Wahrheitsfindung oder Faustrecht? Gerichtlicher Zweikampf im Gothaer Fechtbuch von Hans Talhoffer
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 37
Befremdlich, brutal, archaisch. So wirken viele Szenen des ältesten illustrierten Fechtbuchs der Forschungsbibliothek Gotha (Chart. A 558). In einer Bildserie (Bl. 42r–48r) stehen anfangs zwei Männer in grauen enganliegenden Ganzkörperanzügen einander gegenüber. Sie halten jeweils übermannhohe Stechschilde in der linken Hand und hölzerne Kolben in der rechten. Die Kolben kommen nur kurz zum Einsatz. Die Kontrahenten lassen sie fallen, um die sperrigen, an mehreren Stellen angespitzten Schilde besser handzuhaben. Der Mann auf der rechten Seite fügt seinem Gegner zunächst eine Stichwunde am Fußgelenk zu. Er bewegt sich geschickt mit der Deckung seines Schildes zur Außen- und dann wiederum zur Innenseite des Gegners. Dort findet er eine Lücke zum Herz. Der Getroffene fällt blutbedeckt zu Boden. Der Erschlagene liegt anschließend auf einer Bahre zum Wegtragen bereit, während der Sieger ein Gebet verrichtet.
Wozu diente dieser Kampf auf Leben und Tod? Das Gebet und die roten Kreuze am Kopf, Brustkorb, Rücken, Stechschild und Kolben der Kontrahenten deuten auf eine christliche Praxis hin und die kuriosen Anzüge und Waffen auf eine ritualisierte Form der Gewalt. Die Schranken, die den Raum des Kampfgeschehens bestimmen, und die Begleitpersonen mit langen Stangen machen klar, dass die physische Auseinandersetzung geregelt ist. Sind die anderen anwesenden Menschen nur schaulustige Teilnehmer eines öffentlichen Spektakels oder nehmen sie eine bestimmte Funktion wahr?
Bevor diese Fragen beantwortet werden, ist es sinnvoll, zunächst einen Blick auf die Handschrift selbst zu werfen. Es handelt sich um ein „Fechtbuch“. Im Unterschied zum heutigen Gebrauch umfasst „Fechten“ in diesem Kontext viel mehr als nur den Schwertkampf. Im Mittelalter steht das deutsche Verb „fechten“ für Kämpfen im Allgemeinen, sei es mit oder ohne Waffen, wie etwa „pugnare“ im Lateinischen oder „to fight“ im Englischen. Unter „Fechtbüchern“ versteht man im Allgemeinen häufig bebilderte Handschriften oder Drucke, die teilweise ursprünglich für den praktischen Gebrauch konzipiert wurden und Kampfkünste systematisch darlegen. Ihr Fokus liegt auf normierten und ritualisierten Formen des bewaffneten und unbewaffneten, individuellen zivilen Zweikampfs und nicht auf der Ausbildung ganzer Heere. Neben Anleitungen zu Kampftechniken in Prosa oder in Versen enthalten diese oft heterogen zusammengestellten Sammlungen beispielsweise auch prognostische, historische, juristische und militärtechnische Abschnitte.
Die Papierhandschrift in Gotha und vier überlieferte Pergamentbände in anderen Bibliotheken europaweit gehen auf den oberdeutschen Fechtmeister Hans Talhoffer zurück.
Das Fechtbuch in der Forschungsbibliothek ist das älteste von allen. Es entstand in den 1440er Jahren – im Text begegnen die Jahresangaben 1443 und 1448. Einem Vermerk auf dem ersten Blatt zufolge ließ sich Talhoffer diesen Sammelband für den eigenen Gebrauch anfertigen. Er enthält 178 meist kolorierte Federzeichnungen unter anderem zum Kampffechten im Harnisch, zur Ringerlehre des getauften Juden Ott, der im Dienst der österreichischen Habsburger stand, und zum Kriegsgerät und dessen Anwendung.
