Samuel Kleinschmidt und die Arktis-Kartografie zwischen Nuuk und Gotha

/ Mai 4, 2021

Notizen aus dem Gothaer Bibliotheksturm, Folge 31

Am 15. Juni 1870 setzte der Herrnhuter Missionar Samuel Kleinschmidt aus Nuuk in Grönland einen Brief an Justus Perthes’ Geographische Anstalt in Gotha auf. Ein Kartenausschnitt Grönlands in einem Separatkästchen zu den „dänischen Kolonien“ in der Ausgabe des Stieler Hand-Atlas von 1865 hatte Kleinschmidts Interesse geweckt.1In seinem Brief von 1870 bezieht sich Kleinschmidt irrtümlich auf eine nicht existierende Stieler Ausgabe von 1865. Es ist anzunehmen, dass er stattdessen die 1864 Ausgabe meinte. Der Kartenausschnitt Grönlands erschien allerdings ebenfalls in späteren Ausgaben in den 1860er Jahren. Mehr noch, der Herrnhuter Missionar glaubte, dass er im Stieler „eine frühere Arbeit von mir erkennen“ könne. „[W]enn diese Karte auch im ganzen und grossen jetzt vielleicht als annähernd richtig betrachtet werden kann,“ schreibt Kleinschmidt weiter, „so ist doch im einzelnen, namentlich für die gegenden, die von keinem europäer in geografischer absicht besucht worden sind, noch manche berichtigung und vervollständigung zu erwarten.“ Er selbst habe nun eine Überarbeitung der Karte angefertigt und hierzu sowohl seine Ansichten der Geografie Südwest-Grönlands als auch Beobachtungen und Erzählungen der Kalaallit, also der grönländischen Inuit, einfließen lassen.2Samuel Kleinschmidt an Justus Perthes’ Geographische Anstalt, 15. Juni 1870. FBG SPK-90-5 A-01. Sein ‚Korrekturbogen‘ der Grönland-Karte des Stieler Hand-Atlas erreichte den Gothaer Kartografen August Petermann im November desselben Jahres.

Kleinschmidts Brief aus Grönland an den Perthes Verlag in Gotha wirft ein Schlaglicht auf die Verflechtungen und Dynamiken in der Produktion arktischer Raumvorstellungen. Die Arktis ist ein historisch gewachsener Kulturraum, in dem heute über vier Millionen Menschen leben. Eine Vielzahl von Sprachen, Kulturen und Wissenstraditionen prägten Kontakterfahrungen mit der nicht-arktischen Welt über Jahrhunderte. Trotz wirkmächtiger Bilder der Arktis als Naturraum, stellt die Arktis keine Region außerhalb der Geschichte dar, wie es Hegel Anfang des 19. Jahrhunderts noch postulierte.3Georg W.F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke 12, 13. Aufl. Frankfurt/Main 2019, S. 130. Entdeckungsreisen, Walfang, Missionierung, Kolonialismus und Wissenschaft eröffnen nur einige Dimensionen, die die zirkumpolare Welt in die globalen Netzwerke der Produktion geografischen Wissens einbinden.4Für eine Studie zur Geschichte der Kartografie der arktischen Zentralregion siehe Michael Bravo: North Pole. London 2019. – Die Verflechtungsgeschichte europäischer Wissensproduktion zur Geografie wurde herausgearbeitet von Iris Schröder: Das Wissen von der ganzen Welt: Globale Geographien und räumliche Ordnungen Afrikas und Europas, 1790-1870. Paderborn 2011. Gleichsam diente die Region als Projektionsfläche imperialer Verlockungen, kultureller Affirmation und tiefster Feindlichkeit gegenüber modernistischen Fortschrittsteleologien.5Peter Davidson: The Idea of North. London 2016. Die Forschungsgruppe ERC Arctic Cultures am Scott Polar Research Institute der Universität Cambridge untersucht deshalb vergleichend und transnational die historischen Bedingungen der Wissensproduktion in der Arktis sowie deren Rückkopplung auf die Disziplinbildung europäischer Wissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Die Briefe und Karten der Sammlung Perthes zu Kleinschmidt werfen dabei ein neues Licht auf die Geschichte der deutschen Arktis-Kartografie und der Produktion arktischer Raumvorstellungen.

