Begehrt und bewegt: Die transatlantische Reise eines spätmittelalterlichen Fechtbuchs

/ Oktober 2, 2023

Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 51

Abb. 1: Zweikampfszene aus dem ehemals Gothaer „Gladiatoria“-Fechtbuch, Anfang 15. Jh.

In 85 Szenen stechen, hebeln und schlagen zwei Ritter mit Speer, Schwert und Dolch (Abb. 1). Sie demonstrieren in offener Landschaft ein vielfältiges Repertoire an ausgefeilten Kampftechniken. Eine Prachtschau entfaltet sich, als sie sich geschickt in opulenter Rüstung mit windgepeitschten Mänteln in leuchtenden Rot-, Blau-, Grün- Lila- und Orangefarben bewegen.

Diese Beschreibung bezieht sich auf eine spätmittelalterliche Handschrift, die einst zur Fechtbuchsammlung der Herzoglichen Bibliothek Gotha gehörte (Memb. II 109) – bis zum Zweiten Weltenkrieg eine der bedeutendsten Sammlungen ihrer Art in Europa. Die Handschrift befindet sich heute jenseits des Atlantiks in der Paul Mellon Collection des Yale Center for British Art in New Haven, Connecticut (U860.F46 1450). Auf welche Wege und unter welchen Beweggründen wanderte diese faszinierende Handschrift über die Landesgrenzen?

Die auf den Anfang des 15. Jahrhunderts zurückzuführenden Ursprünge des Fechtbuchs liegen weitgehend im Dunkeln. Die Begleittexte zu den Illustrationen sind dem bairischen Sprachraum zuzuordnen, der einen Großteil des heutigen Bayerns und Österreichs umfasst. Die erste örtlich bestimmbare Station der Handschrift ist die Residenzstadt Gotha. Prinz August von Sachsen-Gotha-Altenburg (1747–1806) schenkte der Hofbibliothek auf Schloss Friedenstein am 22. Oktober 1792 das Fechtbuch als Teil eines Sammelbands (Abb. 2). Ein Fragment der ihrerzeit beliebten, von dem spanischen Dichter Lope de Vega (1562–1635) verfassten Komödie „El testimonio vengado“ sowie spanische Gedichte und verschiedene französische und lateinische Texte waren ebenfalls enthalten.

Abb. 2: Ernst Christian Specht: Ölgemälde von Prinz August von Sachsen-Gotha-Altenburg, 1795. Stiftung Schloss Friedenstein.

Die thematische wie materielle Heterogenität des Bandes – die ersten beiden Teile waren aus Pergament, der dritte Teil aus Papier – spricht dafür, dass der Erwerb vor allem durch bibliophile Interessen motiviert war. Für seine eigene Privatbibliothek sammelte Prinz August vorwiegend schöngeistige Literatur in deutscher und in ausgeprägtem Maße französischer Sprache. Hatte August in jüngeren Jahren zwei Italienreisen unternommen, beherrschte er sicherlich auch Italienisch. Die spanischen Texte des Sammelbands konnte er aber wahrscheinlich nur mühsam anhand seiner Kenntnisse anderer romanischer Sprachen verstehen. Zweikampf in voller Rüstung war durch die breite Verwendung von Feuerwaffen seit dem 16. Jahrhundert längst antiquiert, so dass das im Fechtbuch vermittelte praktische Wissen für den Prinzen der Aufklärungszeit kaum von Relevanz gewesen wäre.

Beim Erwerb des Sammelbands bzw. der einzelnen Handschriften spielten somit weder persönliche thematische Vorlieben noch wissenschaftliche Interessen eine vordergründige Rolle. Wichtiger war die Fähigkeit des Objekts, beispielswiese Neugier und Staunen zu erwecken, Freude und Heiterkeit zu bereiten oder Repräsentationszwecken zu dienen. Welche Eigenschaften hätten solche Wirkungen auslösen können? Neben materiellen und künstlerisch-ästhetischen Aspekten waren in diesem Fall auch die kulturhistorische Bedeutung, die Lope de Vega als hervorragendem Dichter im Goldenen Zeitalter Spaniens zugeschrieben wurde, sowie die Rarität des Kampfkompendiums wesentlich. Als illustrierte Handschrift war das Fechtbuch an sich unikal. Zugleich gehörte es zur seltenen, sogenannten Gladiatoria-Gruppe. Nur fünf andere derartige Fechtbücher zu Kampftechniken in Vollharnisch sind heute überliefert.

Abb. 3: Szene eines gerichtlichen Zweikampfs nach fränkischen Recht mit Stechschild und Kolben im Fechtbuch von Hans Talhoffer, 1467

Rückschlüsse auf den bibliophilen Wert des Gladiatoria-Fechtbuchs in Gotha bietet ein Blick auf die Verlagerung auserlesener Bestände der Bibliothek auf Schloss Friedenstein als Schutzmaßnahme gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. 17 mit farbigen Bildern versehene Pergamenthandschriften und drei Blockbücher – von Holzstöcken geschnitzte Frühdrucke – wurden ausgesondert und nach Coburg, der Hauptresidenzstadt der Herzöge von Sachsen-Coburg und Gotha, gebracht. Dabei wurden auch zwei Fechtbücher ausgewählt: eine Anleitung zum Kampf mit Schwert und Buckler, heute als das älteste illustrierte Fechtbuch Europas bekannt (Royal Armouries in Leeds, I.33), und die Handschrift, die der berühmte oberdeutsche Fechtmeister Hans Talhoffer 1467 in Auftrag gegeben hatte (BSB München, Cod. icon. 394 a; Abb. 3). Die beiden papierenen Fechtbücher – die älteste überlieferte Talhoffer Handschrift (Chart. A 558) und ein Fechtbuch von Paulus Kal (Chart. B 1021) – blieben erfreulicher Weise ungeachtet ihrer Einzigartigkeit in der Gothaer Sammlung zurück.