Hinzu kommen Abschnitte zum gerichtlichen Zweikampf. Dazu gehört die oben beschriebene Bildserie. Was steckt hinter diesem sonderbaren Verfahren? Gerichtlicher Zweikampf, lateinisch „duellum“ (Duell) oder „iudicium pugnae“ (Kampfurteil), war ein gesamteuropäisches Phänomen, das einen wichtigen Bestandteil der mittelalterlichen Rechtsordnung bildete. Es handelt sich um eine juristisch normierte physische Auseinandersetzung zwischen zwei Parteien in einem Rechtsstreit, die der Beweiserhebung in einem Gerichtsverfahren dienen sollte. Der Kampf konnte, musste jedoch nicht zwingend bis zur Tötung des Gegners geführt werden. Er konnte unterbrochen werden oder eine Partei konnte aus dem Ring getrieben werden bzw. die Flucht ergreifen. Das Verfahren fand nur dann Anwendung, wenn die Beweislage kein zuverlässiges Urteil zuließ. Ein Sieg im Kampf galt als Unschuldsbeweis. Dem lag die Vorstellung zugrunde, dass Gott in das Kampfgeschehen eingreifen und dessen Ausgang als Zeichen der göttlichen Gerechtigkeit bestimmen würde. Die aschgrauen Anzüge mit angenähten Kreuzen brachten die Bußfertigkeit der Kämpfenden zum Ausdruck. Eine solche Haltung war geboten, mussten doch beide Kämpfer darauf gefasst sein, Abschied von dieser Welt zu nehmen bzw. einen anderen Menschen vom Leben in den Tod zu befördern. Nach christlichen Glaubensvorstellungen stand somit auch das Seelenheil auf dem Spiel. Die Anzahl der aktenkundigen Gerichtskämpfe fällt sehr gering aus. Häufig wurde mit einer Kampfklage gedroht, ohne dass es überhaupt zum Gefecht kam. Die Aussicht darauf, das Leben in den Schranken auf das Spiel zu setzen, wirkte offensichtlich als Abschreckungsmoment, das die Streitparteien oft dazu bewegten, sich gütlich zu einigen. Somit konnte diese Rechtspraxis unter Umständen als effektives Mittel der Konfliktlösung fungieren.
Die Gothaer Talhoffer-Handschrift bietet die bestüberlieferten Bilderfolgen zu den Praktiken und Ritualen jenseits des eigentlichen Kampfes. Der erste Bilderzyklus (Bl. 24r–48r) illustriert einen Prozess nach fränkischem Recht von der Überbringung eines Anschreibens an einen Fechtmeister bis zum Ausgang des Kampfs. In vier Bildern werden die Kontaktaufnahme, die Abmachung und die Anreise des Fechtmeisters mit dessen Gehilfen vor der Burg des Auftraggebers bzw. Klienten gezeigt, bevor das Training beginnt.
