Emil von Sydow – Kartograph zwischen Praxis und Theorie
Vor 210 Jahren wurde Emil von Sydow in Freiberg geboren. 1873, in seinem 62. Lebensjahr, wurde er jäh aus seiner Tätigkeit als Leiter der Geographisch-statischen Abteilung des Großen Generalstabs in Berlin herausgerissen. Er war Opfer der grassierenden Cholera. Wie die meisten der Kartographen des 19. Jahrhunderts ist Emil von Sydow heute fast vergessen, obwohl seine kartographischen Visualisierungen der Welt bis heute nachwirken.
Bei Emil von Sydow sind es die für Lehr- und Schulzwecke entwickelten Regionalfarben, die das Verständnis von Karten und Orientierung in der Welt bis heute prägen. Er entwickelt dieses Flächenkolorit als preußischer Offizier und Lehrer an der Erfurter Kadettenschule seit 1832. Von didaktischen Prinzipien der Einfachheit und Klarheit geleitet, weist Emil von Sydow den landschaftlichen Großformen der Erdoberfläche Farben zu, deren farbliche Abstufungen zugleich Höhen anzeigen: Blau für die Meerestiefen, Grün für die Flachländer, Braun für die Gebirgshöhen. Sydows Regionalfarben werden gestaltendes Prinzip seiner Schulwandkarten und Schulatlanten. Die Gipfel des Himalaja, die seine im Bereich der Siebentausender endende Maßeinteilung sprengen werden, blieben ihm unbekannt. Erst im frühen 20. Jahrhundert, als Sven Hedin in mehreren Expeditionen Tibet erkundete, fügte man der Farbskala das Rot hinzu, um die Achttausender der Welt kartographisch zu fassen.
Seit 1838 entwarf Emil von Sydow Schulwandkarten für den aufstrebenden Kartenverlag Justus Perthes Gotha, dem er von 1855 bis 1860 als fester Mitarbeiter angehörte. Die Folge der von ihm geplanten 24 Wandkarten setzte mit einer „Asia“-Karte ein, deren erste Auflage heute Seltenheitswert hat und zeitgenössisch höchstes Lob erfuhr. Carl Ritter, der 1820 an die Universität zu Berlin berufen wurde, um „Erd-, Länder-, Völker- und Staatenkunde“ zu lehren und damit lange Zeit der einzige Inhaber eines Lehrstuhls für Geographie in Deutschland war, urteilte, dass Sydows Karte beeindrucke „durch die Zweckmässigkeit ihrer ganzen Anordnung, durch die einfache großartige Haltung ihrer Haupttheile, durch die Befreiung vom unnützen Ballaste der Namengebung und durch die muntere, passende farbige Darstellung“1Justus Perthes Schulkatalog, Gotha 1936, S. 6.. Bis 1856 folgten weitere sechs Karten („Europa“, „Africa“, „Nord- und Südamerika“, eine „Erdkarte“ und Australien)2Sydow, Emil von: Begleitworte zum Wand-Atlas über alle Theile der Erde, Erfurt 1838.. Sydows Idee eines umfassenden Schulkartenwerks wurde jedoch nicht verwirklicht. Erst in den 1880er Jahren nahm sie der Perthes Verlag wieder auf und Hermann Haack perfektionierte sie um 1900. Haack entwickelte Gesamtausgaben von Wandkarten, die er als Atlanten zusammenführte3Zu Haacks Schulwandkartenkonzept siehe Werner Horn, Das Lebenswerk von Hermann Haack. In: Petermanns Geographische Mitteilungen 110 (1966), S. 161–175; Köhler, Franz: Die Wandatlanten von Hermann Haack und die gesellschaftlichen Einflüsse ihrer Entstehung. In: Fortschritte in der geographischen Kartographie, red. Hans Richter, Gotha 1985, S. 58–59.. Zugleich griff er Sydows auf Weitsicht im Klassenraum konzipiertes Farbprinzip auf. Haack rahmte die Karten mit jenem schwarzen Rand, der die Schulwandkarten aus Gotha und dann später aus Darmstadt unverwechselbar macht. Dieser Blackscreen bringt die Farben der Schulwandkarten zum Leuchten. Denkt man heute an Schulwandkarten, dann stehen jedem, der vor der digitalen Revolution der Jahrtausendwende im deutschsprachigen Raum zur Schule ging, die Karten aus dem Verlag Justus Perthes Gotha und dessen Nachfolgeverlage – Justus Perthes Darmstadt und der VEB Hermann Haack Geographisch-kartographische Anstalt Gotha – vor Augen.