Abb. 1: Missionsstation Neu-Herrnhut in Grönland in einem Stich von David Cranz, 1770.

Bereits die Lebensgeschichte Samuel Kleinschmidts unterläuft Vorstellungen, wonach die Entstehung der modernen Welt und ihrer Wissensformen das Resultat der Verbreitung europäischer Aufklärung und des Rationalismus seien. Geboren 1814 als Sohn deutsch-dänischer Eltern in Alluitsoq (Lichtenau), einer Herrnhuter Missionsstation in Grönland, wuchs Kleinschmidt bereits dreisprachig auf – Deutsch, Dänisch und Kalaallisut (Grönländisch). Nachdem er die Herrnhuter Missionsschule in Kleinwelka in Sachsen besucht und als Lehrer und Assistent in Dänemark und Holland gearbeitet hatte, kehrte Kleinschmidt 1840 nach Grönland zurück. Im Spannungsfeld zwischen dänischer Kolonialverwaltung, Herrnhuter Mission und grönländischer Gesellschaft bewegte sich Kleinschmidt zwischen den Räumen europäischer und arktischer Erwartungen. So führte die Konkurrenz zwischen Christianisierung und Kolonie zu Konflikten, während sich Kleinschmidt aufgrund seiner Kritik an der Kirchenzucht und dem Umgang mit Grönländern innerhalb der Mission bald isoliert sah.6Henrik Wilhjelm: Grönländer aus Leidenschaft: Das Leben und Werk von Samuel Kleinschmidt. Neuendettelsau 2013. Neben Predigt und Lehrtätigkeit im Seminar der Mission widmete sich Kleinschmidt vor allem dem Wissen der Kalaallit über die Geografie und ihrer Sprache.7 Jerrold M. Sadock: Samuel Petrus Kleinschmidt, 1814-1886: The Originator of Scientific Inuit Grammar, in: Igor Krupnik (Hg.), Early Inuit Studies: Themes and Transitions, 1850s-1980s. Washington, D.C. 2016, S. 55f. 1851 veröffentlichte er sein vielleicht bekanntestes Werk zur Grammatik der grönländischen Sprache, eine Arbeit für die ihm die Friedrich-Wilhelms Universität in Berlin die Verleihung der Doktorwürde anbot.8Kenn Harper: Samuel Kleinschmidt, Greenlandic Language Pioneer, in: Nunatsiaq Online, 25. February 2010. Als historischer Akteur zwischen den Welten verband Kleinschmidt grönländisches Wissen und Kultur mit den entstehenden Disziplinen europäischer Zentren der Wissensproduktion.9Neben Kleinschmidts Korrespondenz mit dem Justus Perthes Verlag ist vor allem seine Zusammenarbeit mit dem königlich-dänischen Seekartenarchiv in Kopenhagen zu nennen.

Kleinschmidts Brief von 1870 an die Kartenmacher in Gotha stellt nichts weniger als eine Form des peer review dar, in der Kleinschmidt mit dem Stieler eine der bedeutendsten Publikationen des Perthes Verlages begutachtete. Auf Reisen entlang der Fjorde Südwest-Grönlands vermaß Kleinschmidt die Küste der Region mit wenigen Instrumenten und sammelte dabei geografisches Wissen.10Henrik Wilhjelm: Grönländer aus Leidenschaft. Den Kartenausschnitt Grönlands in der ihm vorliegenden Ausgabe des Stielers prüfte Kleinschmidt demnach mit kritischem Blick und entwarf eine Liste mit Korrekturen zu Toponymen, Präzisierungen zur Verortung von Gletscherverläufen sowie Bemerkungen zu offenbar nicht existierenden Gebirgszügen. So korrigierte er fehlerhafte Schreibweisen grönländischer Bezeichnungen und ordnete die Funktion von Orten ein: „‚Ekalluq‘ neben der mündung der nagssuglor-fiorde ist eralugarssuit, meines wissens nur ein zeltplatz. ‚Mt. Tikarnak‘: der name ist mir unbekannt“. Zu einem auf eine europäische Bezeichnung zurückführenden Fjord erklärt Kleinschmidt: „Die beiden namen Cunningham-Fjord und Burnitt Island od. Cap Burnitt habe ich hier im lande noch nie gehört; u. von ersterem wüsste ich auch nicht, wo er anzubringen wäre“. Vor allem die umfassenden Hinweise zu grönländischen Namen und zur Präzisierung der Küstengeografie der Region stellen einen beträchtlichen Beitrag Kleinschmidts zur Arktis-Kartografie dar.

