Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 9

/ Juni 9, 2020

Spuren von Matthias Flacius Illyricus in Gotha.
Ein Beitrag zum 500. Jubiläum eines genialen Gelehrten und umstrittenen Theologen

In diesem Jahr jährt sich zum 500. Mal der Geburtstag des genialen Gelehrten und umstrittenen lutherischen Theologen Matthias Flacius (eigentlich Matija Vlačić, 1520–1575.

Abb. 1: Holzschnitt von Matthias Flacius. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)

Flacius stammte aus Istrien, heute zu Kroatien gehörend, und wurde deshalb von seinen Zeitgenossen auch Illyricus genannt. Nach humanistischer Bildung in Venedig, Basel und Tübingen wurde er 1541 Schüler Philipp Melanchthons (1497–1560) in Wittenberg. Ab 1544 hatte er dort die Professur für Hebräische Sprache inne und hielt zugleich Privatvorlesungen in Griechisch über Werke von Aristoteles und die Paulusbriefe im Neuen Testament.

Nach Martin Luthers Tod 1546 und dem Sieg des katholischen Kaisers im Schmalkaldischen Krieg 1547 geriet das Luthertum in eine Autoritäts- und existenzielle Krise. Enttäuscht von Melanchthon wegen seiner vermeintlich zu kompromissbereiten Haltung zum sog. „Augsburger Interim“ – dem von Kaiser auf dem Augsburger Reichstag 1548 für die protestantischen Stände festgeschriebenen Religionsausgleich – verließ Flacius 1549 Wittenberg und avancierte zu einem der federführenden Interimskritiker in Magdeburg. Durch seine wirkungsvollen polemischen Flugschriften zu den aktuellen theologischen Kontroversen erntete er sowohl Lob als auch Kritik, da er, nach Ansicht einiger, Spaltungen innerhalb des Luthertums förderte. Nach seiner fast fünfjährigen Tätigkeit als Theologieprofessur an der Universität Jena zwischen 1557 und 1561 wirkte Flacius als Vertriebener und Verfolgter in den letzten Jahren seines Lebens ohne Amt in Regensburg, Antwerpen, Straßburg und Frankfurt Main.

Als Philologe, Historiker und Theologe hatte er im Laufe seines Lebens mehrere grundlegende Werke mit jahrhundertelanger Nachwirkung geschaffen. Dazu zählen seine umfassende Edition von Dokumenten zu den böhmischen Reformatoren Jan Hus (ca. 1370–1415) und Hieronymus von Prag (ca. 1379–1416), die als Luthers Vorläufer gedeutet wurden (1558), und die sog. „Magdeburger Centurien“ (1559–1574). Diese jeweils ein Jahrhundert umfassenden Bände stellen den ersten großangelegten Versuch einer Gesamtdarstellung des Christentums aus lutherischer Sicht dar. Der einflussreiche „Catalogus testium veritatis“ (Katalog der Wahrheitszeugen, 1556) ging dem ersten Band voraus. Zu nennen sind ebenfalls Flacius’ „Clavis scripturae sacrae“ (Schlüssel zur Heiligen Schrift, 1567) – ein Meilenstein auf dem Weg zu einer modernen Theorie über den Vorgang der Auslegung – und seine „Glossa compendiaria in Novum Testamentum“ (Kommentare zum Neuen Testament, 1570).

Unter den außerordentlich bedeutenden Beständen der Forschungsbibliothek Gotha zur Reformation in Europa finden sich zahlreiche Spuren von Matthias Flacius Illyricus über die unzähligen Alten Drucke hinaus. Sie sind inzwischen durch die Tiefenerschließung der Reformationshandschriften leicht zugänglich (siehe Katalog und Kalliope-Portal unten). Ein Großteil der neuen Funde sind unmittelbar in die ununterbrochen lebendig gehaltene Forschung zu dieser faszinierenden historischen Persönlichkeit eingeflossen.

Aus seiner Magdeburger Zeit sind vier eigenhändige Briefe von Flacius aus dem Jahr 1554 an den Nürnberger Prediger Wolfgang Waldner (ca. 1530–ca. 1591) überliefert (Chart. A 127, Bl. 1r–4v). Sie sind Teile des regen mitteleuropäischen Netzwerks der Bearbeiter der „Magdeburger Centurien“. Für die Verwirklichung ihres monumentalen Projekts fanden die Mitarbeiter in Magdeburg wichtige Partner in Basel, Frankfurt am Main, Nürnberg, Regensburg und Wien. Die vier Briefe an Waldner wurden im Rahmen des Projekts „Historische Methode und Arbeitstechnik der Magdeburger Zenturien. Kirchengeschichtsschreibung in einem gelehrten Netzwerk im 16. Jahrhundert“ unter Federführung von Harald Bollbuck online ediert (siehe URL unten). Dagegen warten mehrere Originalbriefe aus anderen Zusammenhängen in der Korrespondenz des Flacius noch auf eine historisch-kritische Edition (Chart. A 36, Bl. 93r–94v, 99r–102v; 95r–98v; 200r–205v; Chart. A 70, Bl. 31r–v, 40r–v; 41r–v; 49r–v; 78r–v; 79r–v; 93r–94v; Chart. A 406, Bl. 5r–7v).

