher Sprache, die zudem reich mit Randillustrationen versehen wurde. Im Welschen Gast findet sich das gleiche Grundprinzip, das rechte Maß als oberste Regel zu definieren und auch die Maßgaben für korrektes Essen und Trinken (vgl. bes. Buch I, 471–526). Thomasin von Zerklaere, ein Kleriker aus dem norditalienischen Friaul, dichtete die rund 15.000 Verse seines Opus um 1215/16. Von der Beliebtheit des Textes zeugen 25 reich illustrierte Handschriften, die sich aus dem 13.–15. Jahrhundert erhalten haben, eine davon in der Forschungsbibliothek Gotha. Mehrere Abschriften des beliebten Texts wurden sogar erst im 18. und 19. Jahrhundert vorgenommen.

Auf Text- und besonders auch auf Bildebene stehen die Auseinandersetzung von Tugenden und Lastern ebenso wie die Übernahme von angemessenen Aufgaben und Verantwortung im Zentrum. Welcher Part dabei der gute und erstrebenswerte ist, wird mehr als deutlich: Es sind die Personifikationen der Treue und der Mäßigung, die im Bild analog zu zeitgenössischen Weltgerichtsdarstellungen auf der Seite der Guten stehen. Die Untreue und Maßlosigkeit bzw. die Personifikation der weit ausgreifenden und mit der unmäßig großen linken Hand ihr Wesen plakativ verdeutlichenden „Unmaze“ hingegen auf der Seite der Verdammten (Abb. 1). Es ist die Mâze, die Mäßigung als zweite Figur auf der linken Seite des Motivs, welche die Elle als Messinstrument in Richtung der Untreue und der Maßlosen, ausstreckt.

Abb. 1: FB Gotha, Cod. Memb. I 120, fol. 71v: Die Maßlosigkeit.

Unmäßiges Essen thematisiert die Personifikation der Völlerei, die im Bild auf einen reich gedeckten Tisch zeigt (fol. 35r, Abb. 2) und sich im Spruchband noch viel mehr Essen wünscht. Über die Herkunft guten Essens nachzudenken, fordert der zugehörige Text auf, zumal dann, wenn er nichts zu essen erhalte (V. 4117–4120). Ob Spielsucht, Untreue, Verführung oder die thronende Tugend oder die Untugend mit ihren Kindern – alle 120 Miniaturen der Gothaer Handschrift dienen vor allem dem einen Ziel: dem Adel und seinem Nachwuchs gottgefällige Werteordnung und Ideale zu vermitteln.

Abb. 2: FB Gotha, Cod. Memb. I 120, fol. 35r: Der Völler

Dies wird sogar bei einem Thema deutlich, das uns gegenwärtig sehr nahe ist: der ärztlichen Behandlung von Kranken (Abb. 3, fol. 41r). Im Bild sind zwei Ärzte und zwei Kranke („d’r sieche man“ bzw. „d’r sieche“) zu sehen, der auf der rechten Seite für einen Eingriff an einen Pfahl gebunden ist, auf der linken Seite im Bett liegt. Das Spruchband, das die Rede des Arztes an den Bettlägerigen wiedergibt, rät davon ab, zu viel zu schlafen: „dir ist das slafen ungesunt“. Ob er dabei auch auf die zeitgenössisch negativ bewertete Untätigkeit und Trübseligkeit, also etwa acedia und melancholia anspielt, sei hier dahingestellt. Die Hand des Arztes ist nahe am Bart des Patienten, als ob er diesen wie im Text erwähnt, raufen oder zumindest zupfen wolle, um ihn am Einschlafen zu hindern. Im Text wird nicht nur ein Einblick in das Behandlungsrepertoire des Arztes gewährt (schneiden, stechen, Bart raufen), sondern auch in die Behandlung des kranken Dicken, dem eine Diät mit Durst und Hunger verordnet wird: „der erzent dicke einn siechen man / mit durst, mit hunger und mit prant“ – schon fast meint man, Zitate aus den in Corona-freien Zeiten häufigen Ratschlägen verschiedener Medien für Diäten und Fastenkuren vor sich zu haben. Anders als heute wird in dieser Passage jedoch nicht nur das Handeln des Arztes auf Erden in den zeitgenössischen Wertekanon eingeschrieben, sondern das Walten des obersten Weltenlenkers als Heiler der Menschen damit gleichgesetzt (vgl. Ex 15,26): „alsam unser herre tuot, / swenner erzent unsern muot: / er erzent den mit sælikeit, / den andern erzent er mit leit“ (V. 5102–5103). Mit dem heute noch geläufigen Begriff der Götter in Weiß hat der zitierte „herre“ aber nichts zu tun, sondern mit der damals geltenden christlichen Werteordnung.