Die von Emil von Sydow für den Perthes Verlag seit 1838 entworfenen Wandkarten waren Teil eines ambitionierten Schulgeographieprogramms, das auch Atlanten umfasste. Die Schulatlanten des Perthes Verlags, die seit 1820 erschienen, waren zunächst nur Miniaturausgaben von Verlagsatlanten. Deren Karten wurden verkleinert und in ihrer Zahl reduziert auf den Markt gebracht. Emil von Sydow hingegen konzipierte aus seiner Lehrerfahrung heraus einen eigenständigen, didaktisch durchgeformten Atlas, der die Karten des Perthes Verlages einbezog, sie aber überarbeitete, vereinfachte, generalisierte. Sein „Methodischer Hand-Atlas für das wissenschaftliche Studium der Erdkunde“ (ab 1842) und sein „Schulatlas“ (ab 1847) verschmolzen in ihrer permanenten Überarbeitung als „Sydow-Wagner-Schulatlas“ bis zum Ende des zweiten Weltkriegs zum Leitatlas der deutschen Schulgeographie.4Hermann Wagner (1840–1929) war zunächst als Lehrer in Gotha, dann als Professor für Geographie seit 1876 in Königsberg und seit 1880 in Göttingen eng mit dem Justus Perthes Verlag verbunden. Er überarbeitet und modernisiert ab 1888 Sydows Schulatlas. Zu Recht wurde Sydow deshalb im Hauptkatalog des Perthes Verlages, der anlässlich des 150-jährigen Firmenjubiläums 1935 erschien, als „Begründer der methodischen Schulkartographie“ gefeiert.5Justus Perthes Hauptkatalog, Gotha 1935, S. XII. Online-Ressource. Und der seit den 1950er Jahren jährlich erscheinende Haack-Schulatlas, der Generationen von DDR-Schülern begleitete, lässt in seiner Konzeption und den Kartenschnitten noch seine Herkunft von Sydows Atlanten erkennen.
Das Wissen um den Anteil Emil von Sydows in der Geschichte der Schulgeographie, vor allem in ihren medialen Formen der Wandkarte und des Schulatlas, ist heute nur noch Spezialisten, Wissenschaftlern und Kartenliebhabern, bekannt. Schulkarten als didaktische Wandbilder und Schulatlanten sind historische Phänomene, die im Zeitalter von Google und GPS kaum noch eine Rolle spielen, nicht zuletzt, weil das Fach Geographie seine Selbständigkeit in den staatlichen Lehrplänen verloren hat. Vergessen sind die technologischen Neuerungen der Kartenproduktion, die Mitte des 19. Jahrhunderts Emil von Sydow mit dem Verlagsinhaber Bernhardt Perthes auf den Weg brachte. Und ebenso vergessen ist, dass Emil von Sydow ein bedeutender Theoretiker der Kartographie war.
Emil von Sydow war in der Mitte des 19. Jahrhunderts Protagonist des Formierungsprozesses der Kartographie als Disziplin zwischen Handwerk, technischer Wissenschaft und Ästhetik. Sydow engagierte sich gleichermaßen als Praktiker und Theoretiker der Kartographie. In diesem Zusammenhang sind immer noch lesenswert seine „Elemente der Erdkunde“, eine Begleitarbeit für seinen Schulatlas,6Sydow, Emil von: Elemente der Erdkunde, Gotha 1858. „Drei Karten-Klippen“7Sydow, Emil von: Drei Kartenklippen. In: Geographisches Jahrbuch 1(1866), S. 348–361. und seine kartenkritischen Kommentare zum „Kartographischen Standpunkt Europas“, die er von 1857 bis1872 in den von August Petermann herausgegebenen „Mitteilungen aus Justus Perthesʼ Geographischer Anstalt“ veröffentlicht.8Sydow, Emil von: Der kartographische Standpunkt Europaʼs am Schlusse des Jahres 1856 mit besonderer Rücksicht auf den Fortschritt der topogr. Spezialarbeiten. In: Mittheilungen aus Justus Perthesʼ Geographischer Anstalt über wichtige neue Erforschungen auf dem Gesammtgebiete der Geographie, 3 (1857), S. 1–24, 57–91; 4 (1858), S. 134–149; 5 (1859), S. 209–256; 6 (1860), S. 409–415, 449–477; 7 (1861), S. 458–474; 8 (1862), S. 451–475; 9 (1863), S. 458–482; 10 (1864), S. 466–486; 11 (1865), S. 445–468; 13 (1867), S. 108–115, 140–145; 16 (1870), S. 57–72, 103–109, 169–184; 18 (1872), S. 256–272, 297–314. Online-Ressource. – Siehe dazu Siegel, Steffen: Die ganze Karte. Für eine Praxeologie des Kartographischen. In: Die Werkstatt des