Abb. 2: Samuel Kleinschmidt an den Justus Perthes Verlag, 15. Juni 1870.

Zwar lagen Kleinschmidts Einlassungen zur Grönland-Karte im Stieler eigenen Beobachtungen und Reisen zu Grunde. Seine Informationen zur Geografie der Region bezog er jedoch aus einer Vielzahl von Quellen. Mit der Einrichtung zweier Druckereien in den 1850er Jahren – eine unter dem dänischen Kolonialverwalter Hinrik Rink in Nuuk (Godthab) und eine in der Mission unter Kleinschmidt in Neu Herrnhut – erschienen nicht nur eine Vielzahl theologischer und naturhistorischer Pamphlete und Bücher. Die Druckereien wurden ebenso zur Herstellung von Karten genutzt. Rinks „lithographierte ausgabe“ zur Südwest-Küste Grönlands floss in Kleinschmidts arktisches Raumbild ein wie auch „mittheilungen vom königlich-dänischen seekartenarchiv in Kopenhagen“. Reiseberichte und Kartenwerke historischer sowie zeitgenössischer Expeditionen reicherten den Wissensbestand und die stattliche Seminarbibliothek des Herrnhuter Missionars weiter an. Die Einbindung Grönlands in die transatlantischen Zirkulationssysteme geografischen Wissens des 19. Jahrhunderts wird in dem aus nur wenigen Seiten bestehenden Schreiben Kleinschmidts eindrucksvoll deutlich.

Die beständige Erwähnung und Wertschätzung indigenen Wissens in der Sammlung geografischer Daten und deren Darstellung zeichnet Kleinschmidts Brief besonders aus. Treten oft Leerstellen und Abwesenheiten beziehungsweise die Namen und Erzählungen nicht-arktischer Reisender an die Stelle lokaler und indigener Akteure in den Kartografien europäischer Verlage zur zirkumpolaren Welt, so schreibt Kleinschmidt die Rolle der Kalaallit in die europäische Arktis-Kartografie wieder ein. Durchweg verweist er in seinem Schreiben darauf, dass seine Kommentare und Karten auf Beobachtungen und Gesprächen mit Inuit fußen. Dabei zählen sowohl „ausführliche mündliche Erklärungen“ als auch „zahlreiche von eingeborenen entworfene karten einzelner theile“ zu den grundlegenden Quellen Kleinschmidts. Zwei „Specialkarten“ zweier grönländischer Missionsschüler, Aron und Abraham, und deren Berichte hebt Kleinschmidt dabei als besonders wichtige Beiträge in der Erstellung der vermeintlichen Vorlage für die Karte im Stieler hervor. Der Brief ist vor diesem Hintergrund ein eindrucksvolles Dokument in der Neubetrachtung der Rolle indigener Akteure in der Arktis-Kartografie in der Mitte des 19. Jahrhunderts.

Abb. 3: Separatkästchen „Das dänische Grönland“ aus Adolf Stieler Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude, Gotha, 1864.