Den zweiten und längsten Teil (Bl. 27v–37v) bildet die vielseitige Vorbereitung auf den Kampf. Nach der Bildnarration begann diese mit spirituellen Vorkehrungen. Auf den beiden ersten, einander gegenüberliegenden Blättern kniet der Kämpfer mit abgelegten Waffen vor dem Schweißtuch der Hl. Veronika und einem Bildstock im Kirchhof mit der Kreuzigungsszene. Das Anschauen und Anbeten des Schweißtuchs der Hl. Veronika, das nach christlichen Glaubensvorstellungen im Mittelalter als authentische Abbildung des Mensch gewordenen Gottessohnes galt, sollte den Segen des Empfangs des Leibes Christi beim Sakrament vor dem Altar verstärken. Im nächsten Bild kniet der Kämpfer betend vor der Hl. Maria und dem Hl. Georg. Vor seinem geistigen Auge erscheint Trauerfeier-Symbolik: ein Katafalk mit langen brennenden Kerzen an den vier Ecken, auf dem noch kein Leichnam liegt. Der Fechtmeister, der dem Kämpfer gegenübersteht, begleitet seinen Klienten offenbar auch bei dessen innerer Vorbereitung auf den Tod. Auf der gegenüberliegenden Seite führt der Kämpfer ohne Gegner eine Technik mit Stechschild aus. Die folgenden Blätter sind ebenfalls nach diesem Muster gestaltet: Links wird jeweils eine andere Form der spirituellen und psychischen Vorbereitung auf den Kampf und den Tod dargestellt und auf der rechten Seite jeweils eine Technik mit Stechschild oder auch mit Kolben gezeigt. Dadurch wird das zeitliche Ineinandergreifen von Aktivitäten zur technischen, leiblichen und seelischen Vorbereitung deutlich. Gezeigt werden zum Beispiel Stangen- und Steinwerfen zur Ertüchtigung des Körpers, eine Hirschjagd im Wald und Essen und Baden mit Musikbegleitung zur Erheiterung und Entspannung sowie das Ablegen der Beichte und der Empfang des Sakraments zur seelischen Stärkung.
Der dritte Teil der Bildnarration (Bl. 38r–41v) beschreibt den Auszug des Kämpfers und des Fechtmeisters mit ihrem Gefolge durch ein Stadttor zum Kampfplatz, den Eintritt in die Schranken, das Gegenübersitzen der Kontrahenten in Armstühlen und die Überreichung der Waffen. Dabei sind spezielle Akteure eines gerichtlichen Zweikampfes erkennbar. Die Grießwarte stehen auch innerhalb der Schranken und nehmen die Rolle von Ringrichtern wahr, die bei Regelverstößen den Kampf mit ihren langen Stangen unterbrechen können. Die Warner instruieren ihre Schützlinge außerhalb der Schranken. Unklar bleibt jedoch, wer unter den als Zeugen dienenden Zuschauern der Richter ist. Im vierten und letzten Teil (Bl. 42r–48r) wird das eingangs geschilderte Kampfgeschehen darstellt.
Solche Formen der ritualisierten Gewalt zwecks der Wahrheitsfindung sind bis ins 16. Jahrhundert hinein im süddeutschen Raum nachzuweisen. Dagegen scheint diese Rechtspraxis deutlich früher im Mittel- und Norddeutschland ausgestorben zu sein. Mehr zu diesem und verwandten Themen bietet die neue digitale Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha „Mit Schwert und Degen. Zweikampf in historischen Fechtbüchern“.
Verfasser: Dr. Daniel Gehrt, 20.12.2021
Literatur:
Eric Burkart: Die Aufzeichnungen des Nicht-Sagbaren. Annährung an die kommunikative Funktion der Bilder in den Fechtbüchern des Hans Talhofer, in: Das Mittelalter 19 (2014), S. 253–301.
Daniel Gehrt: Mit Schwert und Degen. Zweikampf in historischen Fechtbüchern. Gotha 2021, bes. S. 11, 41–50, 59–61. [Link zur Bestellseite: https://www.uni-erfurt.de/forschung/aktuelles/publikationen/publikation-detail/mit-schwert-und-degen-zweikampf-in-historischen-fechtbuechern]
Uwe Israel: Die Fechtbücher Hans Talhofers und die Praxis des gerichtlichen Zweikampfs, in: Elisabeth Vavra und Matthias Johannes Bauer (Hrsg.): Die Kunst des Fechtens. Heidelberg 2017, S. 93–132.
Web:
Digitale Ausstellung der Forschungsbibliothek Gotha „Mit Schwert und Degen. Zweikampf in historischen Fechtbüchern“, Gotha/Jena 2021: Link http://www.digital-fb-gotha.de/ausstellungen
Volldigitalisat des Talhoffer-Fechtbuchs der Forschungsbibliothek Gotha (Chart. A 558): https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00025699
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