Abb. 3: FB Gotha, Cod. memb. I 120, fol. 41r: Der Arzt und der Kranke.

Regeln und Normen, die uns heute noch geläufig sind, waren bereits vor Jahrhunderten und im Mittelalter bekannt. Das Zielpublikum dieser in Verhaltenslehren und Tischzuchten fixierten Handlungsempfehlungen hat sich offensichtlich verändert – nicht mehr nur die Angehörigen der obersten Gesellschaft – wir alle sind heute gehalten, sie zu befolgen. Aktuell sind sie aber wie eh und je.

Verfasserin: PD Dr. Monika E. Müller

Abbildungen online:
Abb. 1: Fol. 71v
https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/rsc/viewer/ufb_derivate_00011751/Memb-I-00120_144.tif?logicalDiv=log_fd584d-a54d-3df8-ebd49a218
Abb. 2: fol. 35r
https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/rsc/viewer/ufb_derivate_00011751/Memb-I-00120_071.tif?logicalDiv=log_c7ea32-2fa4-822c-a9529ec36
Abb. 3: fol. 41r
https://archive.thulb.uni-jena.de/ufb/rsc/viewer/ufb_derivate_00011751/Memb-I-00120_083.tif?logicalDiv=log_c7ea32-2fa4-822c-a9529ec36

Verwendete Literatur:
Klaus Düwel: Über Nahrungsgewohnheiten und Tischzuchten des Mittelalters, in: Umwelt in der Geschichte. Beiträge zur Umweltgeschichte, hg. von Bernd Herrmann, Göttingen 1989, S. 129–149.
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1, Frankfurt 1997.
Moriz Haupt: Des Tanhausers hofzucht, in: Zeitschrift für deutsches Althertum 6 (1848): 488–496.
Cornelia Hopf (Bearbeiterin): Die abendländischen Handschriften der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha. Bestandsverzeichnis, Gotha 1994, S. 78.
Monika E. Müller: Das Lachen ist dem Menschen eigen…. Seine Darstellung in der Kunst des Mittelalters, in: Seliges Lächeln – Höllisches Gelächter. Das Lachen in der Kunst des Mittelalters, Ausst.-Kat., hrsg. von Winfried Wilhelmy, Dom- und Diözesanmuseum Mainz, Regensburg 2012, S. 67–91.
Jean-Claude Schmitt: Die Logik der Gesten im europäischen Mittelalter, Stuttgart 1992.
J. Stohlmann: Reiner der Deutsche (Reinerus, Reynerus Alemannicus, Renerus Alamannus), in: 2VL 7 (1989), S. 1161–1165.
Thomas Perce Thornton: Höfische Tischzuchten, Berlin 1957.
Burghart Wachinger: Der Tannhäuser. „Die Hofzucht“, in: 2VL 9 (1995), S. 600–610.
Elisabeth Wunderle: Katalog der mittelalterlichen lateinischen Papierhandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft (Die Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha 1), Wiesbaden 2002, S. 450–466.
Der welsche Gast / Thomasin von Zerklaere. Kommentar zur Faksimile-Edition / mit Beiträgen von Heike Bismark, Dagmar Hüpper, Holger Runow, Katrin Sturm, Eva Willms, Luzern 2018.

Online-Quellen (letzter Zugriff: 6. April 2020)
Anja Kircher-Kannemann: Vom Tannhäuser und „Von der tische zucht“, in: Kulturgeschichten digital (6. April 2018): https://tour-de-kultur.de/2018/04/06/vom-tannhaeuser-und-von-der-tische-zucht-tischzuchten/
Marburger Repertorium zur Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus, Eintrag zu MRFH 10330: https://mrfh.de/10330.
Ralf-Henning Steinmetz: “Tannhäuser” in: Neue Deutsche Biographie 25 (2013), S. 783-784 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118620746.
Digitalisat von Cod. Memb. I 120: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/fbg_membI120

 

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