So überrascht es, dass nicht auch das Gladiatoria-Fechtbuch, ebenfalls eine Pergamenthandschrift, mit nach Coburg transportiert wurde. Dies könnte an seinem kleinen Format (16,5 x 17,5 cm) liegen oder es war bereits zu diesem Zeitpunkt auf unbekannte Art und Weise in private Hände gekommen. Erst drei Jahrzehnte nach dem Krieg stellte der Historiker Hans-Peter Hils anhand von Beschreibungen und Abbildungen in Auktionskatalogen fest, dass Teile des Fechtbuchs zwischen 1956 und 1964 vom Heidelberger Buch- und Kunstantiquariat Helmut Tenner versteigert worden waren. Später kam AB Sandbergs Bokhandel in Stockholm in den Besitz dieser und der übrigen Blätter. Die neuen Besitzer blieben jedoch nach wie vor unbekannt. Dierk Hagedorn, ausgewiesener Kenner der historischen europäischen Kampfkünste, identifizierte 2015 das Gladiatoria-Fechtbuch im Yale Center for British Art in New Haven, Connecticut als dasjenige, das einst zu den Beständen der Herzoglichen Bibliothek Gotha gehört hatte. Der amerikanische Unternehmer, Philanthrop und Kunstsammler Paul Mellon (1907–1999) hatte die einzelnen Teile zwischen 1959 und 1964 erworben und sie diesem von ihm selbst gestifteten Kunstmuseum vermacht.

Auch als Fragment hatte das Buch seinen Reiz nicht verloren. Vielmehr beförderte die Attraktivität, die Bibliophilen immer wieder bewegte, seine bemerkenswerte Mobilität über die Jahrhunderte.

Daniel Gehrt

Daniel Gehrt ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Erschließung frühneuzeitlicher Handschriften an der Forschungsbibliothek Gotha.

Mehr Informationen zum Thema erhalten Sie hier beim Vortrag:
„Auf großer Fahrt.“ Das Gothaer Gladiatoria-Fechtbuch und seine Reise nach Neuengland.

Datum: 11. Oktober 2023, 18:15 Uhr
Veranstaltungsort: Forschungsbibliothek Gotha, Spiegelsaal (Schloss Friedenstein Gotha)

Vortrag und Vorführung in voller Rüstung von Dierk Hagedorn (Hamburg) und Arne Koets (Lauchröden)

Aufgrund begrenzter Kapazitäten bitten wir um Anmeldung bis zum 9. Oktober unter info@fk-fbgth.de.

Literatur

  • Daniel Gehrt: Mit Schwert und Degen. Zweikampf in historischen Fechtbüchern. Gotha 2021, bes. S. 15, 81f., 100. Link zur Bestellseite
  • Dierk Hagedorn: Gladiatoria. Medieval Armoured Compat. The 1450 Fencing Manuscript from New Haven. London 2018. Erstausgabe von 2015 enthält zusätzlich Übersetzungen der Handschriftentexte in modernes Deutsch.
  • Dierk Hagedorn: A Long Time Ago in a Library Far, Far Away … The Adventures of the Gladiatoria Manuscript from New Haven, in: Acta Periodica Duellatorum 3 (2015), S. 183–208. Open access: https://bop.unibe.ch/apd/article/view/6982/9872
  • Cornelia Hopf: Die abendländischen Handschriften der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha. Gotha 1997, S. 66f.
  • Cornelia Hopf: „… vor dem Einmarsch der Russen nach Koburg zu transportieren“. Die Verlagerung von Zimelien der heutigen Forschungsbibliothek Gotha 1945 und ihr anschließender Verkauf, in: Kulturgüter im Zweiten Weltkrieg. Verlagerung – Auffindung – Rückführung, bearb. von Uwe Hartmann. Magdeburg 2007, S. 197–234.
  • Monika E. Müller (Hrsg.): Vom Fremden erzählen. Reiseberichte aus fünf Jahrhunderten. Katalog zur Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha auf Schloss Friedenstein vom 16. April bis 11. Juni 2023. Gotha 2023, S. 108-109.

Web

Abbildungsnachweis

  1. Zweikampfszene aus dem ehemals Gothaer „Gladiatoria“-Fechtbuch, Anfang 15. Jh. Paul Mellon Collection des Yale Center for British Art in New Haven/Connecticut, U860.F46 1450, Bl. 19v.
  2. Ernst Christian Specht: Ölgemälde von Prinz August von Sachsen-Gotha-Altenburg, 1795. Stiftung Schloss Friedenstein.
  3. Szene eines gerichtlichen Zweikampfs nach fränkischen Recht mit Stechschild und Kolben im Fechtbuch von Hans Talhoffer, 1467. BSB München Cod. icon. 394 a, Bl. 64v. CC BY-NC-SA 4.0
  4. Beitragsbild: Zweikampfszene aus dem ehemals Gothaer „Gladiatoria“-Fechtbuch, Anfang 15. Jh. Paul Mellon Collection des Yale Center for British Art in New Haven/Connecticut, U860.F46 1450, Bl. 21v.
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