Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 6

/ April 22, 2020

Radikale Reformation der Hygiene. Der Mediziner Eduard Reich in Gotha

In Zeiten der aktuellen Corona-Pandemie wissen wir, wie wichtig die Einhaltung von Hygienemaßnahmen sind. Sie können die Verbreitung von Keimen, Bakterien und Viren eindämmen bzw. sogar ganz verhindern. Das Wissen um die Notwendigkeit von dergleichen Maßnahmen und die Bereitschaft, hierfür medizinische Standards zu entwickeln, bestehen allerdings noch nicht lange. Noch im 19. Jahrhundert habe viele Mediziner hierfür kaum ein Verständnis gehabt. Ein absoluter Verfechter der „gesamten Hygiene“ war der Mediziner Eduard Reich, der von 1861 bis 1869 in der Residenzstadt Gotha lebte und wirkte. Was verschlug den am 6. März 1836 in Sternberg (Mähren) geborenen Mann mit österreichischer Staatsangehörigkeit nach Gotha, das gewiss nicht den Mittelpunkt wissenschaftlicher Forschungen zur Hygiene bildete?

Porträt von Eduard Reich. © Public domain.

Eduard Reich war wohl kein ganz einfacher Charakter. Er hielt mit seiner Polemik und seinen radikalen Ansichten nicht zurück, musste aber auch zahlreiche Schmähungen und Denunziationen ertragen. Er geriet immer wieder in Konflikte, so dass er wiederholt gezwungen war, seine Aufenthaltsorte zu wechseln, stets auf der Suche, nach einem Beruf, der ihm das Überleben ermöglichte. Nach seinem Studium der Naturwissenschaften und Medizin in Olmütz (heute Olomouc) und Brünn (heute Brno) war er von 1856 bis 1857 als Assistent am physiologisch-chemischen Laboratorium an der Universität Jena tätig, wo er auch promovierte. Über Marburg und Göttingen ging er nach Bern, wo er 1860 als Dozent (Professeur agrégé) habilitiert wurde. Anschließend wirkte er dort als Dozent für die „gesamte Hygiene“. Dies bedeutete für ihn mehr als nur die Einhaltung medizinischer Standards; vielmehr ging es ihm um medizinische, naturwissenschaftliche, gesellschaftliche und politische Zusammenhänge. Dies belegt seine Streitschrift Zur Staats-Gesundheitspflege. Ernste Worte an die bürgerliche Gesellschaft (Leipzig 1861), die das staatliche Wohl mit diesen Bereichen verknüpfte. Der Bogen wird hier von der Erziehung über Verbrechen und Laster bis hin zum Gefängniswesen, zur Prostitution und Ehe gespannt. Radikale Maßnahmen seien nötig, um das Gesellschaftssystem zu reformieren. War Reich gar ein Revolutionär? Sein „Manifest an die deutsche Nation“, das er im selben Jahr in Solothurn (Schweiz) drucken ließ, wurde ihm zum Verhängnis. Dort heißt es u.a.:

„Die Zeit des Geschwätzes und der Adressenschreiberei ist abgelaufen; der Tag des Handelns, der That, ist gekommen! Unser Losungswort heißt jetzt: „Sieg oder Tod“, und das Vaterland, das arme geknechtete, ruft: „Ihr Bürger zum Gewehr! Zum Kampfe Mann für Mann! Voran! Voran! Durch Knechtsblut zur stolzen Siegesbahn!“ Diesen Ruf müssen wir hören und müssen ziehen auf das Feld der Ehre!“

Titelblatt „Aus meinem Leben“. Exemplar der FB Gotha mit zahlreichen handschriftlichen Randnotizen.

