Der Prager Sendbrief von Thomas Müntzer. Ein Plakat ohne Wirkung?
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 33
Im November 1521 entstand die früheste erhaltene Schrift, in der Thomas Müntzer (ca. 1489–1525), Mystiker, Revolutionär und später Anführer des „Bauernkriegs“ in Nordthüringen, die Grundzüge seiner Theologie in geschlossener Form darlegte. Vier Fassungen dieser in Prag verfassten Schrift existieren heute: eine kürzere und längere deutsche Fassung, eine unvollendete tschechische Übersetzung und eine eigenhändig geschriebene lateinische Fassung. Letztere, die sich in der Forschungsbibliothek Gotha befindet, ist auf großformatigem Papier geschrieben (Abb. 1). Wurde dieses Schriftstück vor 500 Jahren als Plakat in der böhmischen Metropole öffentlich ausgehängt?
Werfen wir zunächst einen kurzen Blick auf den bewegten Lebenswandel des um 1489 in Stolberg geborenen Predigers. Müntzer hatte an den Universitäten Leipzig und Frankfurt an der Oder studiert und war als Hilfspriester und Propst tätig gewesen, bevor er 1519 als Anhänger Martin Luthers nach Wittenberg kam. Auf Luthers Empfehlung hin erhielt Müntzer 1520 eine Predigerstelle in Zwickau, der größten und wirtschaftlich bedeutendsten Stadt in Kursachen. Konflikte zwischen Müntzer, dem reformorientierten Franziskaner Johannes Sylvius Egranus (um 1480–1535) und Verfechtern der bestehenden Kirchenverhältnisse wurden durch soziale Spannungen zwischen den Tuchknappen und dem Rat der Stadt überlagert. 1521 brach Aufruhr aus.
Müntzer verließ die Stadt und ging nach Böhmen. In das Land, das infolge der hussitischen Bewegungen vor einem Jahrhundert eine gewisse Unabhängigkeit von der römischen Kirche erreicht hatte, reiste Müntzer als sendungsbewusster Visionär einer neuen Kirche sicherlich mit hohen Erwartungen. Seit Mitte Juni wirkte er als Prediger in Prag (Abb. 2). Er geriet jedoch auch hier bald in Konflikte mit der Geistlichkeit. Offenkundig erhielt er Predigtverbot und wurde verhaftet.
In dieser Zeit verfasste er in programmatischer Form eine Schrift, die zu einer neuen apostolischen Kirche aufrief. Sie sollte in Böhmen entstehen und sich von dort aus verbreiten. Die deutschen Fassungen enthalten eine rabiate klerikale Kritik. Vor allem Laien, auserwählt und verklärt durch die Offenbarung des göttlichen Geistes im Menschen und geprägt von persönlichen Anfechtungen, sollten Träger des Heils sein. Diese mystische Leidenstheologie und Ekklesiologie verband sich bei Müntzer mit einem apokalyptischen Zeitverständnis. Hatten alle vier Versionen dieser Schrift dieselbe theologische Botschaft, weisen die Abweichungen voneinander auf verschiedene Zielgruppen hin, die Müntzer beim Schreiben vor Augen hatte. Die lateinische Fassung war natürlich an ein gebildetes Publikum gerichtet. Zudem ist die Kritik an der Geistlichkeit moderater, da Müntzer sich in dieser Version bestrebt zeigt, eine Kanzel in der Stadt zu erhalten.