Autograf von Matthias Flacius

Abb. 2: Brief von Matthias Flacius an Wolfgang Waldener, 6. September 1554. © Forschungsbibliothek Gotha (CC BY-SA 4.0)

Lange unbekannt blieben die Ankündigungen von Flacius’ Vorlesungen in Jena über den Römerbrief (Chart. B 213, Bl. 331r–332r) und das Johannesevangelium (Bl. 332v–333v; 338v–339r) – fehlende Puzzleteile zur Rekonstruktion des Lehrangebots des Illyrers in der Saalestadt. Philipp Knüpffer hat sie in seiner Dissertation „Das Hildburghäuser Diarum des Adam Sellanus (Chart. B 213) als Quelle zur Frühgeschichte der Universität Jena“ ediert. Solche Vorlesungsankündigungen, die individuell am sog. „schwarzen Brett“ der Universität angeschlagen bzw. als Einblattdruck verbreitet wurden, bildeten im 16. Jahrhundert eine Gattung für sich. Sie enthielten mehr als nur Informationen zu Gegenstand, Zeit und Ort der Veranstaltungen. In diesen Kurztexten erläuterten die Professoren beispielsweise den Nutzen und einzelne Aspekte des Themas oder führten in die gewählte Methodik ein. In der Ankündigung der ersten Vorlesung betonte Flacius, dass sich die Studierenden ein Verständnis von theologischen Doktrinen nicht primär anhand von Kommentaren, sondern unmittelbar durch Bibelexegese zu erarbeiten hätten. Der Römerbrief sei als hermeneutischer Schlüssel zur gesamten Heiligen Schrift der beste Ausgangspunkt dafür.

Die ernestinischen Herzöge von Sachsen hatten sich ursprünglich nicht um Flacius wegen der Besetzung einer Professur an ihrer Hohen Schule bemüht; diese Entscheidung wurde erst sehr spät bei den Berufungsverhandlungen getroffen. Vielmehr sollte Flacius die Fürsten vor allem in konfessionspolitischen Angelegenheit auf Reichsebene beraten. Zeugnisse dieser Amtstätigkeit sind ebenfalls in der Gothaer Handschriftensammlung vorhanden. Neben ablehnenden Stellungnahmen von Flacius und den anderen ernestinischen Theologen gegenüber der 1558 von Melanchthon auf dem Frankfurter Fürstentag verfassten innerlutherischen Einigungsgrundlage (Chart. A 33) finden sich ein Gutachten von Flacius und seinen Mitstreitern zum ernestinischen Alternativvorschlag, das sog. Konfutationsbuch (Chart. A 34, Bl. 3r–8v), sowie eine Schrift, in der Flacius und andere gleichgesinnte Theologen in Jena ihre Konzeption für eine Synode von Theologen zur Beilegung der innerprotestantischen Streitigkeiten gegenüber der vernichtenden Kritik von Heinrich Bullinger (1504–1575) und anderen Züricher Theologen verteidigten (Chart. A 80).

Das Wirken von Flacius in Jena war äußerst konfliktbeladen. Die zugespitzte Polemik des Konfutationsbuches bildeten den Hauptstreitpunkt. Darüber brach eine theologische Auseinandersetzung zwischen Flacius und seinem Fakultätskollegen Victorin Strigel (1524–1569) aus, die sich auf die Frage der Willensfreiheit konzentrierte. Um diese beizulegen, wurde 1560 eine außerordentliche Disputation auf dem Weimarer Schloss organisiert. In seiner jüngst erschienenen Dissertation (2018) hat Friedhelm Gleiß die besondere Hybridität dieser Veranstaltung analysiert, die Elemente einer herkömmlichen universitären Disputation und eines der Obrigkeit unterstellten Religionsgespräches, das für das Reformations- und konfessionelle Zeitalter charakteristisch war, vereinte. Die Disputation wurde ohne klares Ergebnis abgebrochen. Es entstand ein akuter Autoritätskonflikt zwischen Flacius und dem Landesherrn. Im Sommer 1561 ließ Herzog Johann Friedrich II. (1529–1595) eine Konsistorialordnung publizieren, um den internen Konflikt aus der Welt zu schaffen. Die vorgesehene Verfassung dieses Kirchengerichts, das sich ebenfalls auf dem Weimarer Schloss treffen sollte, war beispiellos, wie ich 2011 in meiner Dissertation über die ernestinische Konfessionspolitik gezeigt habe. Im Unterschied zu anderen Konsistorien sollte es nicht für Ehesachen zuständig sein, sondern lediglich für die Angelegenheiten, die die aktuellen Streitigkeiten um den Bann, die Lehre und die Zensur betrafen. Zudem beanspruchte in keiner anderen Konsistorialordnung ein weltlicher Herrscher so explizit für sich die Funktion, die oberste Instanz in kirchlichen und theologischen Angelegenheiten zu sein. Wegen des breiten Protests wurde das Konsistorium nie ins Leben gerufen. Die Gothaer Handschriftenbände Chart. B 145 und Chart. B 149 enthalten Dokumente zur Weimarer Disputation und Weimarer Konsistorialordnung, zwei Spezialformen der internen Konfliktlösung.