Die gescheiterte Deutsche Revolution von 1848/49 wirkte hier sichtbar nach und sollte nun doch noch, so Reichs Hoffnung, zum Ziel geführt werden. Obgleich die von Österreich gewünschte Anklage wegen Hochverrats von den Schweizern abgelehnt wurde, sah sich Reich gezwungen, das Land zu verlassen. In seiner Autobiographie Aus meinem Leben, die er 1864 in Gotha veröffentlichte, hat er dieses Manifest als „grosse Thorheit“ (S. 14) bezeichnet.

Über Coburg kam er Anfang September 1861 nach Gotha, wo ihm Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893) – es ist nicht bekannt, ob im Wissen um die Vorkommnisse in Bern – eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatte. Auch war ihm durch ein Schreiben des herzoglichen Kabinetts die „umfänglichste Benutzung der Gothaischen Schloss-Bibliothek“ (S. 19) gestattet worden. Wie sich Reich über diese Bibliothek äußerte, mag ein längeres Zitat verdeutlichen:

„Und seither benutze ich die reiche (wenn auch durch Einseitigkeit und unrechte Sparsamkeit früherer Ober-Bibliothekare theils ungleichmässige, in manchen Fächern sogar verwahrloste, in Bezug auf wissenschaftliche Zeitschriften hier und das verstümmelte) Bibliothek ununterbrochen. Der Thätigkeit des jetzigen Ober-Bibliothekars [das ist Wilhelm Pertsch (1832–1899)], der den Wünschen der Gelehrten Rechnung trägt, verdankt das Institut viel. – Die übrigen Beamten der öffentlichen Bibliothek zeichnen durch Gefälligkeit und auch durch besondere Zuvorkommenheit sich aus, und mit den Dienern hat jeder Fremde die vollste Ursache, zufrieden zu sein. Nur schade, dass der eine derselben gerade an Tagen, wo am meisten zu thun ist, durch seine Funktion als Schloss-Gardist und Aufseher im Kunst-Cabinett der Bibliothek entzogen wird. – Im Allgemeinen bekümmern die Gelehrten und wissenschaftlich-gebildeten Praktiker Gothaʼs auffallend wenig sich um die werthvolle Bibliothek; weit davon entfernt, die tieferen Gründe dieser Erscheinung zu untersuchen, glaube ich, dass das Uebermass und Unwesen des gegenseitigen Besuchens und der in wenigen Städten mit solcher wahrhaftigen Todes-Verachtung betriebenen Bier-Cultus, die am meisten in die Augen springenden Veranlassungen der geringen Benutzung der hier so zahlreichen wissenschaftlichen Institute ist.“ (S. 19)

Wenn man davon ausgeht, dass sich Reich vor allem mit dem medizinisch-naturwissenschaftlich-philosophischen Bestand der Bibliothek beschäftigt haben wird, dann belegt dies einmal mehr die – trotz der widrigen finanziellen Umstände – universale Ausrichtung dieser Bibliothek bis ins 19. Jahrhundert hinein. Auch einige seiner eigenen Schriften aus den 1860er und 70er Jahren – darunter Volks-Gesundheits-Pflege (1862), Ueber die Entartung des Menschen. Ihre Ursachen und Verhütung (1868), System der Hygieine (2 Bde, 1870/71) und Der Mensch und die Seele. Studien zur physiologischen und philosophischen Anthropologie und zur Physik des täglichen Lebens (1872) –, befinden sich im Bestand der Herzoglichen Bibliothek bzw. des ehemaligen Perthes Verlags. Es bedürfte weiterer Nachforschungen, um festzustellen, mit welchen Beständen der Herzoglichen Bibliothek sich Reich genauer beschäftigt hat.

Die Forschungsbibliothek Gotha hat jüngst antiquarisch einige Briefe Reichs, der übrigens über keinen Wikipedia-Eintrag in deutscher Sprache verfügt, erworben. Eine genauere Auswertung konnte bis jetzt nicht erfolgen. Wir berichten hierzu nach.