Kleinschmidt war in Gotha kein Unbekannter. Bereits 1865 erschien sein Name in einer Kartenskizze des Perthes-Kartografen Bruno Hassenstein. Während der Gothaer Kartograf und Herausgeber August Petermann eine Kampagne zur Organisation einer ersten deutschen Arktis-Expedition vorantrieb,11Reinhard A. Krause: Die Gründungsphase deutscher Polarforschung, 1865-1875. Bremen 1992; Philipp Felsch: Wie August Petermann den Nordpol erfand. München 2010; Erik Liebscher: „Die Erforschung der Arktis – ein nationales Projekt? Nordpolexpeditionen im 19. Jahrhundert, unveröffentlichte Masterarbeit. Universität Erfurt, 2017. sammelte sein Schüler Hassenstein Informationen zur Geografie Ost-Grönlands.12Christian Holtorf, Bruno Hassenstein an der ostgrönländischen Küste, Blog der Forschungsbibliothek Gotha, https://blog-fbg.uni-erfurt.de/2016/10/neues-fundstueck-15/. Nachdem einer ersten Expedition 1868 der Weg nach Nordost-Grönland durch das Meereis versperrt blieb, erreichten ein Jahr später die Schiffe der Zweiten Deutschen Arktis-Expedition, Germania und Hansa, die Küste Grönlands. Nach mehrmonatiger Drift auf einer Eisscholle entlang eben jener ostgrönländischen Küste, die Kleinschmidt in seinem Brief beschreibt, erreichte die schiffbrüchige Mannschaft der Hansa am 13. Juni 1870 die Missionsstation in Narsarmiut (Friedrichstal) an der Südspitze Grönlands. Nur zwei Tage später setzte Kleinschmidt seinen Brief an die Gothaer Kartografen um Petermann in Gotha auf.

Kleinschmidts Rezeption des Stielers und seine Korrespondenz mit dem Justus Perthes Verlag im Juni 1870 verdeutlicht die dichte Verwobenheit der Austauschprozesse und des Wissenstransfers in der nordatlantischen Welt. Kartografien der Arktis in führenden Verlagsprodukten wie Stielers Hand-Atlas oder Petermanns Geographische Mitteilungen dienten nicht nur der Verbreitung europäischer Kartenwelten. Ebenso waren sie Objekte der kritischen Betrachtung und der Revision aus der vermeintlichen Peripherie. Erzählungen und Karten, vermittelt und hergestellt in Grönland durch Inuit, dänische Kolonialverwalter und Herrnhuter Missionare, verweisen hier beispielhaft auf die verwobenen Strukturen der Wissensproduktion zu arktischen Raumvorstellungen. Die Verschränkung der zeitlichen sowie der räumlichen Achsen verdeutlicht die analytische Unschärfe einer Geschichte entlang vermeintlich klarer Zuschreibungen von Zentrum und Peripherie. Auch wenn nur ein kurzer Moment in dieser langen und komplexen Geschichte, so ist Kleinschmidts Brief doch ein vielschichtiges und wichtiges Dokument in der globalgeschichtlichen Neubewertung der Transferstrukturen und -prozesse in der Gestaltung arktischer Raumbilder und deren Vermächtnis für unser Verständnis der zirkumpolaren Welt heute.

Verfasser: Dr. John Woitkowitz, 30. April 2021

John Woitkowitz ist Historiker am Scott Polar Research Institute der University of Cambridge in England. Als Mitglied der Forschungsgruppe ERC Arctic Cultures untersucht er die globale Geschichte der europäischen und amerikanischen Polarforschung im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuell schließt er ein Projekt zu Samuel Kleinschmidt und der frühen deutschen Polarforschung ab, in dessen Rahmen er 2020 als Herzog-Ernst-Stipendiat des Forschungszentrums Gotha in der Sammlung Perthes geforscht hat.

Abbildungen:
1. Missionsstation Neu-Herrnhut in Grönland in einem Stich von David Cranz, 1770, Quelle: Wikipedia, Lizenz: gemeinfrei.
2. Samuel Kleinschmidt an den Justus Perthes Verlag, 15. Juni 1870, FBG, SPK-90-5 A-01.
3. Separatkästchen „Das dänische Grönland“ aus Adolf Stieler Hand-Atlas über alle Theile der Erde und über das Weltgebäude, Gotha, 1864.

Dieser Text steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International – CC BY-SA 4.0. Bitte nennen Sie bei einer möglichen Nachnutzung den angegebenen Autorennamen sowie als Quelle das Blog der Forschungsbibliothek Gotha.

 

 

 

Share this Post