Ende 1561 sah der Herzog in der Entlassung von Flacius und dessen Mitstreitern die einzig mögliche Lösung des Konflikts. Um Ruhe im Land auch nach der Restaurierung von Viktorin Strigel dauerhaft zu sichern, ordnete Herzog Johann Friedrich II. 1562 eine außerordentliche Kirchenvisitation an, in der sämtliche Pfarrer des Herzogtums eine von Strigel verfasste Erklärung zur Willensfreiheit, die sog. „Declaratio Victorini“, unterschreiben mussten. Das Dokument und die Visitationsinstruktion galten lange als verschollen, wurden aber bei der Erschließung der Reformationshandschriften in Gotha wiederentdeckt und anschließend ediert. Der entsprechende Handschriftenband (Chart. A 37) enthält zudem die eigenhändigen Unterschriften zahlreicher Pfarrer. Der Protest von anderen Pfarrern ist im folgenden Band (Chart. A 38) dokumentiert. Von denen wurden 30 ihrer Ämter enthoben. Die Visitation erreichte somit ihr Ziel nicht und sorgte auch in den folgenden Jahren für Instabilität in der ernestinischen Landeskirche.

Flacius hinterließ deutliche Spuren im Herzogtum Sachsen, später auch in den Beständen der Forschungsbibliothek Gotha, die im Rahmen der Tiefenerschließung neu aufgedeckt werden und der Flacius-Forschung bedeutende Anregungen geben konnten.

Verfasser: Dr. Daniel Gehrt

Literatur:
Irene Dingel, Johannes Hund und Luka Ilić (Hg.): Matthias Flacius Illyricus. Biographische Kontexte, theologische Wirkungen, historische Rezeption. Göttingen 2019.
Daniel Gehrt: Ernestinische Konfessionspolitik. Bekenntnisbildung, Herrschaftskonsolidierung und dynastische Identitätsstiftung vom Augsburger Interim 1548 bis zur Konkordienformel 1577. Leipzig 2011.
Daniel Gehrt: Die Harmonie der Theologie mit den studia humanitatis. Zur Rezeption der Wittenberger Bildungskonzeptionen in Jena am Beispiel der Pfarrerausbildung. In: Matthias Asche, Heiner Lück, Manfred Rudersdorf und Markus Wriedt (Hg.): Die Leucorea zur Zeit des späten Melanchthon. Institutionen und Formen gelehrter Bildung um 1550. Leipzig 2015, S. 263–312.
Daniel Gehrt: Strategien zur Konsensbildung im innerlutherischen Streit um die Willensfreiheit. Edition der Declaratio Victorini und der ernestinischen Visitationsinstruktion von 1562, in: Zeitschrift für Thüringische Geschichte 63 (2009), S. 143–190.
Friedhelm Gleiß: Die Weimarer Disputation von 1560. Theologische Konsenssuche und Konfessionspolitik Johann Friedrichs des Mittleren. Leipzig 2018.
Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft (Die Handschriften der Forschungsbibliothek Gotha 2). Beschrieben von Daniel Gehrt. Wiesbaden 2015.
Philipp Knüpffer: Das Hildburghäuser Diarum des Adam Sellanus (FB Gotha, Chart. B 213) als Quelle zur Frühgeschichte der Universität Jena. Voraussichtlich 2021 im Druck.

Web:
Kalliope-Portal (letzter Zugriff: 10.04.2020).
„Historische Methode und Arbeitstechnik der Magdeburger Zenturien. Kirchengeschichtsschreibung in einem gelehrten Netzwerk im 16. Jahrhundert. Mit einer kritischen digitalen Edition der methodischen Texte“ (letzter Zugriff: 09.06.2020).

 

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