Kartographen. Materialien und Praktiken visueller Welterzeugung, hg. von Steffen Siegel, Petra Weigel, München 2011, S. 7–28, hier S. 7–13. Ausgehend von europäischen Karten wies Sydow der Kartographie eine zentrale Stellung in den sich etablierenden Raumwissenschaften zu, für die Karten epistemische Instrumente werden. Mit Blick auf heutige Globalisierungsprozesse erscheinen Sydows Kommentare zu der seit 1863 bei Perthes verlegten „Chart of the World“ nahezu als seismographisch, wenn er ihre ungewöhnliche, auf die drei weltumspannenden Ozeane fokussierte Darstellung erläutert: „ … dass der Ocean nicht mehr vor uns als Völker scheidendes Element, sondern als bunt belebte Weltbrücke gegenseitigen Verkehrs, als Träger der Civilisation von einer Zone in die andere; unser Blick verfolgt den Lauf der dampfenden Wasserstrassen zur Verschürzung in einzelnen von der Natur gestempelten Verkehrsmittelpunkten und überfliegt mit Bewunderung jene elektrischen Bahnen, auf denen der Gedanke von einem Ende der Erde zum anderen eilt.“9Sydow, Emil von: Der kartographische Standpunkt Europaʼs … In: Mittheilungen aus Justus Perthesʼ Geographischer Anstalt … 9 (1863), S. 482. Und zugleich formulierte Sydow in seinen „Kartographischen Standpunkten“, in denen er, quasi als ein Reich-Ranicki der Kartographie, über 16 Jahre hinweg in zwölf Folgen mit strengem Blick, eleganter Feder und einer gewissen Süffisanz die Qualität der Neuerscheinungen auf dem europäischen Kartenmarkt beurteilte, immer wieder auch handwerkliche und künstlerische Ansprüche an eine gute Karte. Hier nur eine Kostprobe, in der Sydow 1861 Karten zu Sachsen und Thüringen verriss:
„Weniger glücklichen Erfolg müssen wir den zehn ersten Blättern eines historisch-geographischen Atlasses von Sachsen und Thüringen von M. v. Süssmilch-Hörnig zuschreiben. Möglich, dass der Atlas in den Händen eines Lehrers durch methodische Behandlung an Brauchbarkeit gewinnt und dass mancherlei Werthvolles niedergelegt ist, so dass wir ein Unrecht begehen würden, durch ein kurzes Aburtheilen dem nicht zu verkennenden Fleisse des Autors zu nahe zu treten; aber wir können nur nach dem urtheilen, was uns vorliegt, und nicht nach dem, was stillschweigend beabsichtigt, jedoch nicht sichtlich ausgedrückt ist. Als ganz missglückt müssen wir namentlich die geognostischen und Relief-Karten ansehen; ihre Ausführung ist eben so unpraktisch wie geschmacklos und es bleibt zu bedauern, wenn der innere Werth fleissiger Arbeiten so vollständig durch ungeschickte Technik getödtet wird. Fast demselben Schicksal verfallen ist die Karte von Thüringen und Sachsen von L. von Gutbier. Ihre Durcharbeitung verräth viel Gutes, auch die Terrain-Skizzierung ist mit anerkennenswerthem Verständnis der Landesnatur niedergelegt, aber die technische Ausführung ist äusserst mangelhaft und warnt wiederholt davor, die Kunst des Kartenstichs nicht in rohe Fabrikation ausarten zu lassen. Gerade die Kartographie verlangt ein inniges Verschmelzen des wissenschaftlich arbeitenden Geistes mit der ausübenden Kunst, und es wäre sehr zu wünschen, dass mindestens neun Zehntel der vielen lithographischen Kartenproducenten der Gegenwart durch scharfe Kritik des Publikums auf andere Gegenstände ihrer mechanischen Fertigkeit verwiesen würden.“10Sydow, Emil von: Der kartographische Standpunkt Europaʼs … In: Mittheilungen aus Justus Perthesʼ Geographischer Anstalt … 7 (1861), S. 467.
Max Eckert räumte deshalb Emil von Sydow in seiner 1921/25 in zwei Bänden erscheinenden „Kartenwissenschaft“ einen gewichtigen Platz ein. Aber Eckerts Versuch, die Kartenwissenschaft als eigenständige Wissenschaftsdisziplin zu begründen, scheiterte. Die Kartographie ist bis heute eine Hilfswissenschaft der Geschichts- und Raumwissenschaften und vielleicht auch deshalb ist Emil von Sydow heute nur noch eine Randerscheinung der Wissenschaftsgeschichte.
