Kulturerbe ins Netz: Zur Digitalisierung historischer Bestände an der Forschungsbibliothek Gotha
Im digitalen Zeitalter weiten sich Bibliotheken mit ihren Sammlungen und Angeboten systematisch in den digitalen Raum aus. Und so gehört auch die Digitalisierung ihrer historischen Bestände zu den zentralen Aufgaben der Forschungsbibliothek Gotha. Seit über einer Dekade ist diese fester Bestandteil der sammlungsbezogenen Forschungsstrategie der Bibliothek. Sie umfasst alle Schritte von der Erschließung der Originale in Online-Datenbanken bis zur Präsentation der Digitalisate für Forschung und Öffentlichkeit sowie die Entwicklung digitaler Forschungsinfrastrukturen zur Präsentation, Erforschung, Vernetzung und Kontextualisierung von digitalen Sammlungen und Beständen. Der dritte bundesweite Digitaltag am 24. Juni 2022 bietet Anlass, Einblicke in die laufenden Digitali-sierungsaktivitäten und insbesondere in das interne Digitalisierungsprogramm der Forschungsbibli-othek zu geben. Denn die digitale Transformation ihrer historischen Objekte ist nicht zuletzt die Grundlage für alle weiteren digitalen Aktivitäten der Bibliothek.
Wichtige Voraussetzung für die Digitalisierung historischer Bestände ist die Erschließung und Prä-sentation ihrer bibliographischen Informationen mit Norm- und Metadaten sowie exemplarspezifi-schen Besonderheiten einschließlich Provenienzdaten in überregionalen Online-Datenbanken. Dieser Aufgabe widmet sich die Bibliothek seit den 1990er Jahren. Die retrospektive Digitalisierung begann ab 1996 mit der Mitarbeit am Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (VD 17). Hier digitalisierte die Bibliothek Schlüsselseiten der Drucke. 2005 kam ein weiteres von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördertes Projekt hinzu: Im Projekt zur Katalogisierung der Privatbibliotheken der Aufklärungszeit wurden handschriftliche Kataloge digitalisiert und mit den überlieferten Titeln im Online-Katalog verknüpft. In die systematische Digitalisierung ist die Bibliothek in einem Projekt zur Katalogisierung und Teildigitalisierung der Druckschriften des 15., 16. und 17. Jahrhunderts eingestiegen, das die DFG von 2007 bis 2010 gefördert hat.
Seit 2013 hat sie vollständig von analoger auf digitale Technik umgestellt. Dafür wurden sukzessive die personellen sowie technisch-infrastrukturellen Voraussetzungen geschaffen: Angefangen beim Aufbau von Know-how über die schrittweise Beschaffung von ausdifferenzierter Scantechnik für unterschiedliche Materialien und Formate zum Aufbau eines Digitalisierungszentrums mit inzwischen neun Hochleistungsscannern bis hin zur Einrichtung eines kooperativen Digitalisierungsworkflows. Er ist auf die drei Standorte Gotha, Erfurt und Jena verteilt: Die Digitalisierung und Metadatenerfassung erfolgt durch die Forschungsbibliothek Gotha, die Zwischenspeicherung der Digitalisate durch das Universitätsrechen- und Medienzentrum Erfurt und die Präsentation und Langzeitarchivierung auf der Plattform Universal Multimedia Electronic Library (UrMEL) durch die Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek Jena (ThULB Jena). Die Erfassungs- und Präsentationssoftware basiert auf dem MyCoRe-Framework. Für die Steuerung der Digitalisierungsprojekte wird mit Blick auf analoge Workflows mit der ThULB Jena die Software Goobi genutzt. Die Langzeitsicherung und nachhaltige Zugänglichkeit der Projektergebnisse wird durch die ThULB Jena gewährleistet.
Für die strategisch ausgerichtete Digitalisierung an der Forschungsbibliothek Gotha gemäß den DFG-Praxisregeln „Digitalisierung“ haben sich drei Linien etabliert: Diese umfassen die Erschließung, Digitalisierung und Online-Präsentation unikaler, forschungsrelevanter Handschriften, Drucke sowie Archivalien in Drittmittelprojekten in Kooperation mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sowie im internen Digitalisierungsprogramm. Im internen Programm priorisiert die Bibliothek nach den Sammlungs- und jeweiligen Forschungsschwerpunkten. Sie beteiligt sich zudem an den nationalen Masterplänen, das heißt an der Erschließung und Digitalisierung im Rahmen der nationalbibliographischen Verzeichnisse VD16, VD17 und VD18 sowie Massendigitalisierungsprojekten (z.B. von mittelalterlichen Handschriften). Die Digitalisierung auf Nutzerwunsch flankiert die Strategie. Hier werden besonders forschungsrelevante, unikale oder stark nachgefragte, schützenswerte Originale komplett digitalisiert und ebenfalls online zugänglich gemacht. Bislang hat die Forschungsbibliothek in 18 drittmittelgeförderten Digitalisierungsprojekten und den Projektlinien im internen Digitalisierungsprogramm rund 18 % ihrer unikalen Drucke und Handschriften digitalisiert.