Seit langem wird in der Forschung diskutiert, ob diese Schrift in Prag publik gemacht wurde oder nicht. Es war durchaus üblich in der Frühen Neuzeit, Dokumente aller Art an öffentlichen Stellen auszuhängen, und Müntzer schrieb die beiden eigenhändig überlieferten Fassungen – die kürzere deutsche und lateinische Fassung – auf einem Papierformat in Plakatgröße (42,5 x 33 bzw. 49 x 36,5 cm im jetzigen beschnittenen Format). So wurde die erste Edition der lateinischen Fassung 1702 mit der folgenden Überschrift – hier in deutscher Übersetzung – versehen: „Bekanntmachung Thomas Müntzers, eigenhändig geschrieben und zu Prag 1521 angeschlagen. Gegen die Papisten“. Friedrich Günther Förster, der damalige Besitzer der Handschrift, nannte sie 1718 „das […] Münzerische Patent so er zu Prag an Rathhauß angeschlagen die Bauern wie in Thüringen zur rebellion auffzuhezen“. Historiker folgender Jahrhunderte übernahmen diese Vermutungen. Hätte jedoch Müntzer die überlieferten Schriftstücke in der Metropole ausgehängt, so wären sie heute nicht so unversehrt erhalten. Die kürzere deutsche Fassung eignete sich insofern nicht als Plakat, da sie beidseitig beschrieben ist. Müntzer selbst bezeichnet seine Schrift mehrfach als „Brief“. Der Text ist auch nicht direkt an die Prager Bürger, sondern allgemein an die Böhmen und schließlich an die gesamte Christenheit gerichtet. Müntzer wollte offensichtlich eine größere öffentliche Wirkung erzielen. So argumentierte Günter Vogler vor einigen Jahren im Blick auf den programmatischen und bekenntnishaften Charakter der Schrift, dass es sich hier um Manuskripte eines für den Druck beabsichtigten Sendbriefs handele. Jedoch erfolgte keine Publikation von Seiten Müntzers. Der Abbruch der tschechischen Übersetzung mitten im Text weist auf eine Planänderung hin. Ende November musste Müntzer Prag verlassen. Dabei nahm er den Sendbrief mit. Somit entfaltete dieses aufschlussreiche Artefakt der Reformation seinerzeit keine öffentliche Wirkung.
Das weitere Schicksal der Dokumente lag lange im Dunkeln. Die lateinische Fassung wurde angeblich im Dreißigjährigen Krieg vom schwedischen Regimentsquartiermeister Samuel Ebert in einem Kloster gefunden. Der Altenburger Sekretär und Bibliothekar Friedrich Günther Förster erbte sie von seinem Vater und verkaufte sie 1718 als Teil einer zweibändigen Sammlung von Fürsten- und Gelehrtenautographen (heute Chart. A 388–389) an die Herzogliche Bibliothek auf Schloss Friedenstein. Diese und andere Schriftstücke wurde aus den Bänden herausgelöst, um eine repräsentative Sammlung von Autographen prominenter Akteure der Reformation zu erweitern, die der Bibliotheksdirektor Ernst Salomon Cyprian auf Wunsch des Herzog Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg 1717 anlässlich des 200. Reformationsjubiläums zusammengestellt hatte.
Verfasser: Dr. Daniel Gehrt, 15.11.2021
Literatur:
Daniel Gehrt und Sascha Salatowsky: Aus erster Hand. 95 Porträts zur Reformationsgeschichte. Aus den Sammlungen der Forschungsbibliothek Gotha, Gotha 2014, S. 136f.
Hans-Jürgen Goertz: Thomas Müntzer. Revolutionär am Ende der Zeiten. Eine Biographie. München 2015, S. 84–94.
Katalog der Reformationshandschriften. Aus den Sammlungen der Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha’schen Stiftung für Kunst und Wissenschaft, beschrieben von Daniel Gehrt, Wiesbaden 2015, S. 670.
Thomas Müntzer: Prager Manifest. Faksimiledruck der lateinischen Originalhandschrift aus der Forschungsbibliothek Gotha und deren Herkunftsgeschichte, hrsg. von Friedrich de Boor u.a., Leipzig 1975.
Thomas Müntzer: Schriften, Manuskripte und Notizen, hrsg. von Armin Kohnle und Eike Wolgast. Leipzig 2017, S. 411–440, Nr. 12.
Günter Vogler: Thomas Müntzer, Anschlag oder Manifest? Überlegungen zu Thomas Müntzers Prager Sendbrief, in: Ders.: Thomas Müntzer und die Gesellschaft seiner Zeit, Mühlhausen 2003, S. 38–54
Volldigitalisat:
URL: https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00030764?&derivate
URN: urn:nbn:de:urmel-ufb-156982
Abbildungen:
Abb. 1: Lateinische Fassung von Müntzers Prager Sendbrief. FB Gotha, Chart. A 379a, Bl. 1r.
Abb. 2: Stadtansicht von Prag, in: Hartmann Schedel: Liber chronicarum, Augsburg 1497.
FB Gotha, Mon.typ 1497 2° 8, Bl. CClviiir.
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