Aber auch schon der Perthes Verlag, für den er zahlreiche kartographische Produkte konzipierte und dessen Mitarbeiter er fünf Jahre war, blieb zurückhaltend. Kein eigenständiger Nachruf wurde verfasst. August Petermann übernahm für seine „Mitteilungen“ lediglich den, immer noch sehr lesenswerten und zugleich bedrückenden Nekrolog aus dem „Militair-Wochenblatt“.11Troschke, Freiherr von: Emil von Sydow. In: Mittheilungen aus Justus Perthesʼ Geographischer Anstalt … 19 (1873), S. 441444, das folgende Zitat auf S. 443; Nachdruck aus dem Militair-Wochenblatt 58 (1873), Nr. 89, S. 792–795. Diesem ist auch zu entnehmen, dass Emil von Sydow nicht nur ein Praktiker auf dem Papier war. Er besaß offenbar rhetorisches Geschick, didaktisches Talent und Witz, um schwierige wissenschaftliche Zusammenhänge klar und launig zu präsentieren. Denn Petermann ergänzte in einer redaktionellen Fußnote des Nekrologs: „Auch in Gotha zeigte sich Sydow als vortrefflicher Kamerad. Auf Wunsch des damaligen Commandeurs des Gotha-Coburgischen Regiments hielt er den Offizieren an den Winterabenden vielfach Vorlesungen und entzückte diese durch seine Frische und seinen reichen Humor so, dass ein wenig für wissenschaftliche Vorlesungen schwärmender Zuhörer offen gestand, Sydow sei der einzige Mensch, bei dessen Vorträgen er noch nie gegähnt habe“.
Was von Emil von Sydow als fast vergessenem Kartographen bleibt, sind seine in der Sammlung Perthes überlieferten Korrespondenzen und Lebenszeugnisse. Sie sind bisher nur im Ansatz von der Forschung berücksichtigt worden. Franz Köhler, langjähriger Chefredakteur des VEB Herman Haack, hat für sie gewichtige Vorarbeiten geleistet (siehe die Nachbemerkung). Das Schaffen Emil von Sydows harrt einer Neubewertung. Seine praktischen und theoretischen Arbeiten zur Kartographie sind in die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einzubetten, um Kartographie als eine Technik zu verstehen, mit der wir bis heute unsere Welt visualisieren, verstehen und immer wieder neu entwerfen.
Dr. Petra Weigel
Nachbemerkung
Dieser Beitrag profitiert von den Arbeiten Franz Köhlers, der als Geograph, Lektor und Chefredakteur des VEB Hermann Haack seit den 1970er Jahren zur Geschichte der Gothaer Kartographie Unverzichtbares geleistet hat. Im Umfeld des zweihundertjährigen Firmenjubiläums 1985 legte Köhler 1987 die bis heute einzige, jüngere Verlagsgeschichte vor. Köhlers tiefe Kenntnis der Überlieferungen des Verlags Justus Perthes und des VEB Hermann Haack macht seine Monographie zu einem Standardwerk der Kartographie- und Geographiegeschichte, auch wenn er sie aus einer engagierten, marxistischen Perspektive verfasste. Weiterhin hat Köhler umfangreiche Biobibliographien zu Kartographen und Geographen zusammengestellt; zudem eine Extraedition zu den Gothaer Kartographen und Geographen. In diesen Kontext sind auch Köhlers Arbeiten zu Emil von Sydow zu stellen – unveröffentlichte Manuskripte und Transkriptionen der Korrespondenzen Sydows, die er dankenswerterweise der Forschungsbibliothek Gotha übereignet hat.
Literatur
- Brogiato, Heinz Peter / Sperling, Walter: 150 Jahre Schulwandkarten bei Justus Perthes. Betrachtungen zu Wandkarte „Asia“ von Emil von Sydow (1938), Darmstadt 1989.
- Eckert, Max: Die Kartenwissenschaft, 2 Bde., Berlin 1921/1925. Online-Ressource: Band 1; Band 2;
- Görtler, Wilfried: Emil von Sydow. Begründer der methodischen Schulgeographie. In: Gothaer Geographen und Kartographen. Beiträge zur Geschichte der Geographie und Kartographie, hg. von Gottfried Suchy, Gotha 1985, S. 69-76
- Horn, Werner: Die Geschichte der Gothaer Geographischen Anstalt im Spiegel des Schrifttums. In: Petermanns geographische Mitteilungen 104 (1960), S. 271-287.
- Köhler, Franz: Gothaer Wege in Geographie und Kartographie, Gotha 1987.
- Köhler, Franz: Biobibliographien Gothaer Geowissenschaftler, Gotha 2008, Online-Ressource.
- Schramm, Manuel: Der „Sydow“. Zur Geschichte eines Schulatlas im 19. Jahrhundert. In: Archiv für Kulturgeschichte 97 (2015), S. 153-175.