Zuletzt hat die Bibliothek mit Unterstützung der DFG die Digitalisierung von 241 mittelalterlichen Handschriften und -fragmenten abgeschlossen, die nun Forscherinnen und Forschern weltweit online zur Verfügung stehen. Die Forschungsbibliothek Gotha bewahrt das einzige vollständig erhaltene Exemplar der Gothaischen Zeitung in 69 Jahrgängen von 1850 bis 1918. Die Bibliothek hat die Zeitung mit einer Förderung der Thüringer Staatskanzlei (TSK) und in Zusammenarbeit mit der ThULB Jena im Periodika-Portal Journals@UrMEL im Open Access veröffentlicht. Im Kooperationsprojekt „Bücher, Parks und Gärten“ zusammen mit der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar und der ThULB Jena wurden, ebenfalls von der TSK gefördert, gedruckte Werke und Handschriften zu den Themen Gartenbau, höfische Gärten und Parks, Bienenzucht und Botanik digitalisiert. Seit einem Jahr läuft das Projekt „Kartografien Afrikas und Asiens (1800‒1945)“ ‒ KarAfAs, das sich einem zentralen Kernbestand der Kartensammlung Perthes widmet. Bis Ende 2023 werden 35.000 Karten der Sammlung Perthes erschlossen und digitalisiert sein. Die Digitalisierungsprojekte können von Forschungsprojekten, aber auch Formaten der digitalen Kulturvermittlung und Wissenschaftskommunikation begleitet sein. Gerade entsteht im Projekt „Bücher, Parks und Gärten“ ein digitales Angebot zum Thema Bienenzucht. Das KarAfAs-Projekt informiert im Blog Mapping Africa and Asia über erste Erschließungsergebnisse und wirkt so in die internationale Fachcommunity hinein.
Einer der Schwerpunkte des internen Digitalisierungsprogramms ist die Digitalisierung der im 17. Jahrhundert im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke. Seit Gründung des nationalbibliographischen Verzeichnisses der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts im Jahr 1996 ist die Forschungsbibliothek VD17-Partnerbibliothek. Sie bewahrt insgesamt mehr als 55.000 Schriften aus dem 17. Jahrhundert, die sie vollständig online katalogisiert hat. Davon sind 12.283 Titel unikal, das heißt nur in der Forschungsbibliothek überliefert. Im Rahmen des nationalen Masterplans zur Digitalisierung des VD 17 hat die Forschungsbibliothek mit einer Förderung der DFG von 2014 bis 2018 zunächst 3.033 ihrer unikalen Titel digitalisiert. Die Drucke stammen aus der so genannten Herzoglichen Sammlung der Bibliothek, die aus den Sammlungen des Herzoghauses Sachsen-Gotha-Altenburg erwachsen sind. Im Zentrum des Projekts standen die wichtigsten Sammelschwerpunkte der Herzoglichen Sammlung.
Nach Abschluss des DFG-Projekts hat die Bibliothek die Digitalisierung von unikalen VD17-Titeln in das interne Digitalisierungsprogramm übernommen und systematisch fortgesetzt. Digitalisiert werden nur diejenigen Titel, die in Deutschland noch nicht digitalisiert und auch nicht in laufenden Digitalisierungsprojekten zur Digitalisierung vorgesehen sind. Nur in begründeten Ausnahmefällen wie etwa aus konservatorischen Gründen, bei Leihgaben oder besonderen Exemplarspezifika erfolgt eine weitere Digitalisierung. Inzwischen sind mit 6.900 Titeln mehr als die Hälfte der unikalen Drucke digitalisiert. Sie sind in den digitalen Sammlungen der Forschungsbibliothek online zugänglich und nachnutzbar. Inzwischen sind ganze Signaturgruppen komplett zugänglich, darunter Biographie, Geschichte, Gothana (gothabezogene Literatur), Jurisprudenz, Mathematik, Musik, Oppida (Städte), Pädagogik, Philosophie und Politik. Aktuell läuft die Digitalisierung von Personal- und Gelegenheitsschriften, darunter zahlreiche unikale Leichenpredigten.
Um die Nachnutzung der digitalen Daten für die Forschungszwecke verschiedener Wissenschaftsdisziplinen zu gewährleisten, sind die Digitalisate gemäß den FAIR-Prinzipien (Findable, Accessible, Interoperable und Reusable) frei und dauerhaft im Open Access zugänglich. Die Metadaten sind unter der Creative Commons-Lizenz CC0 veröffentlicht. Die Digitalisate stehen derzeit noch unter CC BY-SA 4.0 online. Aktuell laufen jedoch an der ThULB Jena die Vorbereitungen für die technische Umstellung, um gemeinfreie Werke als Public Domain zu markieren. Sobald diese Umstellungsprozesse erfolgt sind, werden somit auch die digitalisierten Drucke des 17. Jahrhunderts als Public Domain frei zur Verfügung gestellt.
Die Digitalisate werden zur optimalen Nachnutzung und Sichtbarkeit breit vernetzt und kontextualisiert: Jedes Digitalisat wird in der VD17-Datenbank sowie in der Verbunddatenbank K10plus und damit auch im Online-Katalog der Bibliothek nachgewiesen. Die Digitalisate werden zudem in weitere Portale wie das Zentrale Verzeichnis Digitalisierter Drucke (ZVDD), die Deutsche Digitale Bibliothek und in die Europeana eingebunden und somit national und international vernetzt. Auf regionaler Ebene sind die Digitalisate auch im digitalen Kultur- und Wissensportal Thüringen Kulthura zugänglich.
Die Forschungsbibliothek leistet damit einen wichtigen Beitrag für die Gesamtdigitalisierung des VD 17 als wichtigstem nationalbibliographischen Nachweisinstrument für das 17. Jahrhundert. Nächster Schritt wird die Volltexttransformation der Digitalisate sein, um die Texte durchsuchen und in Anwendungen der Digital Humanities nachnutzen zu können. Dies steht im Zuge des von der DFG geförderten Projekts OCR-D zur Weiterentwicklung von OCR-Verfahren für die Massenvolltextdigitalisierung historische Drucke an.
Hendrikje Carius
- Informationen zu Digitalisierungs- und Digital-Humanities-Projekten finden Sie auf der Homepage der Forschungsbibliothek Gotha
- Informationen zum Digitaltag finden Sie hier: www.digitaltag.eu