Luthers „Freiheitsschrift“ von 1520
UNESCO-Weltdokumentenerbe in der Forschungsbibliothek Gotha
Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 20
Vermutlich im Oktober 1520 veröffentlichte Martin Luther (1483–1546) die Schrift „Von der Freyheyt eynes Christenmenschen“ zugleich in deutscher und lateinischer Sprache. Mit der lateinischen Fassung, die er mit einem Brief auch an Papst Leo X. (1475–1521) übersandte, wandte er sich an das gelehrte Publikum, um sein theologisches Verständnis des Christseins in Auseinandersetzung mit der katholischen Kirche darzustellen. Mit der deutschen Fassung richtete sich Luther an das Laienpublikum, um in einfacher Sprache zu beschreiben, „was ein Christenmensch ist und wie es mit der Freiheit steht, die ihm Christus erworben und gegeben hat“. (Luther 2016, S. 13) Beide Erstausgaben aus der Druckerei Johannes Rhau-Grunenberg in Wittenberg bewahrt die Forschungsbibliothek Gotha (VD16 L 4630 und L 7198). Das Gothaer Exemplar der deutschen Ausgabe gehört seit 2015 zum UNESCO-Weltdokumentenerbe (Memory of the World).
Der Erfolg der Schrift war immens. Von der deutschen Fassung erschienen zwischen 1520 und 1524 achtzehn Auflagen, von der lateinischen im gleichen Zeitraum zehn. Es folgten Übersetzungen ins Tschechische (1521), Französische (1525?), Englische (um 1535), Niederländische, Spanische (1540) und Italienische (um 1546). Damit war die Schrift in vielen europäischen Ländern auch in der Landessprache zugänglich, was die Verbreitung der „reformerischen“ Ideen enorm beförderte. Auch wenn genaue Angaben über die Auflagen nicht vorliegen, so dürfte es sich um eines der am häufigsten aufgelegten Werke des frühen Buchdrucks überhaupt handeln.
Der Umfang der deutschen Freiheitschrift beträgt nur 12 Blatt im Quartformat, d.h. 24 Seiten einschließlich des Titelblatts, das mit Ornamenten, Bordüren, Fabelwesen und Personifikationen versehen ist, die keinerlei Bezug zum Inhalt der Schrift aufweisen. Derartige Titeleinfassungen sind aus Kostengründen vom Verleger öfter verwendet worden. Wann das Gothaer Exemplar in den Bestand der Herzoglichen Bibliothek gekommen ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Unter der Ägide von Ernst Salomon Cyprian (1673–1745), lutherischer Theologe, Mitglied des Oberkonsistoriums in Gotha und hiesiger Bibliotheksdirektor, wurden mehr als 600 von Luthers Einzelschriften in Sammelbänden chronologisch neu zusammengeführt.
Auf diese Weise vereinigte man die Freiheitsschrift mit 34 weiteren Schriften in einem Band mit der lateinischen Aufschrift „Lutheri opera anno 1520 edita. Tom. X“ („Band 10. Im Jahr 1520 herausgegebene Werke Luthers.“). Der schlichte Einband besteht aus Schweinsleder, ohne weitere Verzierungen oder Prägungen.
Luthers Veröffentlichung der Schrift gehörte in den Kontext seiner Auseinandersetzung mit der Papstkirche, die seit dem berühmten Thesenanschlag zum Ablasshandel von 1517 virulent geworden war. In den folgenden Jahren verschärfte sich der Konflikt bis hin zur Bannandrohungsbulle „Exsurge, Domine“ („Erhebe dich, Herr“) vom 15. Juni 1520, in der 41 Thesen Luthers beanstandet worden sind. Luther reagierte mit der Veröffentlichung seiner reformatorischen Hauptschriften „Von den guten Werken“, „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Stands Besserung“, „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“ sowie „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, die er allesamt im Sommer/Herbst 1520 veröffentlichte. Die Papstkirche wiederum vollzog mit der Bannbulle „Decet Romanum pontificem“ („Es geziemt dem Papst in Rom“) die Exkommunikation des nunmehr ehemaligen Augustinermönchs.
Berühmt ist Luthers Freiheitsschrift vor allem wegen der beiden einander scheinbar widersprechenden Eingangsätze, mit denen er das Wesen des Christenmenschen umriss: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemanden untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ (Luther 2016, S. 15) Durch den nachfolgenden Hinweis auf die beiden Bibelstellen 1 Kor 9,19 und Röm 13,8 und auch Gal 4,4 ist klar, dass Luther sich hier in die Tradition des Apostels Paulus stellte und damit dem Eindruck wehren wollte, eine neue Theologie zu erfinden. Vielmehr war sein Anliegen eine Reformation der bestehenden Papstkirche, d.h. eine Umgestaltung und Wiederherstellung der „alten“ ursprünglichen Kirche, die durch das Papsttum in ihrem Wesen verändert worden sei.