Eduard Reich hat in Gotha produktive Jahre verbracht. Über Herzog Ernst II., bei dem eine Privataudienz erhielt, äußerte er sich sehr anerkennend und fast überschwenglich. Er sei ein Mann von „feiner Bildung“ (S. 22) und genausten Kenntnissen der Lebensverhältnisse der Zeit, der mit „wissenschaftlichem Instinkte und schärfstem Verstande auf der Höhe der Zeit“ (ebd.) stehe. Im Vergleich zu anderen Herzögen und Herrschern sei er einer welterfahrensten, vernünftigsten, klügsten, gebildetsten und freisinnigsten Männer. Reichs Einschätzung lässt sich insofern bestätigen, als Ernst II. zu dieser Zeit das Herzogliche Museum als eines der ersten in Deutschland der Öffentlichkeit frei zugänglichen Einrichtungen erbauen ließ. Im Vorwort zum ersten Band seines wohl bedeutendsten Werks, des Systems der Hygieine, dankte er dem „erlauchten“ Herzog (S. VIII) für den gütigst gewährten längeren Urlaub, um dieses Werk fertigzustellen. Zu einem noch genauer zu bestimmenden Datum war Reich in der Zwischenzeit zum Bibliothekar der herzoglichen Bibliothek in Coburg benannt worden. Diese Stelle ermöglichte es ihm auch, 1869 Mathilde Loewel, Tochter eines gothaischen Finanzrats, zu heiraten.

Da ihm diese Tätigkeit bei einem bescheidenen Jahresgehalt auf die Dauer jedoch nicht befriedigen konnte, war Reich bald wieder auf der Suche nach einer angemesseneren Tätigkeit. Er selbst gab die Hoffnung auf, in Deutschland bei diesen „christlich-germanischen und römisch-katholischen Dreh-Köpfen“ (Aus meinem Leben, S. 29) noch eine akademische Anstellung zu finden. Nach über neun Jahren verließ Reich Gotha und ging mit seiner Familie nach Kiel. Die Odyssee seines Lebens ging jedoch weiter: Über Würzburg, Coburg, Erlangen, Weimar, Dietendorf, Sondershausen, Rostock ging es immer weiter, ehe Reich 1919 in Muiderberb bei Amsterdam verstarb.

Verfasser: Dr. Sascha Salatowsky, 20.4.20

Bibliographie:

Werke von Eduard Reich:
Zur Staats-Gesundheitspflege. Ernste Worte an die bürgerliche Gesellschaft. Leipzig: Wigand 1861 (letzter Zugriff: 22.04.2020).
Volks-Gesundheits-Pflege. Coburg: Streit 1862 (letzter Zugriff: 22.04.2020).
Aus meinem Leben. Gotha: Stollberg 1864. (letzter Zugriff: 22.04.2020).
Ueber die Entartung des Menschen. Ihre Ursachen und Verhütung. Erlangen: Enke 1868 (letzter Zugriff: 20.04.2020).
– System der Hygieine. Zwei Bände. Leipzig: Fleischer 1870/71. Vollständiges Digitalisat beider Bände bei Google.books verfügbar.
– Der Mensch und die Seele. Studien zur physiologischen und philosophischen Anthropologie und zur Physik des täglichen Lebens. Berlin: Nicolai 1872. Vollständiges Digitalisat bei Google.books verfügbar.

Forschungsliteratur:
Karl-Heinz Karbe: Eduard Reich (1836–1919) und sein Wirken für die „gesamte Hygiene“ in der Gothaer Schaffensperiode von 1861 bis 1869. In: Beträge zur Hochschul- und Wissenschaftsgeschichte Erfurt 21 (1987/88), S. 243–256.
Heinz Flamm: Die „Kultur-Hygiene“ des Eduard Reich – ein Rückblick zur 100. Wiederkehr seines Todesjahres. In: Wiener Medizinische Wochenschrift 168, September 2018. Online-Ausgabe: DOI: 10.1007/s10354-018-0657-8 (zuletzt aufgerufen: 16.04.2020)

 

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