Der erste Satz der Doppelthese verweist auf Luthers grundstürzender Einsicht von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben. Damit ist gemeint, dass Jesus Christus durch seinen Kreuzestod die Versöhnung Gottes mit den Menschen erreicht hat, d.h. ihnen die Freiheit „erworben und gegeben“ (Luther 2016, S. 13), da sie von der Last einer eigenen Rechtfertigung aus eigenen Werken befreit worden sind. „So sollen dir um dieses Glaubens willen alle deine Sünden vergeben und soll all dein Verderben, überwunden sein, und du sollst gerecht, wahrhaftig, befriedet, recht sein; alle Gebote sollen erfüllt und du sollst von allen Dingen frei sein […].“ (Luther 2016, S. 19f.) Dieser zuhöchst theologische Gedanke versteht die Freiheit des Christenmenschen als eine Freiheit im Glauben, der als eine christliche Lebensform des ganzen Lebens verstanden wird, und wer derart innerlich-geistlich frei ist, ist niemanden untertan, da diese Freiheit von Christus kommt und von niemanden beschränkt werden kann. Es ist klar, dass Luther diese Freiheit hier rein religiös verstand, ohne politische oder soziale Implikationen.
Mit dem zweiten Satz der Doppelthese beschrieb Luther das Handeln aus Freiheit. Wer innerlich frei in Christo ist, der verliert sich nicht äußerlich-körperlich an die Welt, bleibt in Distanz zu ihren Eitelkeiten, kümmert sich stattdessen in Liebe um die Nächsten. Hier ist der Ort für die „echten“ guten Werke, die gerade keine Werkgerechtigkeit implizieren, sondern aus dem freien Glauben herausfließen. Ein gerechter Christ tut gerechte Werke, ein guter Christ gute Werke, ohne an einen Lohn zu denken. Gottes Güter werden in einer christlichen Gemeinde gemeinschaftlich, hier gibt es kein Dein und Mein. Jeder nimmt sich eines Nächsten an, als wäre er es selbst. Als zentral sah Luther hier – erneut in paulinischer Tradition – die Liebe an. Der Christ lebt in Lust und Liebe zu Gott und in Lust und Liebe mit dem Nächsten. „Siehe“, so endet Luthers Freiheitsschrift, „das ist die rechte geistliche christliche Freiheit, die das Herz frei macht von allen Sünden, Gesetzen und Geboten, welche alle andere [weltliche] Freiheit übertrifft wie der Himmel die Erde.“ (Luther 2016, S. 67) Freiheit und Dienstbarkeit gehören untrennbar für einen Christen zusammen.
Diese Doppelthese könnte in einer säkularisierten Variante auch heute eine bedenkenswerte Idee darstellen. Man könnte hier auch an die wunderschöne Formel Georg Friedrich Wilhelm Hegels (1770–1831) denken: Freiheit ist das Bei-sich-selbst-Sein im Anderen. Soviel Spannung sollte im Freiheitsbegriff stecken.
Verfasser: Dr. Sascha Salatowsky, 30.10.20
Bibliographie:
Thomas Kaufmann: Die Mitte der Reformation. Eine Studie zu Buchdruck und Publizistik im deutschen Sprachgebiet, zu ihren Akteuren und deren Strategien, Inszenierungs- und Ausdrucksformen. Tübingen 2019.
Martin Luther: Von der Freyheyt eynisz Christen menschen. Wittenberg : Rhau-Grunenberg, 1520. FB Gotha, Theol 4° 224/08 (8). VD16 L 7198. Digitalisat der FB Gotha: https://dhb.thulb.uni-jena.de/receive/ufb_cbu_00011527 [letzter Zugriff: 28.10.20].
Martin Luther: Epistola Lutheriana Ad Leonem Decimum Summum Pontificem. Tractatus de libertate christiana. Wittenberg : Rhau-Grunenberg, 1520. VD16 L 4630. Digitalisat der Landesbibliothek Coburg: http://gateway-bayern.de/BV035226678 [letzter Zugriff: 28.10.20].
Martin Luther: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Hrsg. und kommentiert von Dietrich Korsch. Leipzig 2016.
Klaus Vieweg: Hegel: Der Philosoph der Freiheit. Biographie. München 2019.
Dieser Text steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International – CC BY-SA 4.0. Bitte nennen Sie bei einer möglichen Nachnutzung den angegebenen Autorennamen sowie als Quelle das Blog der Forschungsbibliothek Gotha.
Sendebeiträge des MDR:
500 Jahre Luthers Freiheitsschrift (MP3)
Interview mit Dr. Sascha Salatowsky (MP3)